Seit mehr als einer Stunde spürte ich ihre Blicke, während sie mit ihren Freunden an der Bar Cocktails schlürfte. Als Barkeeper merkt man das, man muss es auch, um den Überblick über die Stimmung zu behalten – und die Betrunkenen. Die Bar passt nicht wirklich in das Münchner Klischee: Gäste tanzen zu Afrobeat und Psychedelic Funk, kippen ihre Espresso-Wodka-Shots und knutschen.
Ich bot der achtköpfigen Gruppe neue Cocktails an. Hätte ich raten müssen, ich hätte gesagt, sie würden in einer Agentur arbeiten: Lässige junge Menschen, keine Studenten mehr, redeten über das Backpacken in Kambodscha oder wie schön man im Ettal wandern kann und sie verwendeten Begriffe wie “Pitchen”, “Onboarding” und “Quality Management”. Sie war der Mittelpunkt der Gruppe. Immer wieder lachte sie laut, griff sich einen Kollegen und kippte Shots weg. Mir war es egal, ob sie ihre schwarzen Locken möglicherweise von einer italienischen Mutter hat oder einem algerischen Vater hat. Ich frage selten nach der Herkunft eines Menschen. Dann sprach sie mich an und fragte: “Woher kommst du?” – “München”, antwortete ich. Meine Antwort befriedigte sie nicht. Ich wusste, sie würde weiter nachfragen. Klar sehe ich anders aus. Meine Hautfarbe ist eher Karamell als Weißbrot. Die Frage war nichts Neues für mich. Ich spürte, dass sie sich wirklich interessierte. Nur, was sie danach sagte, regte mich auf.
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Ich wollte nie Deutscher sein
“Ich meine wirklich. Ich bin halbe Ägypterin und halbe Deutsche. Du?” Meine Freunde behaupten, ich bin der Typ, der sich in einem halbleeren U-Bahn-Waggon extra neben andere Fahrgäste setzt, um mit ihnen reden zu können. Ich unterhalte mich gerne mit Menschen. Aber in der Situation war mir das zu viel. Ich hatte keine Lust, mich mit Fragen zu beschäftigen, auf die ich vor Jahren schon eine Antwort gefunden hatte. Sie ließ nicht locker, wollte mir verklickern, wie toll das als Ägypterin sei, mit ihren vielen Cousinen und Onkeln. Dass sie sich sowohl als Araberin fühle, aber auch als Deutsche. Die Frage nach der Nationalität ist in den meisten Fällen keine gute Einstiegsfrage. Ich dachte, sie sollte das wissen, weil sie sicher ähnliche Erfahrungen gemacht hat wie ich. Ihr wurde die Frage bestimmt oft gestellt. Welche Nationalität ein Mensch hat oder woher er kommt, interessiert mich in den meisten Fällen überhaupt nicht. Mein Gesprächspartner wird es mir sicher irgendwann erzählen, wenn wir uns besser kennen. Ich will deutlich lieber wissen, was sie begeistert oder nachts nicht schlafen lässt.
Auch bei VICE: Undercover mit Migranten
Ich konnte mit Nationalitäten nie etwas anfangen. In der Schulzeit liefen meine Klassenkameraden mit Trikots von Nationalmannschaften herum. Ich habe nie die türkische Flagge auf meiner Brust getragen – oder die Deutsche. Es hätte sich nicht richtig angefühlt. Ich habe früh eine Abneigung gegen Nationalstaaten entwickelt. Ich wurde als Kind gehänselt, weil ich kurdische Wurzeln habe. Sie wollten mich mit schlechten Witzen verletzen: “Warum gewinnen die Kurden nie bei der Fußball-Weltmeisterschaft? Weil es kein Kurdistan gibt.” Kein Land war mein Land.
Es gab Zeiten, da fragte ich mich fast jeden Tag: “Wer bin ich? Wenn ja, wie viele Ali Babas.” Die ständige Auseinandersetzung mit sich selber und der eigenen Identität kann krank machen. Was besonders dann verheerend ist, wenn die Pubertät einen eh schon verwirrt, als hätte man eben erst sein erstes Schamhaar entdeckt, aber noch dazu ist es schwarz und kraus.
