Fast schon anmutig schmeißt ein Fischer sein Netz über den Kanal, das sich in der Luft entfaltet und als riesiger Kreis auf der Wasseroberfläche landet. Er zieht es zurück an Land und schüttelt seinen Fang aus: ein paar kleine Krabben und Fische und ungefähr ein Dutzend mittelgroße Garnelen, die panisch auf dem Boden zappeln. Wahrscheinlich wissen sie instinktiv, dass sie bald den schmerzhaften Weg über die Ladentheke bis zum Kochtopf gehen werden.
Die Garnelenzucht ist einer der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren in der Region rund um die Mündung des Río Chone an der ecuadorianischen Küste. Gleichzeitig wird durch die Abholzung riesiger Mangrovenwälder, um Platz für die Farmen zu schaffen, aber auch die Umwelt massiv zerstört. Diese Gegend war eine der am schwersten betroffenen Regionen Südamerikas beim letzten starken El Niño 1997/98—mit fatalen Auswirkungen für die Garnelenindustrie, die an den verheerenden Folgen des Wetterphänomens eben nicht ganz unschuldig ist. Das könnte sich jetzt wiederholen.
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In den 70er und 80er Jahren explodierte das Garnelengeschäft förmlich in der Region, was zu mehr Geld und Arbeitsplätzen führte. Der Garnelen-Boom brachte aber auch einige Probleme für das empfindliche Ökosystem mit sich, denn circa 90 Prozent aller Mangrovenbäume um die Flussmündung herum wurden gefällt. Damit verkleinerte sich der natürliche Lebensraum für die Wasserflora und -fauna und Wirbelstürme hatten leichtes Spiel.
Während des El Niño 1998 regnete es heftig und da so gut wie keine Bäume mehr übrig waren, die vor Bodenerosion hätten schützen können, gab es überall in der Region gewaltige Schlammlawinen. Viele der Garnelenfarmen wurden einfach weggespült, genauso wie Häuser, Straßen und Menschen. Mittlerweile sind 20 Jahre vergangen, Wirtschaft und Städte haben sich gut erholt. Aber jetzt steht ein neuer El Niño ins Haus, der so schlimm werden könnte wie damals.
Doch bis dahin geht alles ganz normal weiter: „Klar mache ich mir Sorgen, aber ich lasse das nicht wirklich an mich ran”, erzählt Gonzalo Rodriguez, der eine Garnelenzucht in der Region betreibt. „Was auch immer passiert, wird passieren. Egal was man macht.”
Gonzalo wuchs in Bahía de Caráquez auf, eine Küstenstadt an der Mündung des Río Chone. Der heute 49-Jährige hat schon als Kind Freunde seines Vaters bewundert, die Garnelenfarmen hatten. Seine Familie entschied sich jedoch für einen anderen Weg und zog nach Brooklyn, sodass Gonzalo in den USA zur Schule gehen konnte. Danach hat er ein Fuhrunternehmen in New Jersey gegründet, aber er träumte immer noch von Garnelen: „Jeden Cent, den ich verdient habe, legte ich beiseite, sodass ich eines Tages zurückkommen könnte.”
Mitte der 90er hat Gonzalo dann seine erste 20 Hektar große Farm in der Nähe von Bahía gekauft. Kurz danach legte die Weißfleckenkrankheit die gesamte Produktion lahm. „Alle Garnelen sind gestorben, man konnte keine mehr züchten”, erinnert sich Gonzalo. Den folgenden wirtschaftlichen Abschwung nutzte er und kaufte sich weitere Farmen zum Schnäppchenpreis, sodass er mittlerweile mehr als 200 Hektar besitzt.
Darüber hinaus hat der Unternehmer auch ein Labor, wo er Garnelenlarven züchtet, die er dann in seine eigenen Teiche wirft und an andere Farmer verkauft. In dem Betonklotz stehen sechs riesige mit Folie ausgelegt Wasserbecken. Über Pumpen wird das Wasser konstant mit Sauerstoff versorgt. Circa 20 Tage lang wachsen die winzigen Larven, bis sie groß genug sind, um in die Teiche geschmissen zu werden. Gonzalo verkauft sie in Chragen à 1 Million für circa 1.600 oder 1.700 Dollar.
