Hinweis: Dieser Text erwähnt Suizid.
Amanda ist müde an diesem Dezembertag. Sie sitzt auf einem Stuhl, ihre Hände liegen zusammengefaltet auf dem Schoß, den Kopf hält sie meist etwas geneigt. Mit ihrem Mann Tim besucht sie die Neurologin Livia Granata in deren Zürcher Praxis für Schmerztherapie.
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Die zierliche Frau wirkt etwas abwesend und niedergeschlagen, sie blickt sich verunsichert um. Noch vor einem Jahr wäre sie wohl gar nicht aufgetaucht, hätte den Termin abgesagt oder einfach verstreichen lassen. Zu viele Behandlungen, zu viele Hoffnungen in neue Therapien und Entzugsversuche hatte sie zu dem Zeitpunkt schon hinter sich. Ihre Angststörung hatte sie durch die Coronapandemie noch fester im Griff. Doch im April 2022 fand sie den Weg in diese Klinik – und damit zu einer Therapie, die ihr seit Jahren zum ersten Mal hilft.
Amanda ist 50 Jahre alt, seit 20 Jahren alkoholabhängig. Sie leidet unter zwanghaften Ängsten und immer wiederkehrenden Depressionen. Da sie und Tim sich um ihre Privatsphäre sorgen, nennen wir nur ihre Vornamen. Seit etwa sieben Jahren lebt sie nicht mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern im Haus, sondern auf dem Balkon – eine Folge ihrer Ängste und der etlichen Klinikaufenthalte, die ihr nicht geholfen haben.
Doch eine neue Therapie bringt etwas Hoffnung: Seit einem Jahr bekommt sie Psilocybin, den Wirkstoff von Magic Mushrooms, also psychoaktiven Pilzen. Die Schweiz ist das einzige Land, das bereits seit den 1990er Jahren wieder an Psychedelika forscht. Seit 2014 wurden mehrere Studien durchgeführt und seit 2019 ist es dort möglich, bei bestimmten psychischen Erkrankungen Patientinnen und Patienten mit Psychedelika zu behandeln. Livia Granata darf das seit einem Jahr und hat in dieser Zeit 20 Menschen mit Psilocybin behandelt.
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Die meisten kommen mit chronischen Schmerzen in ihre Praxis, sagt Granata: Migräne, Cluster-Kopfschmerzen, Phantomschmerzen. Warum Psychedelika dagegen helfen? Man wisse es nicht genau, noch sei der Wirkmechanismus von Psychedelika nicht genug erforscht. Studien zeigen allerdings, dass Psychedelika die Plastizität des menschlichen Gehirns verbessern können. Sie können also dabei helfen, neue Verbindungen zwischen den Nervenzellen zu bilden oder bestehende Verbindungen neu zu organisieren.
Wie alle Patientinnen und Patienten, die für eine Therapie mit Psychedelika infrage kommen, hat auch Amanda davor jede andere klassische Therapie durchlaufen. Ohne Erfolg. In der Klinik erzählt sie davon.
Alkohol als Selbstmedikation
Sie wächst in England auf und erleidet in ihrer Kindheit Traumata. Ins Detail möchte sie nicht gehen, aber sie erzählt, dass sie in einem Elternhaus aufwächst, in dem ihr Verhalten regelmäßig hart bestraft wird. Daraus entwickelt sie Ängste vor bestimmten Situationen, die sie zwanghaft vermeidet. Später kommen wiederkehrende Depressionen hinzu.
Als junge Erwachsene kann sie ihre psychischen Leiden noch verdrängen: Sie beginnt ein Psychologiestudium an der University of Exeter und lernt Tim kennen – einen Ingenieurstudenten. Trotz Amandas Ängsten und Zwängen reisen die beiden, sie gehen auf Partys und treffen Freunde. Sie bekommen schließlich zwei Kinder, eine Tochter und einen Sohn, und ziehen 2003 für einen Job nach Zürich. Dort leben sie bis heute.
In dieser Zeit werden die Herausforderungen größer, die Ängste nehmen zu. Amanda beginnt zu trinken, um überhaupt funktionieren zu können. Der Alkohol entspannt sie, kann die Wogen ihrer Ängste etwas glätten. Sie trinkt zu diesem Zeitpunkt nur abends, doch schon damals viel zu viel, wie sie sagt. Im Laufe der Jahre sollte sie fast täglich drei Liter Wein trinken.
