Als ich vor zwei Jahren noch als OP-Schwester arbeitete, hielt ich einmal einen Hodenkrebs-Tumor in der Hand. Mein Arbeitstag hatte mit einem 20-jährigen Patienten begonnen, an dem eine Orchiektomie durchgeführt wurde – in anderen Worten: Wir entfernten ihm einen beziehungsweise beide Hoden. Der operierende Arzt trennte geschickt den bösartigen Tumor vom befallenen Gewebe und reichte mir anschließend die kleine, harte und walnussgroße Kugel. Das Bild war überwältigend, genauso wie der Gedanke daran, dass dieser harmlos aussehende Knoten ein solches Gesundheitsrisiko für den jungen Mann dargestellt hatte.
Die Wahrscheinlichkeit, Hodenkrebs zu überleben, liegt bei 98 Prozent. Bei jungen Männern zwischen 20 und 40 Jahren tritt diese Art des Krebses mit 20 bis 30 Prozent aller Krebserkrankungen jedoch am häufigsten auf. Und wenn man die Erkrankung nicht rechtzeitig erkennt oder sich trotz eines Knotens nicht traut, etwas zu sagen, dann muss man umso länger Chemo- und Strahlentherapien über sich ergehen lassen. Im schlimmsten Fall droht sogar der Tod.
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Wir haben mit vier Männern gesprochen, die ihren Hodenkrebs besiegt haben. Außerdem erzählt eine Mutter von ihrem Sohn, der den Knoten in seinem Hodensack ignorierte und dann dem Krebs erlag.
David, 29
VICE: Wie hat sich dein Leben nach der Diagnose verändert?
David: Ich war damals 25 und die Ärzte fanden zuerst den sekundären Krebs. Dessen Tumor hatte sich bereits bis zu meinem Magen ausgebreitet und war so groß wie eine kleine Melone. Als ich wusste, was los war, ging ich sofort vom schlimmsten Fall aus und dachte darüber nach, ob das überhaupt behandelbar sei. Irgendjemand kam dann auf die kluge Idee zu schauen, ob es sich nicht um Hodenkrebs handelte. Beim Ultraschall wurde tatsächlich der kleine, primäre Hodenkrebs entdeckt und mir fiel ein Stein vom Herzen. Durch meine medizinische Ausbildung wusste ich, dass diese Diagnose viel besser ist. Ich glaube, meine freudige Reaktion hat den Ultraschall-Spezialisten ziemlich verwirrt.
Das Problem genau zu kennen, half meiner Familie sehr, denn so konnten wir als Ärzte darüber reden. Leider jagten mir Orte, an denen ich mich wegen meiner Arbeit ständig aufhielt, plötzlich richtig Angst ein. Die Termine und Untersuchungen im Krankenhaus beeinflussten mich nachhaltig. Wenn man als Arzt plötzlich zum Patienten wird, ist es aber auch interessant, mal alles aus der anderen Perspektive zu betrachten.
Wie hat deine Familie auf deine Krebserkrankung reagiert?
Ich weiß noch, wie ich mit meiner Mutter telefonierte und mir dachte: “Eine schlimmere Nachricht kann ich ihr nicht überbringen.” Kein schöner Moment. Ich hatte auch überhaupt keine Lust darauf. Als meine Familie kam, blieb meine Mutter die ganze Zeit bei mir. Und meine Schwester ließ alles stehen und liegen. Als sie bei mir ankam, war ich total erleichtert, denn es stand mir jemand zur Seite, dem ich blind vertrauen kann und der die Dinge vorübergehend in die Hand nahm.
Du warst sehr jung, als man den Krebs entdeckt hat. Kam dir das unfair vor?
Sechs Monate zuvor war einer meiner besten Freunde im gleichen Alter an einem Hirntumor gestorben. Deswegen trauerte ich noch und und hatte mit Gedanken wie “Das ist so unfair, er war doch noch so jung” zu kämpfen. Ich fragte mich, wieso so etwas passiert. Ich zweifelte sogar an meinem Glauben.
