Foto: Wikimedia Commons | Onenna59 | CC BY-SA 4.0
Die Journalistin Nadine Wojcik recherchierte mehrere Monate lang in Polen zu Exorzismus, sprach mit Priestern, “Besessenen” und Psychologen. Denn dort dürfen mittlerweile offiziell 130 Exorzisten den Gläubigen den Teufel austreiben. Besonders junge Frauen sind betroffen. Die vollständige Reportage Wo der Teufel wohnt ist als Buch und E-Book beim Verlag mikrotext erschienen.
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Als Agnieszka an die Reihe kommt, ist sie bereits zerstört. Wartend hatte sie sich auf die Bank in der Ecke des Flures verkrochen, den Kopf auf die Unterarme abgestützt. Nun bleibt sie an der Türschwelle des Exorzistenzimmers stehen, geht zaghaft zwei Schritte zurück, als ob ihre Füße bestimmen, wo es lang geht. Hält der Teufel sie zurück? Oder die quälende Erfahrung? Agnieszka ist 15 Jahre alt, als ihr ein dummer Spruch rausrutscht. In der Pause steht sie mit Freunden und dem Religionslehrer, einem Pfarrer, auf dem Gang. “Ich hasse sie”, sagt Agnieszka plötzlich, als eine Nonne in schwarzer Tracht, die ebenfalls Religion unterrichtet, vorbeirauscht. Das war’s. Mehr nicht. Zur Erinnerung: Agnieszka ist ein Teenager. Sie steht mit Freunden im Schulflur. Mit 15 sagt man so manches, um Jungs zu gefallen, um als mutig zu gelten, als provozierend, witzig, als respektlos gegenüber Erwachsenen.
Doch die Nonne ist offenbar mehr als nur eine Erwachsene. Demnach deuten die Geistlichen: Agnieszka steht unter satanischem Einfluss. Das himmlische Duo Pfarrer und Nonne nimmt das Mädchen mit zum monatlichen Befreiungsgebet in die nächstgrößere Stadt. Der Gottesdienst dauert mehrere Stunden, die Luft ist stickig. Agnieszka verhält sich unauffällig: bei der Eucharistie, bei der Segnung, beim Gebet. Anschließend wird sie in die Sakristei geführt. Als ein Exorzist erscheint, fällt sie in Ohnmacht—nach einem mehrstündigen Gottesdienst in einer vollgepackten Kirche. Es ist entschieden: Agnieszka muss fortan exorziert werden. “Ich habe lange überlegt, ob ich lieber zum Psychologen gehen sollte. Doch Exorzist Kowalczyk meinte, die würden mich nur mit Pillen vollstopfen, was unter Umständen sogar tödlich sein könnte”, erzählt die junge Frau.
Regisseur Konrad Szołajski traf Agnieszka 2012. Die filmisch begleiteten Szenen und Interviews des Dokumentarfilms Walka z Szatanem ( Kampf mit dem Satan, 2015, ZK Studio) sind ein wichtiger Rechercheeinstieg für mich. Denn auch wenn Fälle wie dieser vermutlich tagtäglich passieren: In polnischen Medien suchte man bislang vergeblich nach Berichten, die alle Beteiligten zu Wort kommen lassen—Betroffene, deren Familien, Exorzisten, Psychologen und Religionswissenschaftler.
“Hätte mir ein Bischof nicht noch was geschuldet, der Film wäre nie zustande gekommen”, erzählt mir Konrad Szołajski, der bereits 2011 mit dem Dokumentarfilm Und Gott schuf den Sex aneckte. Wir sitzen in seiner großzügigen Wohnküche im Süden von Warschau. Es ist Januar, der Startpunkt meiner Recherche. Eine Stunde lang fahre ich vom Stadtzentrum im überheizten Dorfbus hierher, der mich an der Endstation in eine idyllische Winterlandschaft entlässt. Mit Absatzstiefeln, die ich gerne gegen Langlaufskier eingetauscht hätte, stapfe ich einige Kilometer durch Wald und Schnee, vorbei an alten Datschen und mit Überwachungskameras abgesicherten Villen.
