Zwar wohnte ich schon seit über einem Jahr mit ihm zusammen, wusste aber dennoch nur wenig über ihn. Und trotzdem herrschte zwischen uns eine Art fürsorgliches Verhältnis, das für uns beide Vorteile hatte: Es war immer jemand da, der den Ofen ausschaltete, wenn der Andere das vergessen hatte, oder den Wasserhahn abdrehte, wenn man beim Einlassen eines Bads abgelenkt wurde. Falls man sich verschluckte, gab es da jemanden, der das Heimlich-Manöver anwenden oder den Notarzt rufen konnte. Und im Falle des Ablebens wäre man wahrscheinlich noch rechtzeitig gefunden worden, um eine Aufbahrung nicht komplett ausschließen zu müssen.
Und dennoch wechselten wir pro Woche wohl nie mehr als 40 Worte. Am Morgen gab es natürlich ein “Guten Morgen”, am Nachmittag ein “Hey” und ein “Sorry”, wenn wir zufällig zum gleichen Zeitpunkt in der Küche waren, aber wirklich mehr kam da nicht. Das Putzen war nie ein Problem: Ich machte die Küche sauber und eine quasi unsichtbare Hand kümmerte sich dann um das Badezimmer. Ich legte einmal im Monat vor dem Gang zur Arbeit einen Teil der Rechnungen auf den Esstisch und wenn ich wieder nach Hause kam, waren diese Rechnungen verschwunden.
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Wenn es uns gelegen kommt, dann können wir uns ganz schnell mit fremden Menschen anfreunden—egal ob wir uns nun ein Taxi teilen, um Kosten zu sparen, ihnen die Schlüssel zu unserer Wohnung überlassen, um uns den Urlaub zu finanzieren, oder im Zimmer nebenan wohnen, um ein bezahlbares Dach über dem Kopf zu haben.
Ich hatte keine Ahnung, dass mein Mitbewohner an psychotischen Schüben litt, bis eines Montags Sozialarbeiter bei uns klingelten, um ihn wieder ins Krankenhaus zu bringen.
Der Schub hatte jedoch schon am Freitag begonnen.
Mir fiel auf, dass er sang und etwas lauter war als sonst, aber als Gewohnheitsträllerin schrieb ich das Ganze einfach nur einem neuen Level der Vertrautheit zu. Obwohl er keinen kranken Eindruck machte, meinte er zu mir, dass ich mich besser von ihm fernhalten sollte, weil er laut eigener Aussage an einer schweren Grippe litt. Dazu hatte er sich noch eine ziemlich schlimme Frisur verpasst—zum Großteil kahl rasiert, aber trotzdem noch mit einigen übrig gelassenen Haarbüscheln.
Am Samstag spielte er dann Trap-Musik auf Repeat und tanzte dabei im Bademantel durch die Wohnung. Da wir jedoch in Berlin wohnten, ging ich davon aus, dass er sich nur ein wenig LSD eingeschmissen hatte und sich jetzt einfach ein wenig bewegen musste. Ich blieb auch dann noch bei dieser Geschichte, als er die ganze Nacht hindurch unverständliche Dinge herumschrie.
Die beiden Katzen seiner Ex-Freundin rannten dann am Sonntagmorgen in mein Zimmer. Die Tiere waren den Sommer über für zwei Monate bei uns und wir hatten uns schnell angefreundet. Er fragte mich, ob ich für eine unbestimmte Zeit auf sie aufpassen würde, weil er eine Reise geplant hätte.
Noch am gleichen Tag fand ich seinen Goldfisch in unserer Badewanne vor, aber ich nahm einfach an, dass er gerade das Aquarium saubermachen würde.
