Am 13. November 2015 starben im Bataclan 90 Menschen, nachdem drei Männer den Laden während eines Eagles of Death Metal-Konzerts betreten und wahllos in die Menge geschossen hatten. Sobald klar war, dass es sich um einen Selbstmordanschlag handelt und kein Gast verschont werden würde, stürmte eine Sondereinheit der Polizei das Gebäude. Zwei Attentäter sprengten sich selbst in die Luft, der dritte wurde erschossen. Das Bataclan war einer von acht Schauplätzen koordinierter und simultan ausgeführter Anschläge des Islamischen Staats in Paris. 130 Menschen starben, Hunderte wurden verletzt. Es war die schlimmste Gräueltat, die in Frankreich seit dem Zweiten Weltkrieg verübt worden war.
Am Vorabend des Jahrestags dieser abscheulichen Tat öffnete das Haus mit einem Konzert von Sting zum ersten Mal wieder seine Tore für die Öffentlichkeit. Ein paar Tage später machte ich mich selbst auf den Weg von meiner Wohnung, entlang am Canal Saint-Martin zu Peter Doherty, der an diesem Abend im Bataclan die zweite seiner beiden Shows spielte. Es ist kein Wunder, dass Doherty Teil des Wiedereröffnungsprogramms ist. Seit er 2009 aus England weggezogen ist, hat er immer wieder in Paris gelebt. Am Tag nach den Anschlägen saß er mit seiner Akustikgitarre vor dem Bataclan und spielte ein Solidaritätskonzert.
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Bevor ich mich in der Schlange anstellte, begab ich mich noch auf ein Getränk in die Rock Bar nebenan. Ich war neugierig, was für ein Publikum heute vor Ort sein würde. Würde es eine Art Event-Tourismus geben, der vor allem wegen der schrecklichen Ereignisse zu der Veranstaltung möchte? Das Konzert war ausverkauft—genau wie bei den Eagles of Death Metal letztes Jahr. Der Laden war warm und stickig vor lauter Körpern. In den ersten Momenten nach Eintreten ins Bataclan schien sich ein kollektiver Film vor den inneren Augen aller Anwesenden abzuspielen. Es war unmöglich, sich die physische Realität dessen, was in besagter Nacht hier vorgefallen war, nicht vorzustellen—in all ihren infernalischen Einzelheiten.
Zum Glück sind der menschlichen Vorstellungskraft dann aber doch gewisse Grenzen gesetzt und zehn Minuten später befanden wir uns nicht mehr im Bataclan der Panik und des Grauens, sondern in einem ziemlich cool verzierten Saal, der genau die richtige Größe für die verschwitzte Intimität eines guten Konzerts hat. Tatsächlich fühlte sich das hier mehr wie eine große Party. Aus irrationaler Angst prägte ich mir zwar die Notausgänge ein, aber schon bald war ich der trinkfreudigen und gutgelaunten Stimmung erlegen. Vor einem Jahr waren die Menschen an der Bar die ersten, die angegriffen wurden, heute herrschte hier ein fröhliches Treiben mit Bier und Wein in Plastikbechern.
Die Auswirkungen des 13. Novembers auf die Psyche der Stadt sollte trotzdem nicht unterschätzt werden. Die Anschläge waren auch deswegen so verstörend, weil sie mit Ausnahme des Stade de France nicht gegen wichtige oder symbolische Ziele ausgeführt worden waren, sondern gegen vermeintlich zufällige „weiche Ziele” wie Bars und Restaurants in den alternativeren Ausgehvierteln der Stadt. Ein Großteil ereignete sich im 10. und 11. Arrondissement, die normalerweise von jungen Parisern bevölkert werden. Menschen essen und trinken hier auf den Terrassen oder tanzen in Clubs und Bars. Es ist die Gegend von Paris, die noch am ehesten mit Kreuzberg zu vergleichen ist—ein Ort, an den man geht, um seine Sorgen zu vergessen, seine Freunde zu treffen, betrunken zu werden, ein Mädchen oder einen Jungen zu küssen und zu lauter Musik zu tanzen. In einer Stadt, in der das ewige Streben nach Eleganz und Finesse oft an Steifheit grenzt, vermittelt die Gegend um den Kanal ein willkommenes Gefühl der Sorglosigkeit.
