Wenn du im Ausland bist, erwarten alle von dir, dass du dich blindlings auf alles Neue stürzt—Schnäpse, die dir die Magenschleimhaut veröden, lasziv-sabbernde Hotties, die für ein Visum auch die letzte Schabracke heiraten würden oder doch zumindest Haremshosen in todschickem Batik-Look vom örtlichen Wochenmarkt. Als ich vorige Woche zum Urlaub in Lissabon war, versuchte ich also mein Glück bei einem Mittagessen mit wildfremden Menschen.
EatWith.com ist noch ein relativ neues Abenteuer, bei dem du das Gefühl bekommen sollst, bei einem Freund zum Essen eingeladen zu sein—mit dem kleinen Unterschied, dass in der Küche nicht deine Freunde, sondern ein Haufen Wildfremder auf dich warten. Es handelt sich im Grunde um ein Ventil für Urlauber, die es leid sind, ihr Abendessen Tag für Tag in Touri-Fallen einzunehmen, wo klebrige eingeschweißte Speisekarten mit unscharfen Essensfotos locken.
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Seitdem die Seite online ging, ist EatWith zu einer großen Nummer in Barcelona geworden—momentan bietet die Stadt 172 Essens-Events dieser Art, die von Sushi über Tapas bis hin zu Thai-Gerichten reichen. In Sao Paulo ist die Seite nicht ganz so erfolgreich, wo aktuell nur acht solcher Events anstehen (obwohl du dort bei mindestens einem kulinarischen Stelldichein auf den Quoten-Deppen treffen wirst, der dir erklärt, wie du am besten Meerschweinchen—nach peruanischer Art—zubereitest). In Jerusalem ist deutlich mehr auf der Seite los, wie auch in Tel Aviv (wo alles begann), wohingegen Australien mit gerade einmal drei Gastgebern aufwarten kann. Oh, schade.
Die Events fallen gewöhnlich in zwei Kategorien—entweder bekommst du von deinem Gastgeber eine kleine Kochstunde (Sushi für Dummys; Touren auf dem Wochenmarkt; How-to: Meerschweinchen) oder aber das Motto lautet „Komm doch zum Abendessen vorbei” (aber bezahl gefälligst vorher auf PayPal). In Lissabon suchte ich komischerweise vergeblich nach portugiesischer Küche—es gab Pizza, brasilianische Spezialitäten und „Essen aus aller Welt”—weswegen meine Wahl auf Lilian und To-Pe fiel, die beide versprachen, mit mir zusammen landestypische Gerichte zu kochen.
Eine Sache möchte ich aber vorweg klarstellen—ich bin nicht der Typ Mensch, der auf Teufel komm raus mit Fremden isst. Wer mich kennt, weiß auch, dass ich gern alleine zu Mittag esse, und das auch schon mal in einem leeren Konferenzraum. Auf diese Weise kann ich auch nicht das heilige zehnminütige Zeitfenster anderer Leute durchkreuzen, in dem sie sich ein semileckeres Sandwich runterwürgen, während sie abwesend durch Online-Shoppingwelten scrollen.
Bei EatWith hingegen reizten mich verschiedene Punkte—allen voran die Gelegenheit, mal Menschen, die in Lissabon leben, zu fragen, wie es eigentlich so ist … ähm … in Lissabon zu leben. Zudem bot sich mir auch noch die Chance, die Tischmanieren anderer Leute zu inspizieren und das Gefühl zu haben, in einer komischen, portugiesischen Fassung von Das perfekte Dinner teilzunehmen, nur ohne das lästige Für-andere-kochen-müssen. Und auch die Tatsache, dass das kulinarische Happening nur vier Minuten zu Fuß von meiner Bleibe stattfinden sollte, war ein weiteres Plus. Am meisten aber überzeugte mich das Essensangebot. Auf der Website des Gastgebers war von fetten Sardinen, schwarzen Hochglanz-Oliven und riesengroßen Tomaten die Rede. Was soll ich da noch sagen? Ich bin eben ein Gierschlund …
Als ich dann aber in Lissabon ankam, begann ich mir Sorgen zu machen. Was in Gottes Namen hatte ich mir da nur eingebrockt? Ich wollte doch tatsächlich das Haus eines Wildfremden betreten. Den ich nur aus dem Internet „kannte”, auf den ich selbst herangetreten bin und für dessen Dienste ich auch noch gezahlt habe. Und das in der Woche, in der der „Canterbury Cannibal” vor Gericht stand.
Würde mich der Gastgeber mit einem Hackbeil enthaupten, meinen Kopf mit Olivenöl und Kräutern garnieren und ihn im Anschluss braten? Hatte ich 25 Euro für mein sicheres Todesurteil rausgeschmissen? Und würden meine peinlich berührten Eltern den Schmierblättern erklären müssen, dass ich es war, der das Treffen überhaupt erst ins Leben gerufen hatte? Ich hoffte nur, dass sie wenigstens bei der Auswahl des Fotos für meine Vermisstenanzeige ein gutes Händchen beweisen würden. Ein besonders hilfsbereiter Kollege versuchte noch, meine Zweifel auszuräumen, indem er mir in einer E-Mail schrieb: „Du wirst wahrscheinlich nicht nur umgebracht werden, sondern es erwartet dich – wenn die Gastgeber ein Pärchen sind – davor bestimmt auch noch nicht ganz so einvernehmlicher Geschlechtsverkehr.”