Abends war sein Geschrei dann so laut und beständig, dass die Katzen vor lauter Angst nicht mehr von meiner Seite wichen. Da wurde mir auch endlich klar, dass etwas nicht stimmte. Ich hatte bloß keine Ahnung, was ich unternehmen sollte. Ich meine, es gibt nunmal kein Handbuch für den Zeitpunkt, an dem sich eine Person von komisch zu gefährlich entwickelt. Ich wusste auch nicht, ob es vielleicht besser wäre, die Wohnung zu verlassen, und deshalb blieb ich die Nacht an Ort und Stelle und zuckte jedes Mal zusammen, wenn er an meiner Zimmertür vorbeilief.
Ich wurde schließlich von der Klingel geweckt. An der Wohnungstür standen ein Mann und eine Frau, die laut ihrer Aussage zum Amtsarzt gehörten. Sie wollten nach meinem Mitbewohner sehen und die Wohnung inspizieren, die sich über Nacht in ein Schlachtfeld verwandelt hatte. Ich wollte wissen, ob er sie erwarten würde, und die beiden meinten daraufhin, dass sie von den Nachbarn gerufen worden wären, weil mein Mitbewohner einen psychotischen Schub hätte.
Als ich ihn holen wollte, musste ich feststellen, dass er nicht mehr da war. Die beiden Sozialarbeiter gingen wieder und baten mich noch darum, sie anzurufen, wenn er wieder nach Hause kommen würde.
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Kurz darauf kam der nächste Besuch, nämlich seine Ex-Freundin. Sie meinte zu mir, dass sie uns die Katzen eigentlich nur überlassen hätte, um ihn zu beruhigen. Außerdem wollte sie ihn nun ins Krankenhaus bringen, wo er wohl ein oder zwei Monate verbringen müsste.
Wir warteten, bis er endlich zurück in die Wohnung kam. Ganz ruhig und ohne Murren ging er dann auch bereitwillig mit seiner Ex-Freundin mit.
Völlig perplex machte ich mich daran, das Chaos aufzuräumen. In jeder Vase fand ich dabei tote Fische, der Boden und die Wände waren mit gelber Farbe beschmiert und er hatte eine Gitarre sowie einen Bass zerschmettert. Außerdem enthielt unser Mixer das, was wohl als Katzenfutter dienen sollte: eine Mischung aus Vitamin-C-Tabletten, Leckerlis und dem Goldfisch aus der Badewanne.
Mithilfe eines Liters Essig und einer ordentlichen Portion Armschmalz schaffte ich es sogar, die Wohnung von dem abgeranzten Aquariumsgeruch zu befreien.
Ich entschied mich dazu, den ganzen Vorfall erstmal in einem Café zu verdauen. Dort bekam ich dann einen Anruf von seiner Ex, die mich darum bat, ihr die Wohnung aufzumachen, weil sie ihm ein paar Klamotten und Bücher holen wollte.
Als wir die Treppen hochgingen, fanden wir ihn barfuß vor der Wohnungstür. Er hatte sich selbst aus dem Krankenhaus entlassen und begrüßte uns mit einem fröhlichen “Hey, danke fürs Reinlassen”—so als ob das Ganze die normalste Sache der Welt sei.
Da ich bereits ahnte, dass sich da ein Streit anbahnte, ließ ich die beiden lieber alleine und trank meinen Kaffee zu Ende.
Als ich wieder zurückkam, war der Großteil unseres Wohnzimmers im Innenhof verteilt und mein Mitbewohner wurde von zehn Polizisten aus der Wohnung geschleift. Er hatte zwei iMacs, einen Stuhl, einige Bilder, Pflanzen und ein paar Briefe aus dem vierten Stock geschmissen.
Ich meinte gegenüber der Polizei, dass ich seine Mitbewohnerin sei, und die Beamten baten mich darum, den Innenhof aufzuräumen. Das tat ich dann auch. Danach ging ich nach oben und verbrachte wieder Stunden damit, das erneute Chaos in der Wohnung zu beseitigen. Er hatte Bücherregale umgeschmissen, Spardosen einfach auf den Boden ausgeleert und die Blätter von jeder einzelnen Pflanze abgepflückt.
