Wie verlieren Lesben ihre Jungfräulichkeit?

Für Broadly-Leserinnen dürfte es keine Überraschung sein zu hören, dass sich die Welt größtenteils nach Männern richtet. Einer dieser Männer, Jacques Derrida, hat sich sogar ein Wort dafür ausgedacht: Phallogozentrismus.

Kurzum, der Phallus regiert die Welt und hat seit Jahrtausenden auch Sex definiert. Entsprechend hat das Einführen eines Penis in die Vagina einer Frau seit jeher die Grenze zwischen Jungfräulichkeit und deren Verlust definiert. Doch wie können zwei Frauen—von denen nunmal keine einen Penis besitzt—ihre Jungfräulichkeit verlieren? Was markiert die Grenze zwischen sexueller zwischen sexueller Unschuld und Erfahrenheit?

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„Nach wie vor existiert die Vorstellung, Jungfräulichkeit sei ein körperlicher Zustand”, sagt Hanne Blank, Historikerin und Autorin von Virgin: The Untouched History. „Dass es etwas Körperliches ist und sich der Körper verändert, nachdem man seine Jungfräulichkeit verloren hat.”

Beispielsweise, meint Blank, dachten die alten Griechen, dass das gesamte Abwassersystem des Menschen durch ein einziges Rohr verbunden ist—das heißt, die Nase ist mit dem Hals verbunden, der wiederum mit der Vagina verbunden ist und schließlich zu unserem Anus führt. Zudem dachten sie, dass sich die gesamte Physiologie einer Frau verändern würde, nachdem sie das erste Mal penetriert wurde. „Sie glaubten, dass der Rachen einer Frau größer werden würde”, sagt Blank. „Es gab sogar Jungfräulichkeitstests, die das untersuchten.”

Es ist mir ziemlich peinlich, dass ich nicht weiß, ob ich noch Jungfrau bin oder nicht!

Dennoch stellt sich die Frage nach der Jungfräulichkeit noch immer—insbesondere unter jungen lesbischen Frauen, die nur wenige Anlaufstellen haben, an die sie sich wenden können, um Antworten zu bekommen. „Ich würde lieber irgendwelche Fremden fragen, bevor ich mich an jemanden wende, den ich kenne”, schrieb eine lesbische Teenagerin auf Yahoo! Answers. „Ich habe keine Ahnung, wann oder wie man als Lesbe seine Unschuld verliert! Und es ist mir ziemlich peinlich, dass ich nicht weiß, ob ich noch Jungfrau bin oder nicht!”

„Das Schöne daran, dass lesbischer Sex so schwer zu definieren ist, ist ,dass man unglaublich viele heimliche lesbische Erfahrungen machen und trotzdem noch behaupten kann, dass die Karte noch nicht gelocht wurde”, sagt die queere Dichterin Jocelyn Macdonald. Sie wuchs in einem konservativen, evangelischen Haushalt auf und hat sich selbst „für die Ehe aufgespart”, während sie Erfahrungen gemacht hat, die sie heute als Sex mit Frauen bezeichnen würde.

Blank sagt, dass viele queere Menschen der Meinung sind, dass es mehrere Formen der Jungfräulichkeit gibt—je nachdem mit welchen Geschlecht man schläft. „Als ich meine Jungfräulichkeit an einen Jungen verloren habe, ist das passiert, aber als ich sie an eine Frau verloren habe, ist das passiert”, sagt sie. „Wenn es bei der Jungfräulichkeit nicht um Penetration geht, sondern darum, zum ersten Mal im Genitalbereich von einer aktiven Kraft befriedigt worden zu sein, dann müsste ich sagen, dass ich meine Jungfräulichkeit an eine Pooldüse verloren habe”, sagt sie. „Wenn es eine Person sein müsste, dann wäre es ein Vollidiot. Wenn wir über Frauen sprechen, dann war das bei einem sorglosen, aber erotisch betrunkenen Rummachen auf einer Party mit Fingereinsatz und Oralsex usw.”

Foto: Jasmine Bailey | Flickr | CC BY-ND 2.0

Die Soziologin Laura Carpenter hat 22 LGBTQ für ihr Buch Virginity Lost interviewt. „21 von den 22 homosexuellen und bisexuellen Männern und Frauen, die ich interviewt habe, sagen, dass man seine Jungfräulichkeit durch Oral- und/oder Analverkehr genau wie durch vaginalen Verkehr verlieren kann”, schreibt sie. „Doch die Stimulation der Genitalien mit der Hand allein reicht in ihren Augen nicht aus, um seine Unschuld zu verlieren.”

Die Haar- und Makeup-Stylistin Polly Tyson ist der Meinung, dass der Verlust ihrer lesbischen Jungfräulichkeit das erste Mal war, als sie ein Mädchen geleckt hat. „Ich war an ihrer Vagina—genau da, wo ich immer sein wollte, doch dann habe ich panisch festgestellt, dass ich nicht die leiseste Ahnung hatte, was ich als nächstes tun sollte”, sagt sie. „Ich erinnere mich, wie ich dachte: Entspann dich, Dummkopf. Sie wird merken, wenn du dir zu viele Gedanken machst. Es wird nicht funktionieren, wenn du dir zu viele Gedanken machst! Entspann dich, verdammt!” Weil Pollys Partnerin ihre Unsicherheit tatsächlich irgendwann merkte, benutzten sie zusammen einen Vibrator.

„Auch Lesben verlieren ihre Jungfräulichkeit beim Sex”, sagt Blank, „genau wie jeder andere auch.” Was uns natürlich gleich zur nächsten Frage führt: Was ist eigentlich Sex?

Die Definition von Sex ändert sich, je nachdem wer mit wem, wann und wie Sex hat.

Wie bereist erwähnt, wurde der Akt bisher immer durch die Penetration definiert. Studien des Kinsey Institutes, des Archive of Sexual Behavior und des Canadian Journal of Sexuality haben versucht, eine universelle Definition von Sex zu finden—ohne Erfolg. Bei der Kontrolle einer vor Kurzem erschienen Studie hat ein kanadisches Forscherteam festgestellt, dass 97 Prozent der Befragten Sex als Penis-in-Vagina-Sex definierten. Gleichzeitig hat eine Studie des Kinsey Instituts 1999 herausgefunden, dass nur 82 Prozent der Männer über 60 Jahren glaubten, dass Penis-in-Vagina-Sex mit Kondom auch noch Sex war. Ihrer Meinung nach musste Sex potenziell zur Zeugung führen können, sonst würde es nicht zählen.

Für die kanadische Studie wurden nur Menschen befragt, die sich selbst als heterosexuell definierten. Dabei wurde festgestellt, dass „weniger als 25 Prozent der Teilnehmer Oralverkehr als Sex betrachteten, mehr als 60 Prozent den Geber oder den Empfänger von Oralsex als Sexualpartner bezeichneten und mehr als 97 Prozent einen Partner, der Oralsex mit jemand anderem hatte, als untreu erachteten.” Kurzum: Die Definition von Sex ändert sich, je nachdem wer mit wem, wann und wie Sex hat.

„Viele Menschen aus der LGBTQ-Community sagen, dass sie ihre Jungfräulichkeit verloren haben, als sie zum ersten Mal einen Orgasmus mit einem Partner hatten”, sagt Blank. „Dabei geht es weder um den Akt noch um das Geschlecht der Beteiligten—eine Definition, die genauso legitim ist wie jede andere auch.”