Die Umwelt stellt die eigene Identität ständig in Frage, ob man dir nicht lieber einen deutschen Namen geben sollte, weil dein eigener zu kompliziert sei oder, ob du nicht zu deutsch geworden seiest, weil du pünktliche Busse doch ganz gut findest. Ich wollte mich damit nicht mehr beschäftigen, ob ich Türke bin oder Deutscher. Der einfache Schluss wäre gewesen: Ich bin beides.
“Die Bindestrich-Deutschen”
Junge Menschen, die keine ausschließlich deutsche Biografie haben, eignen sich so etwas an. Sie nennen sich Turko-Deutsche, Afro-Deutsche oder Neue Deutsche. Die Begriffe heben sie von den Migranten ab, die sich ausschließlich für ein Land entschieden haben, die mit geschwollener Brust von sich behaupten, sie seien stolze Albaner, Russen oder Afghanen. Beschreibungen wie Italo-Deutscher sind ein Versuch, sich vom plumpen Nationalismus abzugrenzen. Herkunft und Heimat bekommen so den gleichen Wert. Und der Begriff Neue Deutsche stellt klar: Es gibt eine neue Normalität und dazu gehören Biografie-Deutsche genauso wie Deutsche mit Migrationshintergrund.
Mit der Selbstzuschreibung, die sie sich geben, zeigen sie auch, wie gut sie integriert sind. Dass sie eben mehr sind, nicht nur Deutsche, sondern Deutsche mit Scharf. Vorzeige-Migranten, die auf fast rein deutschen Veranstaltungen und in fast ausschließlich weißen Berufsfeldern Diversität vorheucheln sollen. Zum Beispiel Dunja Hayali im Journalismus oder Schauspieler Elyas M’Barek. Nur maximal fünf von hundert Journalisten in Deutschland haben 2016 einen Migrationshintergrund, schätzt eine Studie zu Migranten als Journalisten. Dabei kommt in Deutschland fast jeder Vierte aus einem anderen Land oder hat ausländische Vorfahren. In anderen Bereichen sieht es nicht besser aus: Elyas M’Barek hat sich vehement dagegen gewehrt, dass Medien ihn “Vorzeige-Migrant” nennen. Sibel Kekilli regt sich in einem Text für die aktuelle Ausgabe der Zeit darüber auf, sie bekomme weniger Rollen wegen ihrer Herkunft. Sie schreibt: “Natürlich habe ich meinen Erfolg auch türkischen Rollen zu verdanken. Aber nicht nur. Ich habe fast sieben Jahre Sarah Brandt im Tatort gespielt.” Im Film What am Man spielte sie Nele – eine Deutsche. Das habe eine Journalistin nichtmal erkannt und solle sie gefragt haben, warum sie wieder eine Türkin spiele.
Ich kann es den Bindestrich-Deutschen eigentlich nicht übel nehmen. Die meisten von ihnen haben über Jahre Diskriminierung erlebt. #MeTwo zeigt das gerade. Ich selbst habe ähnliche Geschichten erfahren. Jemand, den die Mehrheitsgesellschaft so lange ausgegrenzt hat oder zumindest nicht voll akzeptiert, der wird sich entweder ganz verweigern oder endlich dazugehören wollen.
Außerdem haben vorherige Generationen diese Art der Identifikation vorgelebt. Es hieß: “Sei ein guter Deutscher, aber vergiss nicht, dass du Türke bist.” Diskussionen darüber, ob manchen deutschen Staatsbürgern ein Doppelpass zusteht, haben dies noch befeuert. Da hieß es: “Entscheidet euch! Was wollt ihr nun sein?”
Sich einen neuen, eigenen Namen zu geben, ist ein emanzipatorischer Akt, ähnlich der People-of-Color-Bewegung (PoC) aus den USA. Sie sieht sich als freiwilliger Zusammenschluss von Menschen mit nichtweißer Hautfarbe und stellt das Menschsein in den Vordergrund. Es löst aber nicht das Rassismusproblem oder ändert nicht die Art, wie Menschen einen sehen.
Die immer gleiche Falle
Durch die Selbstzuschreibungen manövrieren sich Menschen mit Migrationshintergrund wieder in einen Sumpf, aus dem sie eigentlich heraus wollten. Die Identität an eine Nationalität oder in vielen Fällen an eine Religion oder Ethnie zu knüpfen, führt zwangsläufig wieder zu einem Wir und Sie. Erst durch die Abgrenzung wird klar, wer dazugehört und wer nicht. Wenn wir von Arab-Deutschen sprechen, dann sind Italiener ausgeschlossen. Damit sind Erfahrungen oder Traditionen verbunden, die nur Arab-Deutsche kennen und eben nicht Italiener. Das kann schnell dazu führen, Menschen auszuschließen.