Als mir dann die Diagnose gestellt wurde, dachte ich mir nur: “Erst musste mein Freund das durchmachen und jetzt bin ich dran.” Durch seinen Tod hatte ich mich sowieso schon damit abgefunden, vielleicht nicht so lange zu leben. Als ich schließlich wusste, um welche Art Krebs es sich handelte, überkam mich jedoch eine Dankbarkeit. Hodenkrebs endet nämlich nur selten tödlich und kann gut behandelt werden. Außerdem war ich dankbar für meine Familie, die nicht von meiner Seite wich.
Während der Chemotherapie und nach der Operation wurde ich manchmal richtig wütend und musste eine Menge Dinge verarbeiten, die ich vorher verdrängt hatte. Dieser Prozess dauerte eine ganze Weile, war aber auch sehr wichtig.
Pauline Hemmingway, die Mutter von David, der mit 31 an Hodenkrebs starb
VICE: Wie war es, als David dir von der Entdeckung des Krebses erzählt hat? Wie ging er damit um?
Pauline Hemmingway: Wir wussten nur sehr wenig über Hodenkrebs. Mir war aber bewusst, dass solche Knoten nichts Gutes bedeuten. David hatte den großen Knoten schon vor einer ganzen Weile entdeckt und ließ sich bei seinen Freunden und seiner Familie nur noch selten blicken. Ihm war klar, dass da etwas nicht stimmte, aber er ignorierte es einfach.
Wie hat sich dein Sohn nach der Diagnose emotional gesehen verändert?
David war die meiste Zeit sehr ruhig. Als er Gewissheit hatte, zog er zurück zu uns und schien hier ein Gefühl der Sicherheit zu finden. Er verbrachte viel Zeit vor dem Fernseher oder dem Computer und telefonierte mit Freunden. Wenn er Angst hatte, dann ließ er das an mir aus – was schon in Ordnung war, denn ich kämpfte ja mit ihm zusammen. Nur einmal verlor er vor mir komplett die Fassung und brach in Tränen aus. Da nahm ich ihn in den Arm und sagte, dass es ihm bald besser gehen würde. Das beruhigte ihn und ich verstand sein Verhalten. Ich passte mich einfach seiner jeweiligen Stimmung an. Ich meine, er hatte Angst – so viel konnte selbst ich verstehen.
Wie kam David mit der ersten Chemorunde zurecht?
Die Angst war ihm anzumerken. Die Krankenschwester hatte sogar Probleme, ihm die Infusion zu legen, weil er so stark schwitzte. Es standen zwar täglich acht Stunden Chemotherapie an, aber ich wich ihm trotzdem keine Sekunde von der Seite. Als ihn die typische Übelkeit überkam, versuchten wir, dem Ganzen mit Marihuana entgegenzuwirken. Und das klappte auch gut.
Welcher Moment von Davids Kampf ist dir besonders stark im Gedächtnis hängengeblieben?
Der Augenblick, in dem er seinen letzten Atemzug nahm, ich ihn küsste und der Herzmonitor nur noch eine gerade Linie anzeigte. Für eine Mutter gibt es keinen schwereren Moment. Hätte er sich eher durchchecken lassen, wäre David heute noch hier. Ich will nicht, dass irgendein anderer Mensch das Gleiche durchmachen muss. Deshalb mein Appell: Lasst euch jeden Monat untersuchen!
Ferg, 29 – London, England
VICE: Wie hast du reagiert, als du von deinem Krebs erfahren hast?
Ferg: Es war sehr besorgniserregend. Ich habe gleich nach der ersten Tomographie erfahren, dass es keine guten Nachrichten sind. Ich hatte richtig Angst, aber gleichzeitig wollte ich auch rausfinden, was mit mir passiert.
Gibt es in deiner Familie ansonsten Krebs?
Nein.
Wie hast du es geschafft, dich nach der Hodenamputation wieder in deinem Körper zu Hause zu fühlen? Hat sie dazu geführt, dass du dir Gedanken über deine Männlichkeit machst?