Die Kinder sind noch klein. Amanda will nicht in eine Entzugsklinik und über mehrere Monate getrennt von ihnen sein, deshalb versucht sie es ohne Therapie. Doch sie scheitert immer wieder. 2007 geht sie doch zum ersten Mal in eine Klinik. Auf diesen Aufenthalt folgen in den kommenden 15 Jahren noch 17 weitere. Manche dauern wenige Wochen, einige mehrere Monate. Keiner dieser Klinikaufenthalte verbessert Amandas Zustand. Immer wird sie rückfällig, die Depressionen werden schlimmer, die Medikamente helfen kaum.
Es sei schwer, eine Therapie zu finden, die tatsächlich hilft, sagt Amanda. Sie habe in den Psychiatrien schreckliche Erfahrungen gemacht. Am schlechtesten sei es ihr in Kliniken ergangen, die nicht nur Menschen mit Alkoholabhängigkeit betreuten, sondern Menschen mit unterschiedlichsten psychischen Erkrankungen – Demenzkranke, Menschen im Drogenentzug oder mit Schizophrenie. In den Kliniken habe sie sich eingesperrt und fremdbestimmt gefühlt, obwohl sie jederzeit hätte gehen können.
Doch ihre Depressionen und Ängste nehmen immer weiter zu, ihre Traumata kann sie dort nicht verarbeiten. Sie wird immer wieder versuchen, Suizid zu begehen – zwölfmal insgesamt. Auf die Versuche folgen Zwangseinweisungen. Doch ihr psychischer Zustand verbessert sich nicht.
Amanda zieht auf den Balkon
Die Erfahrungen in den Kliniken prägen Amanda, so erzählt sie weiter. Sie kann nicht mehr zusammen mit ihrem Mann und ihren Kindern im Haus leben – zu eng, zu bedrängend, zu sehr erinnert es sie an das Gefühl, eingesperrt zu sein. Im Sommer wie im Winter lebt sie deshalb auf dem Balkon. Tim und ihr Sohn haben Amanda dort eine Kabine gebaut, um sie vor den schwersten Witterungen zu schützen. Seit sieben Jahren kommt sie nur in das Haus, um die Toilette zu benutzen.
Mit der Coronapandemie verschlechtert sich ihr Zustand. Sie verlässt den Balkon überhaupt nicht mehr, ihre Ängste werden stärker, denn sie sind mit Sauberkeit und Hygiene verknüpft. Ihr letzter Klinikaufenthalt im Sommer 2021 macht ihr klar: Sie will nie mehr in die Psychiatrie zurück. Sie sagt zu Tim, dass sie das nicht noch einmal aushalten kann. Tim versteht das: Immer wieder habe er zugesehen, wie Amanda eingewiesen wurde und ihr doch keiner helfen konnte, sagt er heute. Er habe den Ärztinnen und Ärzten vertraut und sei stets optimistisch gewesen, dass der nächste Aufenthalt etwas ändern würde. Doch nach 18 Klinikaufenthalten glaube er jetzt nicht mehr daran, dass die Ärztinnen und Ärzte bereits alles wissen: “Vielleicht gibt es doch noch sehr viel mehr darüber zu lernen, wie unsere Psyche tatsächlich funktioniert.”
Amanda geht nicht mehr zurück in eine Klinik. Stattdessen erfährt sie über eine TV-Dokumentation von einer Studie in der Schweiz, in der alkoholabhängige Menschen mit Psychedelika behandelt werden. Sie meldet sich bei der Studie und wird an Livia Granata weitergeleitet.
Als Amanda und Tim im April 2022 zum ersten Mal das von Livia Granata geleitete Schmerzzentrum betreten, hätten sie gezweifelt, sagen beide: Würde eine Therapie mit Psychedelika tatsächlich etwas verändern? Sie versuchen es.
Eine neue Therapie: Der erste Versuch scheitert
Zuerst erhält Amanda intravenöse Ketamin-Infusionen. Ketamin ist ein Narkosemittel, das in der Notfallmedizin verwendet wird. Seit mehreren Jahren wird aber auch die antidepressive Wirkung von Ketamin erforscht. Amanda bekommt an vier aufeinanderfolgenden Tagen Infusionen.
Sie sagt, sie sei weggetreten, habe halluziniert, Angst bekommen und nach ihrem Mann gerufen. Auch nach der Session habe sich kaum etwas an ihrem psychischen Zustand geändert.
Daraufhin bekommt Amanda Psilocybin – ein Wirkstoff aus Pilzen, sogenannten Magic Mushrooms. An vier aufeinanderfolgenden Tagen erhält Amanda im Schmerzzentrum eine Dosis von 30 bis 40 Mikrogramm Psilocybin. Dann bleibt sie mindestens acht Stunden dort, bis der Rausch vorbei ist. Währenddessen betreuen sie Livia Granata und ihr Team. Amanda kann Musik hören, sich auf Liegen oder den Teppich legen, eine Maske über die Augen ziehen, Mandalas malen oder sich einfach nur dem Gefühl hingeben.
