Seit Anfang dieses Jahres darf in der belgischen Region Flandern kein Tier mehr ohne Betäubung geschlachtet werden. Einige Menschen sehen dadurch die Religionsfreiheit in dem Beneluxstaat gefährdet. Das neue Gesetz markiert das Ende der Ausnahmeregelung, die bis vor Kurzem noch die rituelle Schlachtung nach religiösen Vorschriften, erlaubt hatte. Am 1. September 2019 möchte die Wallonische Region mit einem ähnlichen Vorstoß folgen. Tierrechtsaktivisten hoffen, dass sich mit Brüssel schließlich auch der letzte Teil Belgiens anschließt.
Während Tierschützerinnen und -schützer über die Entscheidung jubeln – in ihren Augen wird die Schlachtung damit humaner –, sorgen sich Juden und Muslime, dass das Verbot ihrer traditionellen Schlachtpraktiken Teil eines größeren religionsfeindlichen Trends ist. Schließlich bedeutet es das Ende von halal oder koscherem Fleisch.
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Jüdische Vertreter teilten mit MUNCHIES ihre Befürchtungen, das Verbot würde in Belgien ein unwillkommenes Umfeld für Juden schaffen. Der New York Times sagte ein muslimischer Vertreter, dass Verbot sei gegen den Rat seiner Gemeinschaft durchgesetzt worden.
Das neue Gesetz betrifft vor allem die Betäubung von Schlachttieren vor ihrer Tötung. Bei Rindern geschieht das in der Regel mit einem Bolzenschussgerät, dem sogenannten Schlachtschussapparat. Dabei werden die Tiere mit einem Schuss ins Gehirn oder einem kräftigen Stoß gegen die Stirn betäubt. Hühner und anderes Geflügel kommen zur Betäubung in ein Wasserbad, das unter Strom steht.
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Damit Fleisch als halal gilt, also nach islamischen Recht zum Verzehr erlaubt ist, müssen viele Punkte beachtet werden. Ähnlich sieht es bei Juden aus. Schechita, beziehungsweise Schächten, ist die einzig erlaubte Methode für die Herstellung von koscherem Fleisch und Geflügel. Die Tiere müssen beim Schlachten gesund und unversehrt sein.
Der britischen Gruppe ShechitaUK zufolge kann die Betäubung nicht nur ein Tier verletzen, sondern sogar vor der eigentlichen Schlachtung töten. Da die Tiere durch das Schächten sofort das Bewusstsein verlieren würden, sei die Betäubung unnötig, argumentiert die Gruppe. Das Halal Monitoring Committee, ebenfalls in Großbritannien, argumentiert, dass die Betäubung nicht nur Verletzungen, sondern unnötiges Tierleid verursachen könne. Die Organisation verweist außerdem auf fehlende wissenschaftliche Belege für die Effektivität der Betäubung.
Es ist also kein Wunder, dass Tierschützer und religiöse Gruppen schon öfter aneinander geraten sind. Die Leiterin der belgischen Tierrechtsorganisation GAIA, Ann De Greef, ist der Meinung, dass die Betäubung einfach in die religiöse Doktrin mit aufgenommen werden müsse. “Das ist kein Verbot von religiösen Schlachtungen. Es gibt in vielen Ländern, in denen Schlachtungen ohne Betäubung verboten sind, Halal-Fleisch”, sagt sie. “Wir lassen Tiere nicht leiden, wenn es andere Möglichkeiten gibt … Sie müssen sich anpassen, genau wie wir uns auch anpassen müssen.”
“Das Verbot koscherer Schlachtungen ist ein herber Schlag gegen unsere Gemeinschaft.”
Wjatscheslaw Mosche Kantor
So einfach, wie De Greef es suggeriert, ist die Inklusion der Betäubungspraxis in die religiöse Doktrin aber vielleicht nicht. Wie das Autorenpaar von Halal Food: A History, die Historikerin Febe Armanios und der Historiker Bogac Ergene, sagen, werde die Betäubung vor der Schlachtung in den traditionellen islamischen Regeln nicht thematisiert, weil es sich dabei um ein Thema aus der heutigen Zeit handele. Deswegen “gibt es keine festgelegte, universelle Position zur Betäubung vor der Schlachtung”, schreiben sie in einer E-Mail.
“Unter Muslimen herrscht Uneinigkeit über Betäubungsmethoden, die Tiere nur vorübergehend bewusstlos machen”, schreiben sie. “Einige sehen diese Methode als legitim, andere nicht. Die Gegner argumentieren, dass diese Methoden im besten Fall überflüssig und im schlimmsten schädlich für die Tiere seien.”
Laut Armanios und Ergene sind die muslimischen Gelehrten so zerstritten in der Angelegenheit, dass zwei der größten Hala-Zertifizierungsunternehmen in Großbritannien bei dieser Position voneinander abweichen. Die Halal Food Authority ist der Meinung, dass Betäubung vor der Schlachtung erlaubt ist, solange das Tier lebendig bleibt. Das Halal Monitoring Comittee hingegen verbietet Betäubung in jeder Art und Weise.
Bei allen Differenzen sind sich die religiösen Gruppierungen allerdings einig, dass die neue Regelung nicht nur diskriminierend ist, sondern auch einen Angriff auf die Religionsfreiheit darstellt.
