Wie ich zur Wanderhure wurde

Links ein Umschlag mit Geld, Rechts ein Selfie von Christian in Dessous, ohne Gesicht

Menschen in der Sexarbeit wechseln oft den Wohnort, auch weil Bordellbetreiber im Internet mit viel Cash und einem glamourösem Leben werben. Sexarbeiter Christian Schmacht, 30, beschreibt, wie er zur “Wanderhure” wurde – kurz vor Beginn der Coronakrise.

Es ist Silvester, meine Freundin Julie und ich schreiben Wünsche fürs neue Jahr auf eine Liste, die wir feierlich Ops widmen, der römischen Göttin des Überflusses. Wir verbrennen die Zettel, während um uns herum die Leute ihre Raketen verpulvern. Auf meiner Wunschliste steht ganz oben: Geld. Darunter: mal aus meinem lethargischen Job rauskommen. Julie und ich sind Sexarbeiter.

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Es ist Januar und in den Bordellen herrscht Flaute. Auch in meinem Berliner Puff ist nichts los, und keine Kundschaft bedeutet keine Kohle. Ich tippe auf meinem Handy herum. Auf Plattformen wie kollegin.de und rotlicht.de werden Jobs für Sexworker im deutschsprachigen Raum angeboten. Ich lese die Stellenanzeigen: “8.000 Franken im Monat – garantiert!”, “Fleißige Damen verdienen bis zu 2.000 Euro pro Woche!” und “Internationale Ladies gesucht, all inclusive!”. Vor allem die Anzeigen aus der Schweiz locken mit sehr hohem Einkommen in glamourös beschriebenen Saunaclubs und Bordellen.

Ich denke an meinen Neujahrsvorsatz und die Göttin, dann schicke ich Fotos von meinem Arsch und meinen Brüsten an die Läden in Zürich und Basel mit den höchsten Preisen. Ich male mir aus, wie ich mit all den reichen Schweizern bumsen werde und die dicken Bündel Schweizer Franken in meinem Koffer verstecke. Doch meine Vorfreude erschlafft wie der Penis eines übereifrigen Freiers unter Zeitdruck: Die Läden weisen mich ab. Ich sei nicht das, was sie suchen, schreiben sie.

Wow. Was suchen die denn? In Berlin ist es leicht, einen Arbeitsort zu finden. Als neuer Sexarbeiter ruft man in den Läden an und verabredet sich zum Probearbeiten. Ich überzeuge da vor allem durch meine Ausstrahlung. Ich glaube, ich gebe meinen Kundinnen und Kunden das Gefühl, sich fallen lassen zu können. Das kann kein Foto rüberbringen, das muss man persönlich erleben, sage ich mir.

Ich erzähle meinen Freunden, dass ich mit zehntausend Euro zurückkommen und davon dann die kommenden Monate leben werde. Manifestieren! Visualisieren! An sich selbst glauben!

Dann meldet sich doch noch ein Laden, ein Laufhaus in Zürich. Ich kriege eine schnoddrige Sprachnachricht: “Jo, geht klar, du kannst im Februar kommen!” Laufhaus bedeutet, dass man tageweise ein Zimmer mietet und dort auf Kundschaft wartet. Die Zeit kann man sich frei einteilen, deswegen mag ich diese Art der Arbeit.

Ich erzähle meinen Freunden, dass ich mit zehntausend Euro zurückkommen und davon dann die kommenden Monate leben werde. Manifestieren! Visualisieren! An sich selbst glauben! Sonst kann die Göttin auch nicht viel machen.


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In meinen Koffer packe ich nur Sexklamotten: Tangas, BHs, Bodysuits, Sexy-Krankenschwester-Kostüm, Sexy-Sailor-Moon-Kostüm, Latex-Anzug, High Heels, Strümpfe. Dazu Sextoys, Kondome, Schminke und Verpflegung. Ich weiß, dass Zürich teuer ist, und nehme mir vor, dort kein Geld auszugeben. Mein Koffer ist schwer vor lauter Fertignudeln, Süßigkeiten und einer Literflasche mit meinem liebsten Energydrink.

