So sieht das Istanbuler Nachtleben derzeit aus: Es wird demonstriert und gefeiert. Foto: Mike Norton (CC BY 2.0)
Es war Freitag, der 15. Juli, kurz nach zehn Uhr abends. Istanbul war gerade dabei, den Lichtern des Nachtlebens anheim zu fallen, Autos schoben sich träge gedrängt durch die riesige Metropole und der Bosporus-Duft kletterte wie immer durch die engen Straßen und Gassen die Hügel von Beyoğlu und Beşiktaş hinauf. Plötzlich donnerten Kampfjets im Tiefflug über die Häuser hinweg und Panzer rollten auf die großen Brücken zwischen den Kontinenten. Ein Putschversuch begann. Eine Woche später, ist er längst nieder geschlagen, Hunderte verloren ihr Leben, eine unglaubliche Zahl von Tausenden wurden verhaftet oder suspendiert, das Land befindet sich im Ausnahmezustand. An Ausgehen ist da nicht zu denken, oder?
“Ich fühle mich taub, verwirrt; mache mir Sorgen. Freitag war unheimlich”, schreibt die in Istanbul lebende Produzentin und DJ biblo (sic) via E-mail. Und dennoch: “Ich will raus. Vielleicht nicht irgendwo zentral, um ‘vorsichtig’ zu sein, aber ich spüre, dass ich unter Leute muss, um mit allem klarzukommen.” Am meisten hätte sie der Hall der Schusswaffen und das Donnern der Militärflugzeuge beunruhigt, später verbrachte sie die Tage damit, die Nachrichten zu verfolgen. Nun blickt sie auf ein vergleichsweise ruhiges potenzielles Ausgehprogramm: In der minimüzikhol, einem bekannteren, aber nicht sonderlich großen Disco-Club, wo am Putschfreitag noch Barış K auflegte, ist dieses Wochenende keine Nacht gebucht. Sie selbst hat auch keinen Auftritt. Innervisions Chef Dixon spielt heute, Freitagnacht, im Suma Beach. Ansonsten gilt, was in jedem Jahr zu dieser Zeit gilt: Es ist Sommer, das Leben fließt zäh.
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“Von einem Ausnahmezustand gibt es in Istanbul keine bis kaum eine Spur. Die Istanbuler leben ihr Leben weiter, als wäre nie etwas gewesen”, schreibt der Journalist Fatih Demireli in einem aktuellen Vor-Ort-Bericht. Auch die Istanbuler Clubs und Konzerthäuser der Kulturplattform Babylon haben gerade Sommerpause. Dafür ist derzeit das Babylon im Urlauber-Badeort Çesme geöffnet. “Gerade in den letzten Jahren haben die Türken eine Art Anpassungsreflex gegenüber allem entwickelt”, schreibt Cem Yegül ebenfalls per Mail. Er ist Geschäftsführer von Pozitif, einem großen türkischen Veranstaltungs- und Marketingnetzwerk, zudem auch Babylon gehört. Bei ihm herrscht und herrschte geordneter Betrieb: “Die Leute haben unsere Sommer-Locations in den letzten Tagen als ‘Orte des Verschnaufens’ beschrieben.”
Die DJ Ece Özel hat mit diesem Mix für Ransom Note die Stimmung der Istanbuler Szene eingefangen.
“Viele sehen Kultur-, Kunst- und Unterhaltungsorganisation wie die unsrige als wichtiges Element, wenn es darum geht, sich in schwierigen Zeiten der Instabilität zu erwehren”, meint Yegül. Absagen und Verlegungen hätten in den letzten Jahren zwar eine gewisse Routine bekommen, aber: “Die Musik und Kunst und vor allem das Gemeinschaftsgefühl, das diese vermitteln, sollen nicht abreißen.” Ob in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten noch weitere Maßnahmen und Gesetzesverschärfungen von der türkischen Regierung erlassen werden, und wie diese dann das Geschäft beeinflussen könnten, sei derzeit noch nicht abzuschätzen. “Wir erwarten aber, dass im September die Schulen wieder öffnen und die Menschen in die Stadt zurückkehren werden. Und mit ihnen das normale Leben.”
In Istanbul bereiten derweil Yegüls Mitarbeiter die saisonale Wiederöffnung des Babylon Bomontiada für den September vor. Die ehemalige Bierfabrik, knapp zehn Minuten vom zentralen Taksim-Platz entfernt, ist heute ein Kultur- und Nachbarschaftscampus, den die Organisation im letzten Jahr bezogen hat. Baba Zula und Chinawoman traten hier im letzten Herbst etwa auf. Auch biblo hat schon einmal in einem Babylon-Haus aufgelegt. Und der Taksim genießt für sie eine besondere Bedeutung: Die bis dato zwischen Berlin und Istanbul hin und her ziehende Künstlerin erlebte vor drei Jahren die großen Proteste auf dem Platz und im benachbarten Gezi Park mit. Mit massivem Polizeieinsatz, Gummigeschossen, Tränengas und Wasserwerfern wurden das damalige Aufbegehren über Tage hinweg brutal niedergeschlagen. VICE schrieb von der Geburt des “neuen türkischen Polizeistaats“.
biblo blieb damals in der Stadt und veröffentlichte 2014 ihr Album Absence über die Proteste und die politische Stimmung danach. “Für mich—und für viele Leute, die ich kenne—war Gezi eine lebensverändernde Erfahrung”, schreibt sie. “Dieses Moment hat uns wieder mit der Stadt verbunden, miteinander und, ja, auch mit der Politik.” Eine Blase sei damals geplatzt und viele Leute hätten erstmals gesehen, dass Solidarität wirklich existiert. Die Niederlage der Proteste bestärkte die Produzentin in ihrer Ansicht, dass “politisch aktiv und interessiert und eingebunden zu sein, die einzige Hoffnung auf eine bessere Welt darstellt. Und das ist nicht einfach.”
