Als die jungen Offiziersanwärter der Kaserne im niedersächsischen Munster am Morgen des 19. Juli zu einem Übungsmarsch aufbrechen, ahnen sie noch nicht, dass einer von ihnen an den Folgen dieser Wanderung sterben wird. Erst seit knapp zwei Wochen läuft ihre Ausbildung. Bis 27,9 Grad Celsius wird es an diesem Tag. “Sie sollten eingewöhnt werden”, sagt der Pressestabsoffizier Armin Hensel gegenüber VICE. Doch ein Anwärter schafft nur die Hälfte der Strecke. Nach drei Kilometern bricht er bewusstlos zusammen. Zehn Tage später stirbt er im Krankenhaus.
An diesem Tag läuft der Rest noch einen weiteren sogenannten Eingewöhnungsmarsch, ebenfalls sechs Kilometer lang. “Dieser beinhaltet Trinkpausen und ist ohne Zeitbegrenzung sowie ohne Rucksack – also nur mit Waffe, Koppel und Helm”, erklärt Hensel. Am Nachmittag brechen drei weitere Soldaten zusammen. Jetzt untersucht die Bundeswehr den Vorfall. Der tote Soldat wird obduziert. “Wir haben kein abschließendes Ergebnis. Die zufällige Häufung von verschiedenen Faktoren kann man nie ausschließen”, sagt der Pressestabsoffizier. Heißt: Niemand weiß bisher, wieso dem Offiziersanwärter der anscheinend relativ leichte Marsch so zusetzte.
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Wir haben bei vier ehemaligen Wehrdienstleistenden nachgefragt, wie hart die Anforderungen bei diesen Märschen sind.
Stefan*, Wehrdienst im Logistikbatallion Regen und Pfreimd
VICE: Wurdest du während deiner Zeit bei der Bundeswehr zu hart rangenommen?
Stefan: Bei uns ist nie jemand umgekippt. Auch nicht, wenn wir mal 13 Kilometer mit zehn Kilogramm Gepäck marschiert sind. Wenn, dann gab es Leute, die nicht mehr konnten und mit dem Wolf – also einem SUV – von den Streckenleitern eingesammelt wurden.
Wie groß ist der Leistungsdruck auf die Soldaten?
Wir wurden schon an unsere Grenzen gepusht, aber man konnte immer aufhören – wenn man das denn wollte. Ich glaube in diesem tragischen Fall eher, dass da bei der Musterung irgendetwas übersehen wurde – ein gesundheitlicher Fehler, eine Lebensmittelunverträglichkeit, eine Allergie. Anders kann ich mir das nicht vorstellen. Mittlerweile kommen sehr viele Leute wahnsinnig unvorbereitet in die Bundeswehr.
Sind die Aufnahmebedingungen bei der Bundeswehr also zu lasch?
Bei uns waren Leute in der Truppe, die noch nie in ihrem Leben Sport gemacht haben. Das Problem ist, dass die Bundeswehr wenig ausschließt. Statt eine elitären Mannschaft aufzubauen, nehmen sie beinahe jeden.
Cynthia, Bundeswehr-Sportfördergruppe in Hannover
VICE: Hast du die Bundeswehr als unsportlich erlebt?
Cynthia: Unser Zug bestand komplett aus Leistungssportlern. Bei den anderen Soldaten waren aber einige sehr unsportlich und mussten bei Märschen schon richtig kämpfen.
Werden Unterschiede bei Männern und Frauen gemacht?
Es werden alle gleich fair oder eben unfair behandelt. Als Frau musst du das Gleiche leisten wie als Mann. Mich wundert es, dass es soweit gekommen ist und jemand umkippt oder stirbt, denn eigentlich schaut jeder immer nach den anderen. Ich hatte es bei einem Marsch auf dem Rückweg auch mal ziemlich schwer und wurde sofort von beiden Seiten eingehakt. Wir haben uns immer gegenseitig angetrieben. Man kann der Bundeswehr viel vorwerfen, aber Kameradschaft wird sehr groß geschrieben.
Siehst du nach deinen Erfahrungen bei der Bundeswehr Verbesserungspotenzial?
Eigentlich nur zwei Dinge: Im Vorhinein muss den Leuten viel klarer bewusst sein, was auf sie als Soldaten zukommt. Und die Ausbilder und auch die Ärzte müssen früher erkennen, ob jemand dazu in der Lage ist, das abzurufen, was verlangt wird.
Philipp*, Wehrdienst bei den Sanitätern in Feldkirchen und Ulm
VICE: Sind bei euch damals auch Leute bei Märschen umgekippt?
Philipp: Wir mussten einmal 20 Kilometer laufen bei 12 Kilo Gepäck – in drei oder vier Stunden. Aber da ist keiner umgekippt. Wir waren alle nur durchnässt vom Regen und geschafft durch die Anstrengung. In meinen zehn Monaten ist nie jemand zusammengebrochen. Der Fall in Munster hört sich nach einem Einzelfall an.
Wie kommst du darauf – immerhin hatten drei weitere Anwärter erhebliche Probleme?
Jeder Mensch ist anders veranlagt, wenn es um Belastungen geht. Aber an sich ist ein Marsch mit leichtem Gepäck von drei oder sechs Kilometern kein Akt. Die Marschgeschwindigkeit bei der Bundeswehr beträgt sechs Kilometer pro Stunde. Auch wenn man nicht so sportlich ist und Belastungen bei dieser Hitze nicht kennt, dürfte das für gemusterte Soldaten kein Problem sein. Ich denke, sie haben nicht genügend getrunken oder waren gesundheitlich nicht fit. Und es kommt auf den Ausbilder an.
Unterscheiden sich die Ausbilder so sehr?
Es gibt Ausbilder, die sind Arschlöcher und scheißen darauf, ob es dir gut geht. Ich will niemandem eine Schuld zusprechen, aber es hängt immer vom Ausbilder ab, wie hart ein Marsch ist.
Wie war deine Erfahrung?
Bei uns haben die Ausbilder immer darauf geachtet, dass es den Leuten gut geht. Sie sind selbst mitmarschiert und haben Apfelstücke als Stärkung verteilt. Ich war aber auch bei den Sanitätern. Denen wird in der Bundeswehr nachgesagt, dass ihre Ausbildung etwas sanfter ist.
Bernhard, Wehrdienst bei den Gebirgsjägern in Berchtesgaden und Mittenwald
VICE: Du warst bei den Gebirgsjägern, deren Ausbildung als besonders hart gilt. Sind bei euch auch Leute umgekippt?
Benedikt: Ich kann mich an keinen erinnern. Es gab schon oft Leute, die sich bei Bergmärschen haben fallen lassen und nicht mehr weiter wollten, vor allem am Anfang. Aber meistens haben die Ausbilder die einfach weitergetrieben, manchmal mussten die anderen dann deren Rucksäcke tragen. Da überlegt man sich dann schon gründlich, ob man das den anderen antun will.
Sind die Methoden zu heftig oder die Anwärter zu unsportlich?
Als ich zu den Gebirgsjägern kam, hatte ich anderthalb Jahre überhaupt keinen Sport gemacht und hatte ziemlich Schiss, dass ich da sterben würde. Aber es stellte sich schnell heraus, dass ich trotzdem fitter als der Durchschnittsrekrut war. Viele konnten anfangs nicht mal einen Kilometer joggen, ohne schrecklich zu leiden. Wenn man normal fit war, waren die Märsche meistens ziemlich gut zu bewältigen – außer, man musste seine Kameraden tragen.
*Aus Schutz unserer Interviewpartner haben wir ihre Namen geändert.