Mein Job hat viel mit Internet zu tun. Genau darum versuche ich, mich während der Ferien möglichst von diesem fern zu halten. Ich hänge im Wasser oder an der frischen Luft und rede mit echten Menschen. Mein Tempo der Informationsverarbeitung sinkt enorm. Ich denke darüber nach, ob ich eine frische Kokosnuss oder schon ein Bier trinken soll, statt über die grossen Probleme wie Krieg, Wirtschaft oder Flüchtlinge. Gerade so erweitern Ferien den Horizont. Ich muss mir nicht die Birne zerbrechen, um ausserhalb der Box zu denken, ich bin ausserhalb der Box. Von den grillierten Meeresfrüchten bis zum backpackenden Verschwörungstheoretiker auf MDMA und Pilzen (er nannte diese Kombination einen „Hippie-Flip”) an der Bambusbar ist alles neu, einmalig, augenblicklich und umso realer.
Nach etwa zwei Wochen in Flip Flops und andauernd wechselnden Lokalitäten stellt sich so etwas wie eine alternative Normalität ein, die aus der Abwesenheit von Normalität besteht. Es ist normal, dass ich mit niemandem ausser meiner Verlobten meine Sprache sprechen kann, jeden Preis verhandle bevor ich ihn bezahle, neue Freundschaften nur ein paar herzliche Tage dauern und dann zu Erinnerungen verfliessen. Ich habe mich daran gewöhnt, stets ein Fremder zu sein.
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Doch irgendwann trete ich die Heimreise an. Diese unterscheidet sich während der ersten paar Stationen kaum vom normalen Zustand des Reisens. Eine Bootstour über ein Stück Meer, etwas Autofahrt, einen Inland- und einen internationalen Flug später stehen wir dann aber in Singapur, in einem Transfer-Gate und warten auf unseren Flug in Richtung Zürich. Es ist Nacht, der Flughafen gross und voller Terminals. Verirrte Gestalten in Jogginghosen, Massanzügen oder Saris wuseln desorientiert über die hunderte von Quadratmetern verlegten 70er-Jahre-Teppichs.
„Peter, ich glaub das cha sie ganz guet sälber”, wird der Ferien-Vibe jäh zerrissen. Ich blicke auf und sehe eine Dorfprinzessin im Zürcher Oberländer-Chic, die auf High Heels stolzierend, ihr iPhone an einer der vom Flughafen zur Verfügung gestellten Buchsen laden möchte. Dazu erhält sie die eifrige Unterstützung eines Mittsechzigers in Caro-Hemd und Mephisto-Sandalen.
Die Stimme stammt von seiner etwas ausgetrocknet wirkenden Ehefrau, deren braune, ledrige Halshaut zornig vibrierend die Zurechtweisung von sich gibt. Direkt daneben stehen drei recht grosse Typen um die 40, die verblichene Tribals auf den Armen und trottelige Maserati-Käppis auf den kahlgeschorenen Köpfen haben. Sie sagen hinter vorgehaltener Hand Sachen über „kleine Schlämplis” und grinsen. Später erschliesst sich mir, dass sie in Bangkok waren.
Eine junge Familie schleift ihren Nachwuchs hinter und auf sich her—die Hälfte der Bälger ist überdreht, die andere pennt sabbernd über der Schulter des keuchenden Vaters.
In Leuchtschrift steht über dem betreffenden Gate, dass noch nicht geboardet werden kann. Dennoch stehen jedes Mal, wenn der sichtlich und vor allem hörbar entnervte Flughafenangestellte irgendetwas in sein Mikrofon sagt, nahezu alle anwesenden Schweizer auf und versuchen erfolglos sich ins Flugzeug zu drängeln.
Hier bin ich also, schon tiefer in der Schweiz als irgendwo sonst. Mitten in Asien. Mit diesem Durchschnitt aller Schweizer werde ich die nächsten 13 Stunden in einer Blechkiste sitzen und 10.000 Meter über einem Meer oder einem Stück Wüste durch die Luft fliegen.