Ich malte mir also aus, wie ich zum verabredeten Essen erscheinen und in die enttäuschten Gesichter meiner potentiellen Mörder blicken würde, denen just in diesem Moment klar geworden ist, wie alt mein Profilfoto auf EatWith schon sein musste. Aber manchmal musst du im Leben auch was riskieren. Was sonst hätte ich an einem ruhigen Sonntagnachmittag in einem glühend heißen und katholischen Land tun sollen?
Es ging gut los. Liliana und To-Pe machten mit mir einen kleinen Rundgang durch die Wohnung, die ich sonst auch selbst unter die Lupe genommen hätte, wahrscheinlich unter dem Vorwand, dringend auf die Toilette zu müssen. Ein paar der anderen EatWith-Gäste waren schon da, weswegen sich das Ganze nicht mehr ganz so unangenehm anfühlte. So konnte ich auch ganz entspannt die eselpimmelgroße Chorizo auf dem Grill bewundern und glücklich vor mich hin nicken. Jeder konnte und sprach hier Englisch. Langsam wuchs in mir die Zuversicht, dass wohl doch keiner nach meinem Leben trachten würde. Darum griff ich forsch nach der Sangria-Flasche und goss mir ein großes Glas ein. OK, nicht nur eins. Er schmeckte großartig.
Ich habe Thunfisch-Pastete und Lupini-Bohnen in mich reingestopft, und da ich von Fremden umgeben war, waren alle viel zu höflich, um mich darauf hinzuweisen, dass man die Schale von Lupini-Bohnen nicht mitisst. Und genau das ist der Clou, wenn du mit fremden Menschen dinierst—keiner kann dir sagen, dass du dich beim Entgräten der Sardinen selten dämlich anstellst, oder eine beschissene Anspielung machen, dass du zu schnell trinkst, oder dich dafür rüffeln, dass du schon wieder fünf Ofenkartoffeln in kürzester Zeit verschlungen hast, obwohl doch auch Salat direkt vor dir steht. Warum nicht? Weil es ihnen ganz einfach am Arsch vorbei geht. In spätestens zwei Stunden sieht man sich eh nie wieder, also kannst du reinhauen wie ein fetter, schwitzender Potentatbei einem orgiastischen Bankett. Wen interessiert’s?
Sogar auf meine Laktose-Intoleranz (ja, ich weiß, nicht gerade praktisch in einem Land, das für seine Puddingtörtchen berühmt ist) wurde Rücksicht genommen. Meine liebenswerten Gastgeber hatten extra meinetwegen Apfelstreusel gebacken, was vielleicht nicht genau das war, was sich die anderen Gäste—ein Brite, der so aussah, also sollte er in der Ultimate-Frisbee-Mannschaft meiner Schwester spielen, zwei Männer aus Barcelona, die eventuell ein Pärchen waren, oder doch nur ziemlich beste Freunde, die zusammenleben und Urlaub machen, sowie ein Mädchen aus New York, das sogar einen meiner Freude aus South Londonkannte—bei 31 Grad Hitze gewünscht hätten. Das tat mir dann auch echt leid. NOT.
Der Abend verlief fast ganz ohne unangenehme Momente. Nach spätestes drei Flaschen Wein stellt sich eh heraus, wie viel wir doch alle gemeinsam haben—auch wenn du, fast wie an Weinachten, allen Anwesenden erklären musst, womit du aktuell deinen Lebensunterhalt verdienst und wie sehr du doch einkaufen gehen hasst. Apropos: Hast du gewusst, dass du in Spanien einfach deinen Einkaufskorb in der Schlange stehen lassen kannst, auch wenn du noch nicht alle Sachen zusammen hast—und das OHNE deine Senioritätan der Kasseeinzubüßen? Ich habe es nicht gewusst. Jetzt weiß ich’s.
Zum Ende hin gab es dann doch diesen komischen Das-Essen-ist-beendet-Moment, wo du nicht einfach so aufstehen und „Tschö” in die Runde rufen willst, aber auch nicht so lange sitzen bleiben möchtest, dass die Gastgeber fürchten müssen, DU könntest dich als der Mörder entpuppen. Zum Schluss wollte ich dann nur noch ins Bett, um mich zu erholen von dem Drei-Gänge-Menü samt Vinho Verde (ja, grüner Wein, wer hätte das für möglich gehalten?), den ich getrunken hatte, als gäbe es kein Morgen mehr.
Ich kann nur jedem, der demnächst in Urlaub fährt, empfehlen, ein EatWith-Essen mitzunehmen. Du musst nicht beim Abwasch helfen, du musst dir keinen Kopf um eine Gegeneinladung machen, und—am allerbesten—du musst nicht mal so tun, als wolltest du in Kontakt bleiben. Kurzum: Es ist perfekt.
Oberstes Foto: Jakob Montrasio | Flickr | CC BY 2.0