Er leidet an einer bipolaren Störung. Das bedeutet, dass er lange Zeit—manchmal sogar Jahre—völlig normal daherkommt, dann aber plötzlich wochenlang depressiv wird und sich dazu noch total chaotisch verhält. Zwar kann man das Ganze mithilfe von Medikamenten und Therapien behandeln, aber es gibt auch bestimmte Auslöser, die ihn in einen hyperaktiven und desillusionierten Zustand versetzen, in dem er eine ernsthafte Gefahr für sich selbst darstellt.
Laut seiner Ex handelte es sich bereits um das vierte Mal, dass genau dieser Fall eingetreten ist. Anscheinend sind die Auslöser hier Alkohol und Drogen. Sie betonte jedoch auch, dass ich mich nicht in Gefahr befinden würde. Nach einem Aufenthalt in einer psychiatrischen Einrichtung und der Einnahme bestimmter Medikamente wäre alles wohl wieder OK.
Ich entschied für mich, dass seine psychische Krankheit zwischen uns nichts verändern würde, und ging auch fest davon aus, dass er gesund wiederkommen würde.
Im Laufe der darauffolgenden Wochen kam seine Ex nochmals vorbei, um einige Hygieneartikel zu holen, und auch seine derzeitige Freundin tauchte auf, um ihm einige Klamotten und Bücher zu bringen.
Bei seiner derzeitigen Freundin handelt es sich um die typische Berliner Clubgängerin—inklusive Undercut, Septum-Piercing und eine Bauchtasche voller “Spaßpillen”. Während seines ersten Schubs war sie nicht erreichbar gewesen, weil sie vier Tage lang durchfeierte.
Immer wenn seine Ex oder seine Freundin die Wohnungstür öffnete, rutschte mir das Herz in die Hose, weil ich Angst hatte, dass er früher nach Hause kommen würde. Außerdem nahm sich die derzeitige Freundin doch ein wenig viele Freiheiten mit dem Schlüssel heraus, weil sie auch versuchte, im Club abgeschleppte Typen zu mir in die Wohnung zu bringen.
Zwei Wochen nachdem mein Mitbewohner von der Polizei abgeführt worden war, schickte er mir eine Facebook-Nachricht, in der er seine Rückkehr ankündigte. Ich hieß ihn freudig willkommen, weil ich davon ausging, dass die Ärzte ihn nicht gehen lassen würden, wenn es ihm nicht besser geht. Damit lag ich jedoch falsch.
Schon bald begann alles von Neuem. Er riss alle Kakteen aus den Töpfen und platzierte sie in einem Pitcher, und wollte Kaffee zubereiten, indem er die Bohnen einfach in kochendes Wasser schmiss und den Herd anließ. Dazu setzte er noch fast das Badezimmer unter Wasser und schrie sich jede Nacht zu Industrial-Techno die Lunge aus dem Leib. Ich hatte einen Albtraum, schlief dabei aber gar nicht.
Mein Gehirn ließ mich nicht in den Schlaf abdriften und deshalb blieb ich die ganze Nacht in meinem Zimmer wach und hörte dabei zu, wie er herumbrüllte und wie die Nachbarn gegen die Decke klopften und bei uns klingelten. Ich hoffte inständig, dass irgendjemand die Polizei rufen würde. Ich selber tat das nicht, weil ich zum einen nicht wusste, was ich überhaupt sagen sollte, und zum anderen Angst vor seiner Reaktion hatte, falls er meinen Anruf mitbekommen würde.
Am darauffolgenden Morgen machte ich mich mit Kaffee und Zigaretten fit und ging zur Arbeit. Als ich wieder nach Hause kam, schien er sich endlich beruhigt zu haben. Zwar glich die Wohnung immer noch einem Saustall, aber er saß einfach nur in seinem Zimmer und schaute fern—wie früher. Ich dachte, dass die Medikamente nun wohl wirken würden und alles wieder normal wäre.