Ehrlich gesagt habe ich mir noch nie über meine Männlichkeit gemacht. Die Operation musste sein, und zwar schnell. Anfangs habe ich Fragen zu den offensichtlichen Sachen gestellt – würde ich noch Kinder zeugen können, wie würde das dann aussehen, und so weiter. Aber das hat meine Gedanken nicht so beherrscht. Ich habe es meinen Freunden ganz offen erzählt, und darüber bin ich froh, denn das hat für mich alles sehr schnell normalisiert.
Was war dein erster Gedanke, als du nach dem Eingriff zu dir kamst?
Ich wollte meine Mama sehen.
Welche Vorurteile zu diesem Eingriff sind deiner Meinung nach besonders verbreitet?
Ich denke, viele glauben, dass dieser Bereich komplett seine Funktionsfähigkeit verliert. Für Sex, Fortpflanzung und so weiter. Man kann sich nur schwer vorstellen, dass danach noch alles funktioniert, aber es ist wirklich egal, ob man einen Hoden hat oder zwei.
Was nimmst du aus deinem Kampf gegen Krebs mit in die Zukunft?
Ich habe Glück, so tolle Freunde, Familienmitglieder und Kollegen zu haben. Ich glaube zwar, dass ich immer Angst haben werde, dass der Krebs wiederkommt, aber damit kann ich leben.
Steve Make, 39 – Maryland, USA
VICE: Wie hast du deine Krebsdiagnose erlebt?
Steve Make: Ich war 33, hatte zwei kleine Kinder zu Hause und stand völlig unter Schock. Ich dachte: “Junge, gesunde, unkaputtbare Erwachsene wie ich kriegen doch keinen Krebs.” Ich hatte seit Monaten schon seltsame Schmerzen im rechten Hoden, und zu dem Zeitpunkt war es so schlimm, dass ich nachts nicht schlafen konnte. Als ich diese harte Masse oben-hinten am Hoden spürte, setzte mein Herz einen Schlag aus. Das war vor sechs Jahren, aber ich werde mich für immer daran erinnern, als wäre es gestern gewesen.
Nach dem ersten Schock setzte mein Kampfgeist ein. Meine Frau und ich hatten so hart gearbeitet, um an diesen Punkt zu gelangen, wir hatten so viel geopfert. Wir hatten endlich unser eigenes Haus und zwei wunderbare Kinder. Es kam gar nicht infrage, dass der Krebs mich genau dann aus dem Leben reißen würde. Also schwor ich, bis zum bitteren Ende zu kämpfen.
Wie hat sich deine Gefühlslage danach entwickelt?
Nach dem Krebs habe ich das Leben neu geschätzt – es ist so wertvoll und so ungewiss. Aber zwei Jahre danach hatte ich eine Art Zusammenbruch: Ich hatte Angst, dass der Krebs wieder zurück war, ich verlor Freunde und mir wurde klar, dass ich an einer Posttraumatischen Belastungsstörung litt. Erst danach setzte bei mir die richtige Entwicklung ein. Es war nicht so sehr der Krebs, sondern eher die PTBS-Erfahrung danach, die mir wirklich viel darüber beigebracht hat, womit wir Menschen im Leben zu kämpfen haben. Das hat mich viel mitfühlender gemacht.
Mein Trauma war so schlimm, dass ich schon über Suizid nachdachte. Ich habe so sehr gelitten und wusste nicht, wie ich es sonst in den Griff kriegen oder beenden konnte. Aber ich habe es nicht gemacht, weil meine Familie mich brauchte. Stattdessen wurde ich noch entschlossener, einen Weg nach vorn zu finden. Als ich ihn gefunden hatte und die Heilung richtig beginnen konnte, verlagerte sich meine Aufmerksamkeit ganz von allein darauf, Leuten in einer ähnlichen Lage zu helfen.
Findest du rückblickend, die Ärzte hätten dich besser auf die Gefühle vorbereiten können, die in den Jahren nach der Diagnose auftreten?