Auf ihrem Album Absence reflektierte biblo die Zeit der Gezi-Proteste.
Damals wollten Erdoğan und die AKP-Regierung die Demonstranten vom Taksim und aus dem Park vertrieben sehen. Seit Freitag bildet sich jeden Abend an der selben Stelle eine große Menschenmenge, die die Rettung der Republik und ihres Präsidenten vor dem Putsch feiert. Auf Fotos sind überall türkische Flaggen zu sehen, ebenso wie Todesdrohungen gegen vermeintliche und echte Putschisten. biblo betont aber, dass es eine sehr heterogene Gruppe von Menschen sei, die sich da versammle: “Dort gibt es Hardcore-Nationalisten, Anhänger der (nationalistischen) MHP, Menschen mit Rechtsaußen-Ideologien, aber auch Frauen, Kinder, Leute mit ihren Familien usw. Es handelt sich um eine ‘nationale Feier’ eines ‘Sieges der Demokratie’, mit dem der Sieg über den Putschversuch gemeint ist.” Das Nachtleben sei also alles andere als zum Erliegen gekommen, es findet dort nun eben noch mehr auf der Straße statt.
Noch am gestrigen Abend war sie auf der asiatischen Seite im Stadtteil Kadıköy unterwegs, der, im Zuge der fortschreitenden, das ursprüngliche Nachtleben verdrängenden Gentrifizierung von Beyoğlu drüben in Europa, gerade erblüht. Hier mussten Barbesitzer in den Tagen nach Freitag einzelne Gruppe strengreligiöser Männer zurückdrängen, die Biertrinkende angriffen. Noch ein paar Tage später sei für biblo davon nichts mehr zu spüren: “Alle Bars und Biergärten waren voll wie eh und je. Es gab keinerlei Anzeichen von Verängstigung.”
Weder biblo noch Cem Yegül leugnen dabei, dass es solche gewalttätigen, nun wortwörtlich “aufgeputschten” Gruppen gibt, und dass ihre Zahl auch nicht klein ist. Dennoch bleibt der gemeinsame Tenor: Das ist kein Phänomen der letzten Woche, sondern der letzten Jahre.
Es wird Abend im Stadtteil Kadıköy auf der asiatischen Seite Istanbuls. Foto: Marcus Andersson (CC BY 2.0)
Die Feiern werden wohl noch weitergehen. Es ist Sommer. Die Leute haben Zeit und das Nachtleben in dieser Phase ohnehin ruhig—unabhängig von der aktuelle Lage. Als “traurige Realität” bezeichnet es die Produzentin und DJ. Yegül wiederum befindet: “Spannungen und Vorfälle dieser Art gehören in der Türkei zum Alltag. Das ist eine multikulturelle Dynamik.” Das Miteinander sei damals wie heute der Schlüssel zu einer Lösung.
Fragt man biblo, dann werden viele Musiker allerdings die Türkei hinter sich lassen. Zu vage ist die wirtschaftliche Lage, wenn es um Auftritte geht, zu unsicher die eigene Sicherheit in Zeiten radikal beschnittener Meinungsfreiheit und grassierender Zensur. Sie selbst schrieb, zwei Tage vor dem Putschversuch, auf Facebook: “life won’t let me finish any song ever these days- so be it. demo-ing them away.” (sic) Darauf angesprochen, erwidert sie:
“Es ist einfach erstaunlich, wie sich Prioritäten in diesen Zeiten der Aufruhr verschieben können. Seit Gezi habe ich erlebt und beobachtet, wie sehr politisch das Persönliche tatsächlich ist. Wenn die Unruhen teil deines Alltags werden und du einmal aus deiner Komfortzone herausgezogen wurdest, da bemerkst du, wie lebendig der Widerstand ist, und dass es auch mehr als nur eine Art des Aufbegehrens gibt. Widerstand ist kein professioneller Teilzeitjob, den du nur zu bestimmten Gelegenheiten ausübst. Du musst ihn zu einem Teil deines Lebens machen.”
Musik sei nichts Steriles, Abstraktes, Individuelles und Heiliges. Im Gegenteil. “Sie ist ein politisches Medium, ob du das nun akzeptierst oder nicht und ob du sie nun auch so benutzen willst—oder nicht.” Während Istanbul also wieder einer (von außen) ebenso befremdlichen wie doch verständlichen Normalität zurückkehrt, Rakı genossen wird und in Clubs Longdrinks ausgeschüttet werden, die aufgrund der prohibitiven Steuerpolitik genauso irrsinnig teuer sind, wie ein normales Bier, findet auch die Kulturszene ihren Umgang mit den Entwicklungen.
Dieser Artikel ist zuerst auf THUMP erschienen.
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Thomas ist auf Twitter: @tvorreyer