Den Großteil von 2015 hatte ich in Paris gelebt. Eine Woche vor den Anschlägen verließ ich die Stadt. Als ich die Ereignisse in den Medien verfolgte, konnte ich es kaum fassen, meine fröhliche Gegend am Kanal in ein Kriegsgebiet verwandelt zu sehen (ein sichtlich mitgenommener Präsident Francois Hollande verkündete recht bald, dass die Anschläge nicht weniger als ein ‚Kriegsakt’ gewesen seien.). Währende das grauenvolle Ausmaß der Taten immer deutlicher wurde, wurde ich den deprimierenden Gedanken nicht los, dass jetzt alles vorbei sei. Sie hatten Paris getötet und die selbstbewusste Lebensweise, die mich so beflügelt hatte, würde nicht mehr möglich sein. Ich hatte eigentlich geplant, schon bald mithilfe einer Artist-Residency nach Paris zurückzukehren und für ein paar lähmende Tage trieb mich die nicht gerade selbstlose Sorge um, dass das jetzt nicht mehr möglich sein würde, dass der schnell ausgerufene „Notstand” mich von meiner geliebten Stadt trennen würde.
Natürlich kam es anders. Die Pariser sagen zwar, es hätte ein paar Monate gedauert, aber schließlich kehrte die Normalität in die Bars zurück und das Nachtleben wurde wieder lebendig. Vergessen wir nicht, dass Paris bereits Nazi-Besatzer, das Massaker von 1961 und sporadische Terroranschläge von Islamisten und rechten Dissidenten überstanden hat. Man vergisst leicht, wie weitläufig und geschäftig die Stadt ist, wenn man die Gräueltaten des letzten Jahres nur am Bildschirm verfolgt hat. Wenn du ausgehst, fühlt sich das Risiko, Opfer eines Anschlags zu werden, jedenfalls verschwindend gering an. Abgesehen davon, welche Wahl hatte man denn? Sich zu Hause einschließen? Es war klar, dass das niemals passieren würde. Heute genießen die Pariser ihr Leben wieder fast wie früher. Sie akzeptieren die kalkulierten Risiken des modernen Großstadtlebens.
Ich bahnte mir gerade wieder den Weg zurück von der Bar zur Bühne, als Peter Doherty begleitet von einem Haufen hübscher Musikern die Bühne betrat. Eine Französin in Rot kündigte eine Schweigeminute für die Opfer an. Ein besoffener Brite an der Bar brüllte irgendwas dazwischen, wurde aber schnell ruhiggestellt. Dann legte die Band mit „I Don’t Love Anyone (But You’re Not Just Anyone)” von Dohertys zweitem Soloalbum Hamburg Demonstrations los. Als Nächstes kam mit „The Last of the English Roses” eine wahre Perle seines Oeuvres, was meine Freundin zu der Bemerkung veranlasste, dass jeder, der „Enochs” mit „Reeboks” reimt, ein echtes Genie sein muss.
Auch wenn er mit 37 noch immer engelsgleich (wenn auch aufgedunsen) auf der Bühne steht, erscheinen die Gerüchte, dass es der notorisch ausschweifende Sänger endlich von den Substanzen weggeschafft hat, wenig überzeugend. Aber allen Rauschzuständen zum Trotz sind Dohertys Songwriterfähigkeiten durchgängig auf hohem Niveau geblieben. Auch seine neuen Songs haben den Witz, das Beobachtungsgeschick und das Charisma, das die Libertines vor 15 Jahren eine ganze Ära prägen ließ. Doherty glänzt in leidenschaftlichen Charakterskizzen, die mit drogeninduziertem Wehmut durchzogen sind. Unter all dem pocht allerdings ein Todeswunsch, der mit jedem Jahr weniger nach profaner Poserei erscheint. Der jungenhafte Mann, so scheint es, stolpert gerade auf eine gigantische Midlife-Crisis zu.
In seinen (wenigen) Ansagen zwischen den Songs erwähnte Doherty kaum die Nacht der Anschläge. Er murmelte zwischendurch etwas davon, dass er und seine Band „nicht wie die anderen [sind]—wir sind hergekommen, um nett zu euch zu sein.” Ein neues Lied sprach den Anschlag allerdings direkt an: „Hell to Pay at the Gates of Heaven”—ein ausgelassener Song mit starker Country-Schlagseite, der an die Bright Eyes in Höchstform erinnert. Bis dahin war Doherty durch das Set geschlurft, als könnte er der Welt nicht in die Augen schauen. Seine Bandkollegen zeigten da wesentlich mehr Enthusiasmus (sein Bassist und der Gitarrist mit nacktem Oberkörper schienen die Nacht ihres Lebens zu haben). Jetzt kochte er aber buchstäblich vor Elan über. „Come on boys, choose your weapon: J-45″—eine Anspielung auf ein beliebtes Akustikgitarrenmodell—„or an Ak-47.” Diesen Song lang war Musik Krieg, war Musik der Sieger.
