Dieser Artikel stammt aus der Privacy and Perception Issue des VICE Magazines, das in Zusammenarbeit mit Broadly produziert wurde. Mehr Geschichten aus dem Heft kannst du hier lesen.
Ich saß mit einer alten Freundin – ich nenne sie hier Chloé – in einem Restaurant in Berlin. Wir lachten über unsere Schulzeit und erzählten Geschichten aus unserer Heimat, der französischen Provinz.
Videos by VICE
Als es spät wurde, gestand Chloé, sie habe mit 17 auf Onlineanzeigen für “Aktmodelle” geantwortet. Auch ich verriet ihr ein Geheimnis: Um meinen 18. Geburtstag herum kontaktierte mich eine mysteriöse Frau per MSN Messenger und bot mir einen Job als “Web-Model” an. “Hieß sie Alicia Pimprelle*?”, platzte es aus Chloé heraus. Ja, so hieß sie.
Chloé und ich waren 2007 auf derselben Plattform kontaktiert worden. Von derselben Person – oder zumindest von Personen, die denselben Namen benutzten. Damals belästigten einen seltener zwielichtige Fremde, Freundschaftsanfragen auf MSN fühlten sich unverfänglich an. Deswegen war ich auch nicht allzu misstrauisch, als sich eine “Alicia” bei mir meldete.
“Hi Sarah, ich heiße Alicia und bin Recruiterin für Web-Models“, hieß es in der ersten Nachricht. Ich überlegte, sie zu blocken. Dann sah ich ihr Prolbild: ein leicht rundliches Mädchen in einer blauen Strickjacke, ein schwarzes Haarband um das schulterlange braune Haar. Sie sah harmlos aus. Und sie war Model-Recruiterin.
Alicia sagte, sie arbeite für eine kostenpflichtige Dating-Website aus Belgien, “ein bisschen wie OkCupid”. Die Seite sei neu, es hätten sich mehr Männer als Frauen angemeldet. Damit die Kunden dabeiblieben, müsse man Mädchen anheuern. Ich brauche lediglich so zu tun, als suche ich nach Dates in Belgien, um die Männer dann mit Videochats so lange wie möglich auf der Seite zu halten. “Ganz wichtig: Du darfst der Kamera nur dein Gesicht zeigen. Nacktheit ist verboten”, schrieb Alicia. Das Honorar liege bei 8,50 Euro die Stunde, plus Provision – je nach Dauer und Anzahl der Chatpartner.
Ich zögerte nicht lange. Mir war alles recht, was mich vom Lernen für meine Prüfungen abhielt. Ich hatte noch nie eigenes Geld gehabt, abgesehen von den Umschlägen, die mir meine Großeltern zu Weihnachten in die Hand drückten. Und wenn Nacktheit verboten war, was konnte schon schiefgehen?
Mehr von Broadly: Bräute zu verkaufen – Bulgariens kontroverser Jungfrauenmarkt
Ich gab mir den Namen “saskia04” (das war nicht der eigentliche Name, den würde ich hier nicht verraten) und legte mit drei, vier Fotos ein “Modelprofil”, wie Alicia es nannte, auf einer Onlineplattform an. Dann gab mir Alicia eine Liste von Phrasen, die ich in den Gesprächen verwenden sollte:
Ich bin 18 Jahre alt, und du?
Ich bin gerade für ein Praktikum nach Brüssel gezogen.
Ich habe mich hier angemeldet, weil ich Leute kennenlernen will.
Bist du auf der Suche nach einem Date?
Ich habe schon eine Weile kein Date mehr gehabt.
Was ist das Heißeste, das du je mit einer Frau gemacht hast?
Ich glaube, ich bin bisexuell.
Vielleicht können wir uns irgendwo treffen?
Kannst du romantisch sein?
Was sollte ich bei unserem ersten Date anziehen?
Ich zog mein schwarzes Tanktop mit den Glitzerträgern an, trug eine gefährlich dicke Schicht des beigen Yves-Saint-Laurent-Lippenstifts meiner Mutter auf, dazu violetten Lidschatten. Dann klickte ich auf “Show starten”. Ein Fenster ging auf, darin sah ich mich selbst in meiner Webcam.