Als ich den Krebs bekämpfte, haben die meisten Ärzte einem auf die Schulter geklopft, wenn man eine Behandlungsabschnitt hinter sich gebracht hatte, und dann schickten sie einen weg. Aber die geistigen und emotionalen Herausforderungen waren für mich viel größer als die physischen. Ich glaube, die Statistiken über Depressionen und andere psychische Probleme bei Krebsüberlebenden lügen – die Dunkelziffer ist viel höher. Ich kenne niemanden, der jung Krebst bekommen hat und danach nicht psychische Probleme hatte.
Wie hast du deine Sexualität danach erlebt?
Meine Frau und ich waren schon immer körperlich viel intim, und der Krebs hat dem erst einmal einen Riegel vorgeschoben. Nachdem meine Amputation und alle Computertomographien abgeschlossen waren, stellten sie fest, dass mein Krebs sich ausgebreitet hatte, also machte ich drei elende Monate Chemotherapie durch und brauchte eine Lymphknoten-Operation. Erst nach all dem konnten wir uns wieder näherkommen. Wir mussten es einfach langsam und sachte angehen lassen. Ich hatte so wenige Blutkörperchen, dass ich nicht einmal kommen konnte – oder zumindest nicht so wie vorher. Stattdessen wurde mir einfach schwarz vor Augen! Dieser alte Witz, dass Männer nicht gleichzeitig Blut im Kopf und in den Genitalien haben können, stimmte bei mir eine Zeit lang.
Hast du dich für eine Prothese entschieden?
Ich mochte künstliche Sachen und künstliche Menschen noch nie, also wollte ich auch auf gar keinen Fall ein künstliches Ei in mir dran haben. Eine Prothese habe ich nie in Erwägung gezogen.
Was würdest du jungen Männern raten, die eine Hodenkrebs-Diagnose bekommen?
Du hast so viel mehr Kraft in dir, als dir überhaupt klar ist. Nicht nur wirst du diesen Krebs bekämpfen und besiegen, sondern du wirst all das überwinden und ein viel besserer Mensch werden als vorher. Du bist nie allein mit deinen Gefühlen, und heutzutage braucht es nur einen Klick, um sich Hilfe und Rat zu holen. Die Welt ist klein. Kämpf nicht allein.
Mark Robert, 57 – Pennsylvania, USA
VICE: Wie alt warst du bei deiner ersten Operation?
Mark: Das war 1984, ich war 24 Jahre alt. Meine zweite Hodenamputation hatte ich mit 26, im Juni 1986.
Welche Vorurteile über Hodenkrebs begegnen dir häufig?
Dass du kein Mann mehr bist, wenn du keine Hoden hast, und dass du dann auch sexuell nichts mehr bringst. Beides ist einfach unwahr. Ich war nie emotional, was den Verlust meiner Hoden anging. Mir war von Anfang an klar, dass mich das als Mann nicht ausmacht.
Was würdest du jungen Männern raten, die dasselbe durchmachen?
Wenn dir die Hoden amputiert werden, bist du deswegen nicht weniger Mann als vorher! Das Stigma auf diesem Gebiet ärgert mich sehr, und darüber spricht öffentlich fast niemand. Ich glaube, viele junge Männer sterben an Hodenkrebs, weil sie es zu peinlich finden, sich untersuchen zu lassen – und dann ist er irgendwann so weit fortgeschritten, dass niemand mehr etwas dagegen unternehmen kann.
Was war deine denkwürdigste Erfahrung während der Behandlung?
Ich hatte einen großen Eingriff: Sie entfernten mir alle Lymphknoten. Einer meiner Ärzte ging danach zu meiner Frau, Paula, um sie zu informieren, wie es mit mir lief. Sie brach zusammen, also brachte er sie auf die Wachstation, um mich zu sehen. Das ist eigentlich streng verboten, aber mein Arzt wollte, dass Paula sieht, dass es mir gut geht. Sie war damals erst 19, und ich denke, dem Arzt taten wir leid, weil er Kinder in unserem Alter hatte.
Wie hat deine Erfahrung mit dem Krebs dich geprägt?
Ich habe daraus gelernt, dass das Leben nichts Selbstverständliches ist. Das hat meine Ehe mit Paula überhaupt erst so stark gemacht. Im August feiern wir unseren 34. Hochzeitstag.