Foto von steve; Flickr; CC BY-SA 2.0
Pop ist simpel, oberflächlich, glatt poliert und eintönig, sagten und sagen sie: die „wahren“ Musikkenner. Und ich muss zugeben: Ich bin versucht, ihnen zuzustimmen. Wie könnte ich auch anders: Ich bin ein Kind der 90er. Backstreet Boys, Kelly Family, Blümchen und Captain Jack, alles gemixt mit den ersten amourösen Gefühlen an der Schüler-Disco—kein Wunder wandte ich mich, die soundtechnische Mündigkeit mit etwa 11 Jahren erreicht, ab vom Mainstream und hin zu verzerrten Gitarren und dem Headbangen. Und Pop wurde für mich, wie für jeden Anhänger eines bestimmten Musikstils, zum Schimpfwort.
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Nur eine glitzernde Geldmaschine?
Mittlerweile, nachdem ich irgendwann am Ende der Pubertät begriffen hatte, dass man auch als Metaller nicht um jeden Preis täglich ein schwarzes Bandshirt tragen muss, ist diese absolute Ablehnung verschwunden. Ein neugieriges Unverständnis ist an ihre Stelle getreten: Wie zur Hölle funktioniert Popmusik? Was ist es, das Macklemore, Taylor Swift und OneRepublic in Reichtum und Fame baden lässt? Ist das Ganze mehr als eine glitzernde Geldmaschine?
„Natürlich ist Pop ein Business und natürlich geht es auch um Show und Vermarktung. Das gesagt heisst das aber nicht, dass Pop nicht auch musikalisch wertvoll sein kann“, antwortet mein Freund Andi, als ich ihm diese Frage stelle, „Wenn hunderttausend, ja Millionen Menschen einen Song runterladen oder auf Youtube anklicken, dann muss er diesen Leuten irgendetwas geben. Das ist nicht bloss Marketing.“
Foto von Daniel Kissling
Andi Spring, nach einem Bachelor in Musikwissenschaften gerade daran, einen Master in Musikpädagogik an der Jazzschule Luzern zu holen, ist so etwas wie der Pop-Experte in meinem Freundeskreis. Nicht nur schreibt er Popsongs für seine Band The Years Between und andere Interpreten (irgendwoher brauchen die Castingshow-Teilnehmer ja ihr Material), in seiner 200 Seiten starken Masterarbeit hat er sich auch theoretisch mit dem Phänomen Pop auseinandergesetzt. Und zwar indem er sich die 50 meistgespielten Songs in Schweizer Radios während des Jahres 2013 angehört hat. Und dann in Noten transkribiert hat. Und dann auf Struktur, Melodie und Rhythmus analysiert und miteinander verglichen hat.
Grafik aus der Masterarbeit von Andi Spring
Auch Dubstep kann zu Pop werden
„Pop-Musik ist erst einmal alles, was populär ist“, erklärt mir Andi, „und stilistisch kann das eigentlich alles sein, vorausgesetzt, es ist nicht zu extrem.“ Pop tut niemandem weh. Pop ist Durchschnitt, ist der Konsens, auf den sich alle einigen können. Und je nach Zeit und Trend sieht dieser anders aus. Rock’n’Roll in den 60ern, Disco in den 70ern, Neue Deutsche Welle in den 80ern und so weiter und so fort. Und heute? „Pop nimmt eigentlich immer Strömungen aus dem Underground auf und schwächt sie ab, macht sie massenkompatibel. Heute sind das vor allem elektronische Genres. Während früher zum Beispiel auch Rock Pop war, findet man ihn in den Top 50 von 2013 überhaupt nicht mehr. Dafür ist zum Beispiel die Bridge in „I Know You Were Trouble“ von Taylor Swift ganz klar vom Dubstep inspiriert.“
Popmusik ist Tanzmusik
Jeder Sound kann also zu Pop werden, von Black Metal vielleicht mal abgesehen (wobei ein Die-Hard-Corpsepaint-Träger berühmte Bands dieses Genres wie Dimmu Borgir wohl ohne mit der Wimper zu zucken als poppig bezeichnen würde). Doch was muss geglättet werden, damit Dubstep-Elemente plötzlich im Radio plärren und der Hipster mit gekränktem Stolz ein „Die frühen Sachen waren besser!“ in die Runde wirft? Auch das verändere sich über die Jahre hinweg, meint Andi: „Auch grundlegende Parameter wie der Rhythmus wandeln sich. In den 80ern war Pop langsamer und wirkte durch den häufig eingesetzten Backbeat eher getragen. Heute liegt das Tempo ziemlich in der Mitte, wechselt kaum und der Rhythmus ist fast immer stampfend. Das Kick kommt oft durchgehend auf den Schlag, worin sich sicherlich der Einfluss der elektronischen Clubmusik zeigt. Ausserdem sind alle 50 Songs von 2013, die ich analysiert habe, im Vierviertel-Takt.“
Foto von Lauren Fritts; Flickr; CC BY-SA 2.0
Zwischenfazit also: Egal ob Daft Punks Retro-Disco-Dance „Get Lucky“, P!nk’s Nuller-Unbeschwertheit „True Love“ oder Avicii’s Folk-EDM-Kreuzung „Wake Me Up“: Popmusik ist Tanzmusik, zumindest heutzutage.
Die Musik ist bloss Mittel
Nicht nur Rhythmus und Tempo, sondern auch Melodien, Harmonien und Strukturen hat Andi verglichen und in allen Bereichen vorherrschende Varianten gefunden. Reicht es also, einfach dieses Strickmuster zu befolgen, um dann ordentlich Royalties abzustauben? „Mit dem richtigen Schema stehen deine Chancen zwar besser, aber ob eine Nummer wirklich funktioniert, hängt davon ab, ob du deine Message knackig rüberbringen kannst.“ Gerade weil die Strukturen starr seien, erhalte der Inhalt mehr Gewicht. „Ein guter Pop-Song muss eine Message haben. Das muss nichts Spektakuläres sein, ein Gefühl, ein prägnantes Bild reicht. Die Musik unterstützt dann dieses Bild. Und das ist es auch, was mich interessiert: Die Musik ist Mittel zum Zweck und nicht Selbstzweck.“
Foto von raffik; Flickr; CC BY 2.0
Und so glaube ich langsam zu verstehen: Gute Pop-Songs sind wie Kleider von H&M. Sie sind überall und leicht zugänglich. Natürlich kommen sie von der Stange, natürlich sind sie nicht individuell und selten Fair Trade. Doch sie passen nicht nur auf die Haut vieler Leute, sondern geben dir auch noch ein gutes Gefühl dabei. Und alle paar Wochen wird die komplette Kollektion gegen eine neue ausgetauscht. Man kann ja nicht immer Metal-Shirts tragen.
Dani Kissling auf Twitter: @kissi_dk