Wir werden nebeneinander “leben” und uns möglichst nicht auf die Eier gehen müssen. Dabei sind wir einer Administration an Flugbegleitern nahezu hilflos ausgeliefert. Die Flight Attendant-Regierung entscheidet, wann wir trinken, wann wir schlafen oder wann wir aufstehen dürfen. Der Rhythmus der Essensausgabe bestimmt, wann die Flugzeugbevölkerung scheissen geht. Pass und Flugticket sichern unsere Rechte auf einen Platz an Bord und wir dürfen uns bei den netten Leuten der Firma melden, falls uns etwas nicht passt oder wir etwas brauchen. Ich wurde also ganz gut darauf vorbereitet, wie es sich anfühlt in der Schweizer Demokratie zu landen bevor ich mich überhaupt im helvetischen Luftraum befand.
Aber so richtig ins Gesicht bekam ich die direkte demokratische Realität erst, als ich meinen Laptop nach einem knappen Monat wieder öffnete.
Die Durchsetzungsinitiative (DSI)
Es ist ein recht tragisches Grundgefühl, mit der dunklen Vorahnung in die Ferien zu gehen, die eigene Heimat erlebe gerade den Untergang der Demokratie. Vom Strand aus schaut die Schweiz unter anderen Bedingungen eher etwas besser aus, als sie in Wirklichkeit ist. Spätestens nach drei Wochen sehnten sich meine Verlobte und ich beispielsweise nach einem guten Glas Wein oder Käse. Wenn neue Bekanntschaften anderer Nationen über ihre korrupten Regierung stänkerten, dachte ich bisher jeweils an unser solides und ausgewogenes Schweizer System.
Gelegentlich wurde uns von Touristen und Einheimischen vorgeschwärmt, wie schön die Schweiz vermutlich sei und wie man uns beneide dort zu leben. Normalerweise hätten wir uns in diesem Schwärmen gesonnt und „komm mal vorbei, wir zeigen dir das Matterhorn” oder einen ähnlichen Käse gesagt. Der diesjährige Abstimmungskampf hat diesem Grundpatriotismus aber leider ins Knie geschossen.
Wir erzählten also von der Heiratsstrafe-und der Durchsetzungsinitiative. Wir erklärten unsere demokratischen Grundrechte, die weltweit einzigartig seien, aber eben auch dazu führten, dass die Rechte von Minderheiten bedroht werden können. Wie momentan die von Einwanderern, Secondos oder Homosexuellen.
Diese Menschen, die sonst eigentlich nur lächelten, bekamen einen Gesichtsausdruck, als hätten sie gerade versehentlich einen lebendigen Blutegel geschluckt. Die Wahrnehmung der DSI hat mit goldenen Uhren und Schokolade wenig zu tun, viel mehr wurden bei unseren neuen Freunden Assoziationen zu stählernem Stechschritt und Springerstiefeln wach.
Umso positiver war ich überrascht, als ich heimkam und meinen Facebook-Feed von einer Welle des kreativen Widerstands überschwemmt vorfand. Gefühlt jeder Journalist, der nicht für die Weltwoche schreibt, hat sich gegen die DSI geäussert. Nicht einmal die Nazikeule ist mehr tabu. Von Constantin Seibt bis zu Bendrit hat man sich an beiden Enden des intellektuellen Spektrums offenbar darauf geeinigt, die grossen Kaliber aus dem Schrank zu holen. Gefühlt alle Parteien und Verbände (ausser der SVP) sind dagegen. Der Hashtag #DSI auf Twitter zeigt ausser ein paar verirrten Trollen nur Gegenstimmen.
Toni Brunner heult sich bei 20 Minuten unter dem Titel „Wir werden massiv bekämpft” aus, weil der Widerstand gegen seine Partei so gross ist. Hat sich die SVP nun vielleicht doch mehr auf den Teller gepackt, als sie essen kann? „Absolut zu Recht” und „Endlich” denke ich mir da. So ist es schön heimzukommen.
Umso zermürbender wäre es natürlich, wenn die Initiative dennoch angenommen würde. Wenn wir uns schon extra aus der Politikverdrossenheit erheben um fünf vor zwölf das Ruder herumzureissen, muss das auch mit einem Sieg belohnt werden. Aber eben: Sobald die Schweizer Angst haben, den Flug zu verpassen, drängeln sie rücksichtslos zum Gate. Egal wie laut ihnen entgegen geschrien wird, dass das Boarding noch nicht geöffnet ist.