Sonst hab ich nur die Kleider mit, die ich auf der Reise trage: Pulli und Leggings. In der Bahn Richtung Zürich verschwinde ich mit meiner riesigen Make-up-Tasche auf dem Klo. Ich werde von anderen nicht immer als eindeutig männlich oder weiblich gelesen. Ich bin trans, habe kurze Haare und lebe außerhalb der Sexarbeit als Mann. Ich habe oft Panik, dass mir jemand auf die Schliche kommen könnte. Dass ich abgewiesen werde, weil ich zu maskulin aussehe.

Also rasiere mich mit dem kalten Wasser der Zugtoilette und male mir vierzig Minuten lang Make-up ins Gesicht. Danach sehe ich aus wie eine Porzellanpuppe, makellos und ohne Alter.

Als ich fast fertig bin, klopft es energisch an der Tür des kleinen Toiletten-Kabuffs. Eine Stimme mit Schweizer Dialekt fordert mich auf, sofort aufzumachen. Ich öffne. Mich glotzen eine Schaffnerin und fünf neugierige Gesichter an.

“Was machen Sie da?”, fragt die Schaffnerin streng. “Ich hab mich geschminkt.” – “Es wollen auch noch andere auf die Toilette!” Ich drehe mich zu den gaffenden Leuten. “Wollt ihr alle aufs Klo? Warum habt ihr nicht einfach geklopft?” Sie drucksen herum. Nein, sie müssten nicht aufs Klo. “Wir wussten nur nicht, was Sie da machen.”

OK, got it. Willkommen in der Schweiz.

Im Laufhaus hat Piet, der Betreiber, schon alle Papiere für mich fertig gemacht. Bei den Schweizer Behörden muss ich ein Foto des Ausweises und einen Mietvertrag bei der Arbeitsstätte vorweisen – und einen “Businessplan”. Business klingt nach Geld, ich zähle im Kopf schon die Franken.

Piet bringt mich und meinen Riesenkoffer in mein Arbeitszimmer: ein Bett, ein Schrank, ein Waschbecken und eine Dusche. Es ist schön warm und die Armaturen der Dusche blitzen frisch geputzt. Das Klo ist auf dem Gang, ich teile es mit den anderen Arbeiter*innen auf meinem Stockwerk. Ich mache meinen Koffer auf und schmücke die Wände mit meinen schönsten Tangas. Hier wohne ich jetzt.

Ich ziehe mich aus und setze mich auf meinen Hocker vor der Zimmertür. Es läuft Techno. Das Licht ist gedimmt und rot wie in meinem Puff in Berlin. Man soll vergessen, welche Tages- oder Jahreszeit es ist, und ganz in die Erotikwelt eintauchen. Ich lese ein Buch, aber kann mich nicht konzentrieren. Alles ist neu und ich bin aufgeregt.

Ich warte und warte und warte. Meine Nachbarin kommt aus ihrem Zimmer, sie wickelt einen dicken Mantel um ihre Dessous. Wir stellen uns mit unseren Künstlernamen vor. Sie heißt “Ilona”. Ich heiße “Chrissy”. “Brauchst du was von der Tankstelle?”, fragt sie. Ich brauche nichts, ich habe mir ja alles aus Deutschland mitgebracht.

Ich bin ein bisschen neidisch, aber sehe es als Lektion. Die Göttin des Überflusses hätte Ja gesagt und abgesahnt.

In den ersten 24 Stunden im Laufhaus kommen zwei Kunden. Keiner will zu mir. Ich denke an die Göttin des Überflusses. Nachts fragt Ilona, ob ich zu ihr rüber kommen möchte. Sie und eine weitere Kollegin haben einen zugekoksten, blassen, kleinen Mann auf ihrem Zimmer. Er mustert mich mit gehetztem Blick und fragt, welchen Service ich anbiete.

Küssen? Yes.
Blasen ohne Gummi? Na clear.
Rollenspiele? Sowieso.
Sex ohne Gummi? Ich zögere.

Das ist in Deutschland total verpönt, die Frage überrumpelt mich. Hinter ihm machen die beiden anderen aufgeregte Gesten. Ich verstehe nicht, was sie meinen. Zu spät. Den zugekoksten Typen hat mein Zögern so aufgewühlt, dass er mich weg schickt.

