„Wie soll ich für diese Leute noch Vorbild sein?”—Neustädters EM-Chronik Teil 3

Schalke-Profi Roman Neustädter spielt für Russland bei der EM. Für VICE Sports berichtet er hinter den Kulissen seines ersten Turniers. Heute spricht er über die schweren Ausschreitungen im ersten Gruppenspiel, und wie es für ihn war, als Sechser aufzulaufen:

Mein erstes Pflichtspiel beim EM-Auftakt war unglaublich emotional. In den letzten Minuten ging alles so schnell. Erst haben wir den Ausgleich in der Verlängerung geschossen und sind alle vor Freude aufs Feld gelaufen, dann wurde nach Abpfiff schon das Spielfeld geräumt. Wir wussten zunächst gar nicht, was passiert ist. Über die Ausschreitungen im Stadion haben wir erst in den Katakomben erfahren. Einerseits muss man da immer vorsichtig sein, weil man die genauen Tatsachen natürlich nicht kennt. Andererseits finde ich diese Bilder einfach schrecklich. Klar, es ist Europameisterschaft, jeder ist verrückt nach Fußball und die Emotionen kochen hoch. Aber warum schlagen sich die Menschen dafür die Köpfe ein? In solchen Situationen wird mir bewusst, dass wir Spieler so etwas leider nicht mehr beeinflussen können. Wir können das nicht verhindern. Wir haben natürlich eine Vorbildfunktion, aber wie soll ich für diese Leute noch Vorbild sein? Wir können diese Schläger gar nicht erreichen.

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Die schönen Dinge dieses Tages fange ich hingegen gerade erst an zu verarbeiten: Es ist EM, ich habe direkt von Anfang an auf meiner Lieblingsposition Sechser gegen England gespielt und wir machen in der letzten Sekunde das 1:1. Das ist schon ein geiles Gefühl und ich bin einfach überglücklich. Der Trainer hatte in den letzten Tagen immer wieder mit mir geredet und mich gefragt, ob ich auf der Sechs spielen könnte. Nachdem wir das im Training ausprobiert haben, war im Abschlusstraining klar, dass ich spiele. So ein EM-Spiel ist noch mal was ganz anderes als eine Bundesliga- oder Champions-League-Begegnung. Die Dimension dieses Turniers ist einfach unglaublich und schwer zu beschreiben. Das ganze Land steht hinter dir, die Fans im Stadion jubeln dir zu und die Atmosphäre vibriert in deinem Körper. Ich war nicht besonders angespannt, weil es immer noch Fußball ist und ich da gerne rausgehe. Aber diese positive Aufregung gemischt mit der Vorfreude, dass es losgeht, ist einfach ein unglaubliches Gefühl. Dann singst du die Nationalhymne und dein ganzer Körper ist eine einzige Gänsehaut. Es war das bisher besonderste Spiel meiner ganzen Karriere.

Neustädter im Duell mit Torschütze Eric Dier

Leider ist unsere Taktik in der ersten Halbzeit nicht aufgegangen. Das englische Team hat viele junge talentierte Spieler, die vor allem richtig clever spielen. Wir wussten, dass sie sofort Druck auf unser Mittelfeld machen und auch oft mit ihren Außenspielern in die Mitte ziehen, weshalb wir beiden Sechser selten angespielt wurden. Unsere Innenverteidiger, die von Kane nicht ganz so bedrängt wurden, sollten unser Spiel eröffnen. Wir wollten dann mit aller Macht nach vorne, obwohl unsere Offensive oft noch gar nicht bereit war. Ohne wirklichen Druck haben wir so lange Diagonalbälle geschlagen und dadurch viel zu schnell den Ball verloren. Das war unnötig. In der zweiten Halbzeit haben wir das dann viel besser gemacht, auch mal vorne den Ball verlängert und ihn in den eigenen Reihen gehalten. Hätten wir es manchmal besser und cleverer herausgespielt, dann hätten wir auch ein paar mehr Torchancen gehabt.

Und irgendwann haben wir uns einfach ins Spiel reingekämpft. Unsere Jungs haben gekratzt, gezogen und gebissen. Ich bin dann in der 80. Minute raus und wir haben auf unser Tor gewartet. Wir wussten, wenn uns im Strafraum der Ball vor die Füße oder auf den Kopf fliegt, dann machen wir das Ding. Und so kam es auch.

Mein Trikot habe ich nach dem Spiel mit keinem Engländer getauscht, so ein Besonderes hebe ich mir natürlich auf.

Liebe Grüße,

Roman.

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Protokolliert von Benedikt Nießen