Viele Patientinnen und Patienten weinen während der Behandlung, sagt Aisha Savdi, eine Arzthelferin im Team. Einige wollen gerne in den Arm genommen werden, viele wünschen aber auch, alleine zu bleiben. Denn in den Sessions kommt oft Vergangenes und Verdrängtes hoch. Viele berichten davon, dass sie auf ihr Leben wie eine außenstehende Person blicken. Dinge werden klarer, Perspektiven verändern sich.
Amanda sagt, sie habe die rauschhafte Wirkung schwächer empfunden als beim Ketamin. Die Lichter seien leicht verschwommen, aber vor allem habe sie sich gut gefühlt. Entspannt, keine Ängste mehr. Tim sagt, er habe Schwierigkeiten gehabt, sie ins Auto zu bekommen. Sie sagt, sie habe die Lichter beobachten wollen, gelacht wie ein Kind.
Das erste Mal seit Monaten habe sich ihre schwere Depression, ihre Angststörungen, die Abhängigkeit etwas zurückgezogen, die Last sei etwas leichter geworden. Auch nach der Session sei ihre Stimmung besser geblieben. Sie habe sich Videos über Traumatherapie ansehen und dafür anders öffnen können, sagt sie. Normalerweise sei schon das Schauen solcher Videos retraumatisierend für sie.
Und noch etwas sei anders als bei allen anderen Therapien zuvor: Der Drang nach Alkohol sei weg. Seit ihrer Behandlung im April 2022 sei sie abstinent – die längste Zeit ohne Alkohol seit 20 Jahren. Im September letzten Jahres sind Tim und sie das erste Mal seit Jahren in den Urlaub gefahren. Wie früher nach Griechenland – auf die gleiche Insel, in das gleiche Hotel.
Amandas Probleme sind durch die Behandlung mit Psilocybin nicht verschwunden: Ihre Depression und Angststörung existieren weiterhin, wenn auch in abgeschwächter Form. Sie lebt immer noch auf dem Balkon. Doch inzwischen kann sie das Haus öfter verlassen, manchmal zum Friseur gehen oder sich mit einer Bekannten auf einen Kaffee treffen. Sie trinkt nicht, doch das bedeutet auch, dass viele Dinge präsenter sind, die sie sonst durch Alkohol verdrängen konnte.
Sie ist auf der Suche nach Therapeutinnen oder Therapeuten, die sowohl auf Psychedelika, Depression, Angststörung und Abhängigkeit spezialisiert sind. Einige Monate nach der ersten Session verschlechterte sich Amandas Stimmung, deshalb hat sie im September 2022 eine Auffrischungsdosis Psilocybin erhalten.
Auch an diesem Dezembertag wirkt Amanda weniger hoffnungsvoll als zu Beginn der Therapie. Doch nach unserem Gespräch wird sie erneut eine Auffrischungsdosis erhalten. Die Therapie mit Psilocybin können Livia Granata und sie noch bis April 2023 fortführen – solange gilt ihre Erlaubnis.
Tim hofft weiter: Er sagt, dass diese Therapie bisher die größten Veränderungen gebracht habe. Amanda wirke klarer im Kopf, präsenter zu Hause und mit den Kindern. Es sei noch ein weiter Weg, Psilocybin kein Allheilmittel und das Wort Hoffnung angesichts der vielen Therapieversuche nur vorsichtig zu gebrauchen. Aber für Amanda und Tim ist es ein Schimmer, der heller zu sein scheint als zuvor.
Du hast ein Alkoholproblem oder machst dir Sorgen um betroffene Freunde und Verwandte? Ob du gefährdet bist, kannst du bei kenn-dein-limit testen. In Deutschland erhältst du Hilfe bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: 0221 89 20 31. In der Schweiz kannst du dich über das Suchtportal informieren. In Österreich findest du Beratung über den Suchthilfekompass.
Du leidest an Depressionen oder einer Angst- oder Panikstörung oder sorgst dich um einen nahestehenden Menschen? Die Nummer der Telefonseelsorge in Deutschland ist 0800 111 0 111. In dieser Liste sind bundesweite Anlaufstellen für Menschen mit Depressionen aufgeführt. In der Schweiz erhältst du in einem akuten Moment der Angst oder Panik Hilfe unter der Nummer 0848 80 11 09. Die Nummer der Telefonseelsorge in der Schweiz ist 143. Die Nummer der Telefonseelsorge in Österreich ist 142. Den Notfallpsychologischen Dienst erreichst du hier unter 0699 18 85 54 00.
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