Links Christians Zimmer, am Spiegel häng ein Sailor-Moon-Jäckchen, rechts Christians Gepäck mit vielen Snacks

Am nächsten Tag sitzen Ilona und ich auf unseren Hockern und sie erklärt: Der war so zu, der konnte gar nicht ficken. Wir haben beide gesagt, wir machen es ohne Gummi, weil wir wussten, das schafft der sowieso nicht. Sie erzählt mir, wie viele dieser kleinen, bunten Schweizer Geldscheine sie ihm abgeknöpft haben. Ich bin ein bisschen neidisch, aber sehe es als Lektion. Die Göttin des Überflusses hätte Ja gesagt und abgesahnt.

Kaum hab ich genug erwirtschaftet, bricht der nächste Tag an und ich bin wieder im Minus.

Die Zeit vergeht und ich verdiene nichts. Für meine Tagesmiete brauche ich zweieinhalb Kunden, oder einen, der ein bisschen länger bleibt. Kaum hab ich genug erwirtschaftet, bricht der nächste Tag an und ich bin wieder im Minus. Meine Riesen-Flasche Energydrink ist nach zwei Tagen leer. Ich esse Nudeln, aber beschränke mich auf drei Mahlzeiten am Tag, denn wenn ich aus Langeweile snacke, reicht mein Vorrat nicht. Ich liege herum und schaue Grace and Frankie auf Netflix. Von der Stadt sehe ich nichts. Ich bleibe den ganzen Tag im Laufhaus, weil ich keinen Kunden verpassen will.

An der Wand hängt eingerahmt ein Zertifikat von einer Sex-Website: “Getestet und für geil befunden”.

Irgendwann gebe ich auf. So hatte sich die Göttin meine Reise wohl nicht vorgestellt. Ich weiß, dass mich in der Schweiz niemand will, und suche Stellenanzeigen bei deutschen Puffs in der Nähe der Grenze. Die deutschen Papiere – Hurenpass und Steuernummer – habe ich ja.

Ich ziehe um – in ein familiär geführtes Mini-Bordell. Es ist ein kleines Häuschen im Industriegebiet einer Kleinstadt in Baden-Württemberg. Eine Wohnküche, große Kellerräume, ein dreckiges Bad. An der Wand hängt eingerahmt ein Zertifikat von einer Sex-Website: “Getestet und für geil befunden”. Die Zimmer sind kitschig und schäbig: grell angestrichen, verspiegelt oder mit Tiermustern geschmückt.

Die Arbeitenden tragen Pyjamas und lächeln mich richtig lieb an. Ich lächle zurück und suche mir einen Platz auf dem Sofa. Ein hässlicher, kleiner Hund will sich auf den staubigen Couchtisch setzen, aber ich schubse ihn runter. Der Chef heißt Detlef und weist mich zurecht, denn der Hund ist sein Ein und Alles.

Der Kunde sucht aus, man bespricht den Service und nimmt das Geld. Die Hälfte davon geht an Detlef.

Wenn ein Kunde kommt, begrüßt Detlef ihn höchstpersönlich. Er macht immer den gleichen Boomer-Witz an der Tür. “Ich bin der Detlef und ich bin hier die Hausdame!” Dann bringt er den Kunden hoch und ruft uns, ebenfalls mit den immer gleichen Worten: “Ladys, Showtime!” Diese Worte und sein gönnerhafter Tonfall dazu sind sicher Teil der Playlist, die in der Hölle abgespielt wird.

Ich ziehe meinen Schlafanzug aus, darunter habe ich Puff-Unterwäsche. Jede*r geht einzeln in das Zimmer, in dem der Kunde wartet, gibt die Hand und sagt den Künstlernamen. Der Kunde sucht aus, man bespricht den Service und nimmt das Geld. Die Hälfte davon geht an Detlef. Das ist so üblich in deutschen Bordellen.

Ich schleiche mich vor allen anderen ins Mädchenbad, um meine Bartstoppeln zu rasieren.

Detlef ist eine Katastrophe. Er lästert über “Kampflesben”, erklärt mir, dass Geflüchtete die Rente von alten deutschen Omas aufbrauchen. Er will sich mit mir verbrüdern, weil er endlich eine Weiße, blonde, deutsche Prostituierte in seinem beklemmenden Häuschen sitzen hat. Außer mir haben alle lange schwarze Haare. Es passiert mir oft, dass Weiße Deutsche in der Branche denken: gleiche Hautfarbe, gleiches Mindset. Aber nicht mit mir.