Wenn seine Larven reif für seinen Teich sind, nimmt er gut drei Millionen davon mit zu seiner Garnelenfarm. Der Weg dorthin führt über eine steinige und kurvige 21 Kilometer lange Strecke; überall sieht man die rechteckigen Zuchtteiche.
Auf seiner Farm angekommen, fahren wir an einer riesigen Pumpe vorbei, die Flusswasser in einen Kanal befördert, der sich um viele große Teiche schlängelt. Einige von ihnen sind mit Wasser gefüllt, in anderen sieht man nur den schlammigen Boden. Mit Schleusen können die Arbeiter das Wasser in die Teiche leiten oder wieder herauslassen. Zuerst wachsen die Larven zwei Monate lang. Dann wird das Wasser aus dem Zuchtteich in den Kanal gelassen, wobei die jungen Garnelen in Eimern abgefangen werden, damit sie in 300.000er-Gruppen in andere Teiche kommen. Nach weiteren zwei Monaten sind sie „erntereif” und können verkauft werden. Der Preis schwankt: Letztes Jahr konnte er pro Pfund2,60 Dollar verlangen, dieses Jahr nur für 1,40 Dollar.
Gonzalo verkauft wie auch andere Farmer Teile seines Ertrages international: Ersten Hochrechnungen zufolge exportierteEcuador 2015 insgesamt immerhin 350.000 Tonnen Garnelen. Aber auch die regionale Nachfrage ist stark. Fünf Kilometer weiter flussabwärts siehst man Boote, die an einem steinernen Kai anlegen und ihren Fang abladen. Frauen sortieren die Garnelen nach Größe, entfernen den Darm, schälen und säubern sie, bevor sie sie auf Eis legen. Die Garnelen werden in der gesamten Provinz verkauft und zu Ceviche oder anderen Köstlichkeiten mit Meeresfrüchten verarbeitet.
Mit Garnelen lässt sich vielleicht viel Geld verdienen, aber der Erfolg ist auch nicht immer sicher. Gonzalo zeigt auf einen Schwarm weißer Vögel, die in einem der Bäume in der Nähe der Teiche sitzen: „Wenn die Garnelen krank sind, kommen die Vögel. Sie lieben Wasserleichen.”
Sobald die Garnelen erste Krankheitsanzeichen zeigen, geben die Farmarbeiter mehr Wasser in den Teich und erhöhen den Sauerstoffgehalt. Bisher gab es—zum Glück für die Garnelenzüchter—keinen weiteren Ausbruch der Weißfleckenkrankheit, die trotz vergeblicher Versuche der Produzenten Mitte der 1990er Jahre einen gesamten Wirtschaftszweig zum Erliegen gebracht hat. „Wir haben wirklich alles gemacht, was man sich nur vorstellen kann”, erinnert sich Gonzalo.
Die überlebenden Garnelen haben eine Resistenz gegen das Virus entwickelt und die Züchter haben ihre Produktionsmethoden mittlerweile angepasst: bessere Filterung des Wassers, weniger Antibiotika und mehr natürliches Futter, um die Chancen für Krankheiten zu minimieren.
El Niño aber könnte noch fatalere Folgen haben als eine Epidemie. Auf dem Weg zurück in die Stadt zeigt Gonzalo auf eine die Reste einerBetonmauer am Straßenrand, die einzigen Überbleibsel einer großen Verpackungsfabrik, die von einer der Schlammlawinen bei den Stürmen 1998 niedergerissen wurde. Da es immer noch so wenig Mangroven wie niemals zuvor gibt, steht die gesamte Region also erneut vor einer Katastrophe.
Einer der Garnelenzüchter hat Mangrovenbäume um seine Teiche herum angepflanzt, um den Schaden in Grenzen zu halten und das Ökosystem in Teilen wiederherzustellen. Aber die wenigsten Züchter kümmern sich darum. „Den meisten geht es nur ums Geld”, erzählt Gonzalo.
In Vorbereitung auf den anstehenden El Niño hat er die Befestigung einiger seiner Zuchtteiche erhöht. Außerdem kann er seine Garnelen auch mit dem Boot abtransportieren, sollten die Straßen wieder unterspült werden. Aber mehr können die Farmer momentan auch nicht machen, sollten die Stürme mit der erwarteten Stärke eintreffen.
Gonzalo fasst die Situation zusammen: „Heute bist du reich und morgen hast du nichts mehr. Das war’s! Aus die Maus!”