Um 02:00 Uhr drehte er allerdings wieder durch.
Um 08:00 Uhr schaffte ich es sogar, kurz einzuschlafen, aber als ich eine Stunde später wieder wach war, musste ich feststellen, dass unsere Wohnungstür offen stand und mein Mitbewohner weg war. Da seine Freundin die Schlüssel noch nicht zurückgebracht hatte, bestand für ihn also keine Möglichkeit, wieder zurück in die Wohnung zu kommen, weil ich ja auch zur Arbeit musste.
Gegen 16:00 Uhr bekam ich dann einen Anruf von den Sozialarbeitern. Sie hatten meinen Mitbewohner in der Wohnung aufgefunden, denn er hatte die Tür so lange mit seinen Fingernägeln bearbeitet, bis er das Schloss öffnen konnte. Anschließend hatte er Muscheln und die Aquariumpumpe ins Waschbecken getan und die Badewanne mit Klamotten und Bleiche aufgefüllt.
“Wir bringen ihn zurück ins Krankenhaus”, meinten die Sozialarbeiter zu mir. “Sie sollten jedoch besser nach Hause kommen, denn die Wohnung lässt sich nicht mehr verschließen und die Tür steht offen.”
Also ging ich nach Hause, machte alles sauber und rief meine Eltern an, um ihnen zu sagen, dass ich für eine Woche zurück in die USA kommen würde. Mein Name war sowohl von der Klingel als auch vom Briefkasten heruntergekratzt worden und alle meine Badeanzüge lagen in der Wohnung verstreut herum—und er hatte von jedem den Brustbereich ausgeschnitten.
Obwohl ich wusste, dass er weggesperrt war, schreckte ich jedes Mal auf, wenn irgendjemand die Haustreppe hochging oder irgendwo etwas knarzte. Meine Nachbarn erzählten mir zudem, wie sie meinem Mitbewohner kein Messer geben wollten, um die Wohnungstür zu öffnen. Anschließend ist er ihnen gegenüber wohl richtig aggressiv geworden und hat auch diverse Dinge über mich gemurmelt.
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Während meines Heimaturlaubs versuchten seine Eltern wohl, ihn zurück nach Spanien zu holen, aber letztendlich war er dann doch zu viel für sie und blieb deswegen in der psychiatrischen Einrichtung. Er schickte mir außerdem Nachrichten, in denen stand, dass die Polizei unsere Wohnung aufgrund eines Terrorverdachts durchsucht hätte. Genau da traf ich letztendlich die Entscheidung, dass ich aus dieser Wohnung ausziehen musste.
Um 12:00 Uhr landete ich wieder in Berlin, holte um 13:00 Uhr die Schlüssel für meine Übergangswohnung und war bereits um 17:00 Uhr aus meiner alten Bleibe raus..
Irgendwie fühle ich mich schuldig, weil ich einfach so abgehauen bin, aber gleichzeitig kann man mich wohl auch als naive Narzisstin bezeichnen, weil ich einfach davon ausgegangen bin, einem Menschen helfen zu können, dem nicht mal mehr sein engstes Umfeld helfen konnte. Ich war die Letzte, die von seinem Leiden erfuhr, die Letzte, die wusste, wann er wieder nach Hause kommt oder dass seine Eltern ihn nicht bei sich aufnehmen, aber trotzdem die Erste, die von dem Ganzen betroffen war. Als ich ein letztes Mal in die alte Wohnung zurückkehrte, um die liegengebliebene Post abzuholen, bekam ich außerdem noch mit, dass wir wohl kurz vor der Zwangsräumung gestanden waren und der Hausbesitzer schon die Türschlösser gewechselt hatte.
Nun weiß ich, dass ein psychotischer Schub die schlimmste Zeit darstellt, in der man seinen Mitbewohner besser kennenlernt.