Das Tor von Konrad Szołajskis einfachem Gartenzaun klemmt, was mir angesichts der recht gehobenen Gegend irgendwie sympathisch ist. Gestresst kommt der 60-jährige, schlanke Regisseur mit silbergrauen, kurzen Haaren zur Pforte gelaufen, über Headset telefoniert er mit seinem Kamerateam. Ein weiterer Film stehe an, Szołajski begleite die neue demokratische Bewegung KOD (Komitet Obrony Demokracji, Komitee zur Verteidigung der Demokratie) und morgen wolle er in Straßburg deren Proteste vor dem EU-Parlament drehen. “Etwas stressig gerade. Aber kein Vergleich zum Exorzisten-Dreh.” Von 2012 bis 2015 habe er für Kampf mit dem Satan recherchiert, 200 Stunden Material gedreht, was ungefähr acht Tagen nonstop Fernsehgucken entspricht.
Das 75-minütige Endprodukt zeigt drei junge Frauen, die stark mit Ängsten, Zwangsvorstellungen und Kontrollverlusten zu kämpfen haben. “Die schlimmsten Szenen haben wir noch nicht einmal verwendet, sei es aus Respekt gegenüber den Frauen, oder weil der Sender sie als unsendbar einstufte”, sagt Szołajski und bietet mir den in Polen obligatorischen schwarzen Tee mit Zitrone an.
Möglich war das Projekt nur, weil Szołajskis Drehanfrage direkt vom Bischof unterstützt wurde, für Katholiken nach Gott, dem Papst und Kardinälen die nächsthöchste Autorität. Nur so bekam er mit seinem Kamerateam Zugang zu den Exorzismen, was nicht bedeutete, dass er nicht weiterhin ständig mit Absagen, schleppenden Drehgenehmigungen und Zensur zu kämpfen hatte.
Unterstützt wurde Szołajski vom polnischen Ableger des Privatsenders HBO. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen hatte dankend abgelehnt, Exorzismen würde man im Leben nicht senden. Die Szenen sind in der Tat heftig, darunter der Exorzismus von Agnieszka. Als das Mädchen in roter Jeans und grünem Longshirt den Raum betritt, warten ein recht alter, dürrer Pfarrer mit schütterem Haar und zwei kräftige Männer auf sie. Der Exorzist hält ein ausgespültes Marmeladenglas in der Hand, darauf klebt ein Papierzettel mit dem Schriftzug “Exorzistisches Wasser”. Der Geistliche taucht seine Finger ein und besprenkelt Agnieszka. Das Mädchen windet sich, bäumt sich auf. Die beiden kräftigen Männer sind gleich zur Stelle, halten sie fest, worauf Agnieszka sich noch stärker wehrt und in tiefem Bass-Ton schnaubt. Die Männer zwingen sie, sich auf den Rücken zu legen—so haben sie das Mädchen offensichtlich besser unter Kontrolle. Agnieszkas Schnauben geht in ein Schreien über, sie wirft ihren Kopf von links nach rechts, die Haare fliegen um ihren Kopf. Auf dem Weg zum Boden reißt sie einen Stuhl mit. Schnitt.
In der nächsten Szene liegt Agnieszka bereits auf dem Boden. Sie schreit, sie wehrt sich, schlägt um sich, hustet, spuckt. Zu den zwei Helfern sind jetzt noch drei weitere Pfarrer hinzugekommen, insgesamt sind es jetzt mit dem Exorzisten vier Geistliche. Einer hält ihren Oberkörper fest, ein weiterer ihre Arme, ein dritter die Oberschenkel. Sobald das Wort “Jesus” fällt, rastet das Mädchen aus. Die Männer ringen mit dem Teenager, der stellenweise mit unglaublichen Kräften auszubrechen versucht. Der Exorzist steht neben dem Knäuel, schaut darauf hinab und spritzt Weihwasser. Ein weiterer Pfarrer, Schweißperlen auf der Stirn, presst Agnieszka ununterbrochen das handgroße Kruzifix auf die Lippen. “NEIN!” schreit Agnieszka, doch von diesem Einwand lässt sich keiner hier beirren. Immer und immer wieder wird ihr das Kreuz auf den Mund gedrückt, wird sie zum Trinken von Weihwasser gezwungen, wird ihr das Kreuzzeichen mit dem Daumen ins Gesicht gezeichnet, wird ihr ein Jesusbild auf den Brustkorb oder die lilafarbene Stola des Pfarrers auf den Kopf gelegt. Agnieszka hält die sechs Männer ziemlich beschäftigt. Der Kampf ist immens, irgendwann ist ihre Energie aufgebraucht, sie bleibt erschöpft liegen, das Ritual wird beendet. Anschließend verabschiedet sich einer der Pfarrer fast beiläufig im Flur von ihr, umarmt Agnieszka, “Grüß schön zu Hause”, sagt er beiläufig.