Wjatscheslaw Mosche Kantor, dem Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses zufolge, bedrohe das Verbot die Praktiken des jüdischen Lebens. Er nennt die Entwicklung in Belgien “höchst unnötig und unsensibel”.
“Das Verbot koscherer Schlachtungen ist ein herber Schlag gegen unsere Gemeinschaft, die ohnehin unter permanenten Angriffen, erhöhten Sicherheitsauflagen und Antisemitismus leidet”, sagt er in einem Statement an MUNCHIES. “Diejenigen, die ein Verbot gegen jüdische Bräuche aussprechen, schränken das jüdische Leben erheblich ein und sagen – gewollt oder ungewollt –, dass Juden nicht erwünscht sind.”
Oberrabbiner Goldschmidt, Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz, verurteilt ebenfalls gegenüber MUNCHIES den antireligiösen Charakter des Verbots. “Dass Provinzen in Belgien, dem legislativen Zentrum Europas, derartig antireligiöse Maßnahmen durchwinken, ist ein Affront gegen die europäischen Werte, die wir alle so schätzen. Immer wieder wird der jüdischen Gemeinschaft von EU-Amtsinhabern gesagt, dass es kein Europa ohne Juden gebe”, sagt er. “Diese Verbote untergraben diese Aussagen und bringen das jüdische Leben in Gefahr. Worte sind schwach, wenn einen die Taten so sehr treffen.”
Das Klima für Juden und Muslime in Belgien verschlechtert sich
Die Times vermutet hinter dem neuen Gesetz in Flandern und der Wallonischen Provinz Verbindungen zu Rechten. Die Zeitung merkt an, dass rechte Politiker, insbesondere in Ländern mit wachsendem muslimischem Bevölkerungsanteil, religiöse Schlachtrituale zu einem fremdenfeindlichen Thema gemacht haben.
De Greef weist diesen Vorwurf vehement von sich. Sie sagt, dass der Verbotsvorschlag ihrer Gruppe nicht aus einer antimuslimischen Haltung heraus entstanden sei. Solche Gruppen haben ihr zufolge kaum Einfluss auf die belgische Regierung.
“Natürlich gibt es in Belgien Einstellungen gegen Muslime, wie überall. Und das bedauere ich – genauso wie ich bedauere, dass es schwulen- und lesbenfeindliche Einstellungen gibt”, sagte De Greef. “Das ist allerdings nicht die Motivation für dieses Gesetz.”
Viel mehr ist die Tierschützerin der Meinung, dass die Gesetzgebung den Muslimen helfen könne. “Wenn sie dieses Gesetz akzeptieren, könnte es ihnen dabei helfen, dieser Haltung gegen Muslime etwas entgegenzusetzen. Sie würden damit diesen Menschen eines ihrer Argumente wegnehmen”, sagt sie. “Jetzt gibt es keinen Unterschied mehr zwischen einem Tier, das nach ritueller oder nichtritueller Schlachtung getötet wurde.”
Aber während De Greef die Diskriminierungsvorwürfe abwehrt, zeigen Untersuchungen, dass sich in den vergangenen Jahren in Belgien das Klima für Muslime und Juden verschlechtert hat.
Einem Bericht des US State Departments von 2017 zur internationalen Religionsfreiheit in Belgien zufolge hat die belgische Regierung nach den Terroranschlägen von 2016 zunehmend versucht “den radikalen Islam einzudämmen”. Der Bericht zählt als Beispiel das Kopftuchverbot für Frauen in öffentlichen Ämtern auf, die Beibehaltung eines Verbots von Vollverschleierungen in der Öffentlichkeit und einen Anstieg von Beschwerden wegen religiöser Diskriminierung am Arbeitsplatz. Zwischen 2015 und 2016 hatten sich antisemitische Taten und Drohungen in Belgien fast verdoppelt.
Armanios und Ergene wundern sich nicht über die Verschmelzung von Tierrechtsprinzipien und Fremdenfeindlichkeit. “In vielen westlichen Ländern spiegeln weitverbreitete Meinungen zu religiösen Schlachtpraktiken die Ängste zur kulturellen Integration von Muslimen wider und ihre Fähigkeit, sogenannte moderne und westliche Werte zu adaptieren”, schreiben sie. Seit dem frühen 20. Jahrhundert seien Tierrechte immer wieder im Kontext “wachsender minderheitenfeindlicher Einstellungen” diskutiert worden.
“In dieser Hinsicht kann die Debatte über Halal-Schlachtungen tatsächlich als Indikator eines größeren Kultur-Clashes in Europa gesehen werden – ähnlich wie die jüngeren Versuche zum Verbot von Kleidungsstücken wie Kopftüchern und Burkinis”, schreiben sie.
Laut Times haben Vertreter jüdischer und muslimischer Gruppen beim belgischen Verfassungsgericht eine Klage gegen das Schächtverbot eingereicht. Der Streit über die Betäubungsfrage ist jedenfalls noch lange nicht vorbei. Auf die Frage, ob sie hoffe, dass das Verbot schließlich auch auf die Region um Brüssel ausgeweitet wird, sagt De Greef: “Oh ja, wir werden nicht ruhen, bevor das geschieht.”
Dieser Artikel ist zuerst bei MUNCHIES US erschienen.