Namen wie “Guillaume”, “27cm” und “Grosse-Bite” (Französisch für “dicker Schwanz”) tauchten auf meinem Bildschirm auf. Doch statt mir per Webcam ihre Gesichter zu zeigen, präsentierten die Männer mir ihre Schwänze. Ich hatte noch nie Sex gehabt. Und ich hatte nicht vorgehabt, mir so was anzuschauen.
Ich kontaktierte Alicia. Sie hatte “vergessen” mir zu sagen, dass ich die Videofenster der Männer auch ausblenden konnte. Dann schickte sie mir weitere Phrasen. “Wenn jemand dich auffordert, dich auszuziehen”, schrieb sie, “sag: ‘Es tut mir leid, ich bin schüchtern, vor allem, wenn mir viele Leute zuschauen. Echter Kontakt ist mir lieber. Magst du dich mal treffen?’ Außerdem solle ich die Männer mit Kosenamen ansprechen, etwa “mon nounours” (mein Teddybär) oder “mon petit homme” (mein Kleiner).
Das ekelte mich an. “Was für eine Website ist das hier?”, fragte ich. Sie schickte mir einen Link zu einer unfertigen Seite. “Tausende Singles in deiner Nähe! JETZT ANMELDEN!” stand da in pinkfarbener Schrift. Obwohl mir die Sache langsam dubios vorkam, loggte ich mich noch mehrmals ein. Ich mochte es, Saskia zu spielen und Geld zu verdienen. Außerdem konnte ich mich so vor meiner Schularbeit drücken. Die Chats mit den Männern fand ich weniger bedrohlich, eher seltsam und lächerlich. Sie forderten mich auf, mich auszuziehen und fragten Sachen wie “Trägst du auch mal Stilettos?” oder “Könntest du deine Haare bürsten?”. Sex war für mich Neuland, ich fand es faszinierend, was Männer für bizarre Fantasien haben. Ein Typ wollte einfach nur dabei beobachtet werden, wie er selbst teure Reizwäsche trug.
Doch langsam verwischte die Grenze zwischen meiner Onlinepersona und meiner echten Identität, und damit verschwammen auch meine eigenen Grenzen: Erst spielte ich nur mit dem Glitzerträger des Tops, sodass der BH rauslugte. Irgendwann lag das Top auf dem Boden, ich drückte meine spitzenumhüllten Brüste für die Kamera zusammen. Offensichtlich war da keine Alicia im Hintergrund, die aufpasste.
Aber wer sah mir alles zu? Ich hatte schon begriffen, dass die Männer vermutlich keine Mitglieder der angeblichen Dating-Seite waren. Ich googelte “saskia04” und entdeckte mein “Modelprofil” auf mehreren Live-Porno-Seiten. Mir wurde übel. Ich war Opfer einer Betrugsmasche geworden – und zum Sexobjekt von viel mehr Zuschauern, als man mir zu verstehen gegeben hatte. Ich löschte meinen Account und blockte Alicias Kontakt.
Chloé hatte etwa 1.000 Kilometer entfernt gewohnt und die gleiche Erfahrung gemacht – wie viele Mädchen und Frauen in ganz Frankreich hatten die Betrüger kontaktiert?
Ich war neugierig, loggte mich in meinen alten Hotmail-Account ein und schrieb Alicia Pimprelle: “Hi Alicia, suchst du immer noch Web-Models?” Stunden später kam die Antwort: “Hallo Sarah, ich antworte an Alicias Stelle auf deine Bewerbung. Ich bin die neue Recruiterin”, schrieb Julia* von Dream Animation. Die Firma hatte damals einen anderen Namen.
Ich gab vor, für sie arbeiten zu wollen, sie bat um ein Gespräch auf Google Hangouts. Dort schrieb sie: “Damit es keine Missverständnisse gibt: Die meisten Gespräche im Chat werden sich um Sex drehen.” Die Besucher würden nicht bezahlen, “um sich übers Tagesgeschehen zu unterhalten”. Für “voll bekleidete Gespräche” gebe es 12 Euro pro Stunde und Abonnent, für “Shows inklusive Strippen (teilweise oder komplett)” 50 Euro.
Mir ging auf, dass ich mit 18 ohne mein Einverständnis in eine frühe Version einer Sexbranche geraten war, die heute weit verbreitet ist.
“Glückwunsch”, las ich kurze Zeit später, “du bist ein X Model! Willkommen in der Welt der Camgirls!”
* Name geändert