Immerhin kommt Kundschaft. Ich falle auf und kriege viele Kunden ab. Die Preise sind fast wie in Berlin. Abends schlafen wir alle in den Arbeitszimmern, manche zu zweit, ich bekomme eins alleine. Ich bin hart im Nehmen und die Spermaflecken auf dem Bettlaken halten mich nicht wach.

Morgens muss ich das Zimmer räumen, damit wir weiter darin bumsen können. Ich schleiche mich vor allen anderen ins Mädchenbad, das keine verschließbare Tür hat, um meine Bartstoppeln zu rasieren. Ich will auf keinen Fall ausgegrenzt werden.

Detlef guckt, ob ich nach dem Sex die Kissen in der richtigen Reihenfolge angeordnet habe. Er befragt meine Kunden, ob es ihnen mit mir gefallen hat. Er weist mich an, wie oft ich mich waschen soll. Er verbietet uns Arbeitenden, seine schicke Kaffeemaschine zu benutzen.

Ich gammle trotzdem. Ich wasche mich zwar untenrum, aber die Spermareste auf meinem Körper lasse ich dran. Ist mir doch scheißegal, ob der nächste geizige Freier sie mir von den Brüsten zuzeln wird. Ich dusche mich auch nicht mehr, sondern versprühe einfach Deo und Trockenshampoo. Ich schlappe von Schwanz zu Schwanz und schaue nur von Grace and Frankie hoch, wenn ich mit den Mädels Witze über die Kunden mache. Ich bin kein geldgeiler Gott des Überflusses, ich bin einfach ein müder Clown.

Ich will sie fragen, wie es für sie ist, für einen so ekelhaften Chef zu ackern, aber meine Sprachkenntnisse sind zu schlecht.

Wir Prostituierten sind den kollektiven Lebensstil ohne Privatsphäre auf engstem Raum gewohnt und gehen rücksichtsvoll miteinander um. Aber natürlich gibt es Diskriminierung. An meinem dritten Tag in der Kleinfamilie beugt sich Lola zu mir rüber und raunt: “Amira und Alessandra haben geklaut. Sie sind Romnja. Die klauen immer.” Sie sagt nicht Romnja, sondern verwendet ein Schimpfwort. Ich frage, was geklaut wurde.

“Der Schlüssel zu meinem Schrank!”, sagt Lola.
“Und was war da drin?”
“Nichts.”
“Also wurde nichts geklaut?”
“Doch! Mein Schlüssel.” Ich glaube ihr nicht, doch das ist Lola egal.

Zu mir sind alle nett. Im Raucherraum können wir reden, ohne dass Detlef mithört. Sie zeigen mir Fotos von ihren Kindern und Partnern in Rumänien, Bulgarien und Polen. Ich bin queer und Single und kann ihnen nichts zeigen. Eine Kollegin bringt mir Rumänisch bei. Eine andere Kollegin erzählt, dass sie schon seit ein paar Monaten hier wohnt. Ich will sie fragen, wie es für sie ist, für einen so ekelhaften Chef zu ackern, aber meine Sprachkenntnisse sind zu schlecht.

Die Staubschicht auf dem Couchtisch ist sehr dick, als ich beschließe, dass die Mission Wanderhure gescheitert ist. Ich will wieder zu Julie nach Berlin. Ich habe gelernt, dass Geld zu verdienen überall gleich hart ist. Ich habe auch gelernt, dass das mit dem Koffer voller Snacks eine gute Idee war.

In meiner letzten Nacht geistere ich durchs Haus und sehe ich mich gründlich um, ob es nicht ein paar wertvolle oder nützliche Dinge gibt, die ich Detlef noch abzocken könnte. Ich finde nichts. Damals war noch nicht abzusehen, dass Klopapier und Desinfektionsmittel einmal sehr viel Wert sein werden.

Über sein Leben schreibt Christian auch in seiner autobiografisch inspirierten Novelle “Fleisch mit weißer Soße”. Und auf Twitter.

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