Dohertys Erwachen war ansteckend. Das Publikum in Frankreich kann reserviert bis zur Versteinerung sein, aber als die Band den Babyshambles-Klassiker „Fuck Forever” anspielte, gab es kein Halten mehr. Nachdem er den letzten Chorus gejault hatte, nahm Doherty den Mikroständer und warf ihn in das tobende Publikum. Als das Metall mit nicht wenig Wucht in einem Haufen ausgestreckter Hände landete, musste ich an die Aussage des Parisers André Breton von vor 100 Jahren denken: die einfachste surrealistische Geste würde darin bestehen, mit einer Pistole in der Hand auf die Straßen zu gehen und blindlings Leute zu erschießen. In einer unvermeidbaren Zirkularität war ich in Gedanken natürlich wieder bei den brutalen jungen Männern angekommen, die einfach blind in eine Menge wie diese hier geschossen hatte. Manch destruktiver Akt ist kathartisch, andere hinterlassen lebenslange Schatten von Trauer und Wut.
In dieser Zeit spektakulärer Gräueltaten, viraler Snuff-Filme und postfaktischer Demagogen stellt sich auch die unangenehme Frage an der voyeuristischen Komplizenschaft. In der Nacht der Pariser Anschläge leuchtete Twitter auf wie ein Weihnachtsbaum. Selbst während die Menschen noch starben, ließ sich eine düstere kollektive Erregtheit—ein entfremdeter neuronaler Rausch, der Social Media getarnt als Sorge und Anteilnahme überflutete—unmöglich leugnen. Für ein paar unangenehme Stunden schien es so, als wäre das Leben in Westeuropa so langweilig, so emotional verarmt in seiner Limitierung auf Bildschirme und Fenster geworden, dass es ein Spektakel vom Kaliber eines Massenmords brauchte, um die digital-atomisierte Gesellschaft wieder etwas spüren zu lassen.
Aber nein. Die meisten Menschen—in Frankreich oder sonst wo—wollen Frieden und die Möglichkeit haben, auszugehen oder sich in einem Restaurant zu treffen, ohne sich vor Gewalt fürchten zu müssen. Auch das Publikum im Bataclan war alles andere als abgestumpft und lethargisch. Peter Doherty hielt inzwischen etwas anderes in der Hand—einen Papiervogel?—setzte es in Brand und warf es in die Menge. Während der letzten paar Songs schmiss er mit allem um sich, was er irgendwie in die Hand bekam: wieder den Mikroständer; ein Zippo, das jemandem ein Auge hätte kosten können; eine Akustikgitarre und eine Schaufensterpuppe, die das Konzert über neben dem Schlagzeug gesessen hatte. Die Sicherheitsleute sammelten das Equipment mit ernster Mine ein, nur damit Doherty es nonchalant wieder in die Menge pfeffern konnte. Während der Zugabe rollte er die französische Flagge aus und breitete sie über dem Publikum aus, wo sie von hunderten Armen hochgehalten wurde, bis sie irgendwann in der Nähe der Bar aus dem Sichtfeld verschwand.
Der letzte Song war die wunderschön elegische Solonummer „Flags of the Old Regime”, die er nach dem Tod von Amy Winehouse geschrieben hatte. Dessen Chorus hatte heute Nacht aber eine ganze andere Bedeutung bekommen:
„I don’t want to die any more
Any more than I did want to die before”
Manche Wunden heilen nie. Ein trauernder Vater hatte sich wenige Tage zuvor geweigert, die Gedenkveranstaltungen zu besuchen. „Sinnlos” seien sie. Im Französischen Radio sprach er von „einer Wut, die ich nie wieder loswerde.” Aber genau das geschah hier heute Nacht. Dieser ungestüme Auftritt an einem Ort, an dem Fröhlichkeit mit Barbarei entgegnet wurde, war eine mehr als würdige Antwort auf einen solchen Akt des Hasses. Gegen Ende sackte Doherty, der kaum noch stehen konnte, in sich zusammen und setzte sich neben das Schlagzeug auf den Platz der Schaufensterpuppe. Seine grinsenden Bandkollegen halfen ihm für die gemeinsame Verbeugung wieder auf die Beine. Und dort stand Peter Doherty dann, „Fucked Forever”, winkte in die Menge und zu den Geistern von 90 Rockfans, die ums Leben kamen, als sie eine der besten Sachen genossen hatten, die der ungläubige Westen zu bieten hat: einen schönen Freitagabend in der Stadt.
Titelfoto: jxandreani | Flickr | CC BY 2.0
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