Die Mehrheitsgesellschaft wird einen nicht besser aufnehmen, weil man sich eine neue Selbstzuschreibung gegeben hat.
Von manchen Einwanderungsländern wird behauptet, Herkunft spiele keine Rolle. Klar kann man behaupten, in den USA ist es egal, ob man Latino-Amerikaner oder Urenkel westafrikanischer Sklave ist, weil es da zählt, ob man im Land geboren ist und sich zur amerikanischen Flagge bekennt. Hauptsache Amerikaner. Die Realität in Texas oder Ohio sieht anders aus. Polizisten erschießen dort afro-amerikanische Männer, weil sie eine schwarze Hautfarbe haben. Die renommierte Washington Post zählt seit 2015 alle von der Polizei erschossenen Personen. 2017 waren 22 Prozent Schwarze Männer, obwohl sie nur sechs Prozent der Gesamtbevölkerung der USA ausmachen. Selbst der US-Präsident des Einwanderungslandes spricht von “Vergewaltigern” und “Kriminellen”, wenn er Mexikaner meint.
Seine Identifikation hauptsächlich von der Nationalität, Ethnie, Religion abhängig zu machen, führt wortwörtlich ins Nirgends. Ein Gedankenspiel: Ich stelle mir eine Dortmunderin vor mit indisch-bengalischen Eltern, die eine griechische Lebenspartnerin hat und die zusammen aus Deutschland auswandern und in Argentinien Kinder bekommen. Die Frage: Was sind die Kinder? Neue Deutsche? Bengalo-Griechen? Indo-bengalisch-griechische Deutsch-Argentinier? Die Köpfe der Kinder müssten ja explodieren, wenn sie sich irgendwann mit dieser Frage beschäftigen müssten. Und von Religion habe ich noch gar nicht gesprochen.
Migration gehört zur Menscheitsgeschichte. Das anzuerkennen, würde automatisch so viele offene Fragen beantworten.
Eine Stadt kann nicht rassistisch sein
Doch was tun? Labels werden sich nicht einfach auflösen. Wir brauchen sie auch, um unsere Welt einordnen zu können. Das ist voll in Ordnung.
Die Stadt oder das Dorf prägt einen Menschen viel mehr als ein ungenaues Konstrukt namens Deutschland, Bayern, Türkei, Anatolien. Das ist das unmittelbare Umfeld, die Nachbarschaft, die Arbeit, Ausgehorte. Wer kann sagen, was deutsch ist, ohne in Verallgemeinerungen und Klischees zu verfallen? Wer kann sagen, dass Cem Kümmel genauso liebt wie Hans? Ob du Münchner bist oder Berliner, Kölner, Wuppertaler liegt nicht daran, ob du da geboren bist, sondern ob du dich in einer Stadt wohl fühlst. Eine Stadt kann man schwer auf eine Nationalität oder Hautfarbe reduzieren. Welche hat Berlin? Darauf gibt es keine Antwort.
Der Baum in unserer Nachbarschaft, von dem ich als Kind Kirschen pflückte, hat mich geprägt. Wir lebten im Plattenbau, zahlreiche Kinder mit den unterschiedlichsten Herkunftsgeschichten lebten dort, jeden Schleichweg kenne ich im Viertel. Das Großstadtdorf München hat mich mehr beeinflusst als ein Gebiet, das von der Nordsee bis zu den Alpen reicht oder vom Bosporus bis zum Tigris. Und das wird nicht nur mir so gehen.
In einer Stadt kann man gemeinsam Erfahrungen machen und eigene Rituale finden, Stadtteilfeste organisieren, in der Nachbarschaft raven, seinen Krimskrams auf Hofflohmärkten verscherbeln – alles verbindende Ereignisse.
Wie nennt man Menschen nun, die sich jeder Nationalität, Religion und Ethnie als Selbstzuschreibung verweigern? Ich bin mit “Münchner” zufrieden – auch wenn ich da lange nicht mehr lebe. Vielleicht wird es bald “Berliner” sein, “Istanbuler” oder “Kigale”.
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