Initiative gegen Spekulation mit Nahrungsmitteln
Wir waren auf tropischen Inseln, wo alles andere als Nahrungsmittelknappheit herrscht. Wir hätten uns problemlos von dem ernähren können, was wir auf dem Weg zum Strand gefunden haben. So sollte es doch am besten allen gehen.
Als wir vor ein paar Wochen die Schweiz verlassen haben, sah es noch gut aus für die Initiative zum Stopp der Nahrungsmittelspekulation. Damals dachte ich: „Spannend, dass so etwas Antikapitalistisches in der Schweiz eine Chance hat durchzukommen”. Gleichzeitig schien sich aber damals wie heute kaum jemand dafür interessiert zu haben.
Auch in der Schweiz sind die Nahrungsmittel alles andere als knapp. Also war ich zuversichtlich und ein bisschen stolz auf die Schweiz—zumindest was diese Vorlage betraf. „Wenigstens dann, wenn es die Helveten nichts kostet, gute Menschen zu sein, sind sie welche”, dachte ich. Heute hab ich mir die Abstimmungsumfragen reingezogen und mein Optimismus geht in den Keller. Offensichtlich hat doch noch jemand gemerkt, um was es bei der Vorlage ging.
Heiratsstrafe-Initiative
So kurz vor der Abstimmung hatte ich eigentlich erwartet, dass meine sozialen Netzwerke in Regenbogenfarben gestrichen seien. Das sind sie aber nicht. Stattdessen geht die Heiratsstrafe-Initiative im Kampf um die DSI scheinbar unter. Auch die Gebildeten, die Künstler, die Linken, die Alternativen und alle anderen, die sich für Minderheiten einsetzen, scheinen nur ein bestimmtes Mass an politischer Energie aufbringen zu können. Zwei Minderheiten gleichzeitig zu beschützen, liegt offenbar nicht drin.
Im Ausland von der Heiratsstrafe-Initiative zu erzählen, war mir unangenehm. Die Initiantenten versuchen den Schwulen und Lesben Rechte zu verbarrikadieren, indem sie der Mehrheit einen netten Steuervorteil versprechen. Wir, die im internationalen Vergleich sowieso schon superreichen Schweizer geben die Gleichberechtigung aller also doch wieder auf, wenn wir dafür ein paar Fränkli sparen können.
Abstimmung zur zweiten Gotthardröhre
Schon bevor ich meine Ferien angetreten habe, habe ich keine Diskussion mitbekommen, bei der mehr zur zweiten Gotthardröhre geäussert würde als ein Schulterzucken. Höchstens ein halbherziges „mir egal” wurde vermutliche hie und da über die Schweizer Stammtische gerülpst.
In den Ferien wurden wir oft auf die Alpen angesprochen, daher würde es eigentlich Sinn machen, diese zu schützen, nur schon wegen der „Corporate Identity” und dem Tourismus. Wieder in Zürich scheint die Diskussion um die Röhre immer noch nicht am Leben zu sein. Es hat sich eigentlich rein gar nichts getan, ausser das die Alpen-Version der Bremer Stadtmusikanten vereinzelt auf einer Fahne zu sehen ist.
Ich gehe aber davon aus, dass zumindest die Hälfte meiner Mitfluggäste jeweils zu Pfingsten am Gotthard im Stau steht. Daher sehe ich schwarz für den Alpenschutz. Schon alleine die Zusammensetzung des Flugs q946 Singapur-Zürich, lässt darauf schliessen, dass der Schweizer Durchschnitt reich genug ist, dass ihnen der Umweltschutz wortwörtlich nur im Weg ist.
Egal mit wem ich gesprochen habe, alle haben uns um unser Recht an der Regierung teilzuhaben beneidet. Mehr noch als um den scheiss Schnee oder die Schokolade. Das gab mir zu denken. Es macht keinen Unterschied, wie arg dich der Abstimmungskampf nerven mag, wie gleichgültig dir gewisse Vorlagen sind: Abstimmen ist Pflicht—nur schon, weil wir es können und andere nicht.
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Titelbild: Simon_sees | Flickr | CC BY 2.0