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​Willkommen in Stoke, der Wiege des Dartsports

Vorletzte Woche begann in Leeds die 12. Auflage der „Premier League of Darts”, das extrem populäre und über vier Monate lange Spektakel der Professional Darts Corporation (PDC). Premiere feierte das Turnier im Januar 2005 in der King’s Hall in Stoke-on-Trent.Es gab wohl keinen passenderen Ort als Stoke. Schließlich haben wir es mit der Stadt zu tun, aus der 16 der 23 PDC-Weltmeister kommen, darunter auch Phil „The Power” Taylor. Selbst sieht man sich als „Wiege des Darts”, während die örtliche Tageszeitung in ihrem Internetauftritt neben Fußball, Cricket und Rugby eine eigene Darts-Sparte anbietet. Herzlich willkommen in Stoke-on-Trent. Herzlich willkommen in Dartopolis.

Andererseits ist es auch nicht überraschend, dass seit dem Premierenjahr die Premier League nie wieder nach Stoke zurückgekehrt ist. Schließlich ist die Welt des Darts längst zu einem arenafüllenden Hochglanz-Phänomen „verkommen”, auch wenn zumindest die Zuschauer weiterhin gut auf den Putz hauen. Aber klar: Das Gebäude in Stoke, das die altehrwürdige King’s Hall beherbergt, sieht längst so heruntergekommen und schäbig aus, dass Sky seine HD-Kameras hier lieber nicht mehr aufstellen will.

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Wie ein Krieg der Verbände den Darts-Boom auslöste

Nach zehn Jahren Darts-Abstinenz ist es verständlich, dass die Bewohner Stokes letzten Oktober richtig stoked waren und zu Hunderten erschienen sind, als sich die vier Darts-Würdenträger der Stadt in der King’s Hall die Ehre gaben. Taylor (damals auf Platz drei in der PDC-Rangliste), „Jackpot”‘ Adrian Lewis (Platz fünf), Ian „Diamond” White (Platz acht) sowie Andy „The Hammer” Hamilton (27). Gespielt wurde für den guten Zweck, genauer gesagt für das „Donna Louise”-Kinderhospiz. „Darts comes home”, versprach eines der Werbematerialien (was historisch gesehen zwar Quatsch, von den Emotionen her aber durchweg stimmig ist). Damit das Ganze auch richtig schmuck aussieht, hat die PDC die King’s Hall herrichten lassen. Ob Türsteher, Beleuchtung oder imposante Bühne, an nichts sollte es an diesem Tag fehlen.

Die Fab Four aus Stoke—Hamilton, White, Taylor und Lewis—in der King’s Hall | Foto: Laura Malkin

Bevor die großen Namen die Bühne betraten, machten vier Qualifikanten aus der Region untereinander aus, wer sich mit Taylor & Co. messen durfte. Dabei wussten auch die Amateure, worauf es beim Darts ankommt: Knallbunte Shirts, donnernde Einlaufmusik und ein Haufen High-Fives mit dem Publikum.

Es war zwar kein offizielles Turnier, das hielt jedoch die Einwohner aus Stoke nicht davon ab, ihren Helden Respekt zollen zu wollen. Also den Männern, die der Stadt nach dem Untergang als Industriestandort neues Leben und eine neue Identität—als Englands Darts-Hochburg—verliehen haben. Am Ende waren sie im Saal alle sowas wie Seelenverwandte. Der einzige Unterschied zwischen Zuschauern und Spielern bestand eben „nur” darin, dass Letztere einen rund 20 Gramm schweren Pfeil perfekt auf rund 260 Quadratmillimetern unterbringen können. Hamilton brachte die tiefe Verbundenheit auf den Punkt: „Ich bin stolz darauf, aus Stoke-on-Trent zu kommen und habe das Gefühl, mit dem, was ich heute mache, der Stadt etwas zurückzugeben. Das ist ein tolles Gefühl. Ich bin überglücklich, wieder hier zu sein.”

Bleibt also die Frage: Wie genau ist hier diese Dartomanie entstanden? Wie wurde Stoke—das man in Deutschland am ehesten noch für seinen mäßig guten Fußballverein kennt—zu einer Darts-Hochburg?

Stoke City: Vom Arbeiterverein zum Tiki-Taka-Sammelbecken

Eine vollbesetzte King’s Hall in Stoke-on-Trent. | Foto: Laura Malkin

Geschichte lässt sich nie mit strikter Kausalität erklären, sondern mehr als ein Zusammenfluss „glücklicher” Zufälle. Was den Darts-Boom in Stoke betrifft, gab es zwei solcher Faktoren. Einerseits die Entscheidung von Yorkshire Television im Jahr 1972, für das nationale Fernsehen die TV-Sendung „The Indoor League” zu produzieren. In der Show traten bis dahin obskure Kneipen-Sportarten wie Billiard oder Tischfußball auf die große Bühne. Und natürlich auch Darts. Der Producer von The Indoor League war ein gewisser Sid Waddell, der später zu einem der wichtigsten Darts-Fürsprecher werden sollte.

Sid Waddell in der Kommentatorenbox. | Foto: PA Images

Der zweite Faktor war die Entscheidung aus dem Jahr 1979, die BDO World Darts Championship von Nottingham nach Stoke-on-Trent zu verfrachten. Für die folgenden sieben Jahr sollte der Jollees Cabaret Club—und damit auch Stoke—zum Mekka des kleines (dartsliebenden) Mannes werden.

Was den Kneipensport zu einem echten TV-Erlebnis machen sollte, war zudem die Innovation, den Fernsehbildschirm zu splitten und den Zuschauern sowohl das Dartbrett als auch den Werfenden zu zeigen. Sichtbar gemachte Anspannung und Emotionen, Waddell sollte es später als „working-class theatre” beschreiben. Mit einem Mal wurden die frühen Protagonisten für alle, die nicht selbst in Stoke sein konnten, zum Leben erweckt. Rees, Jocky Wilson, Bobby George, John Lowe und Cliff Lazarenko wurden plötzlich zu Stars, auch wenn ihnen schon bald Eric Bristow die Show stehlen sollte.

Bristow ist ein weiterer wichtiger Faktor dafür, dass Stoke und Darts einfach zusammengehören, obwohl er eigentlich aus dem Großraum London kommt. Bekannt für sein ausgeprägtes Ego, setzte er dem Sport in den 80ern seinen Stempel auf. In zwölf Jahren erreichte er zehnmal das Endspiel, gewann die Hälfte seiner WM Finals (davon vier im Jollees), bevor ihm zunehmend Dartitis zu schaffen machte. Bristow kam groß raus, als Darts so populär war wie nie zuvor—und auch danach. Also selbst dann, als Sky und eine Menge Cash den Sport neu aufmischen sollten. Zu Bristows Glanzzeiten wollten bis zu 15 Millionen Briten die Dart-Gameshow „Bullseye” sehen. Bristow war der erste Superstar seiner Sportart—und Dauergast in der britischen Regenbogenpresse.

In der Zeit, als er im Jollees einen Titel nach dem nächsten holte, war er mit Maureen Flowers liiert, die erste professionelle Dartsspielerin der Welt und, wie passend, Kneipenwirtin aus Stoke. Er zog zu Flowers nach Stoke und kaufte mit ihr zusammen einen Pub. In diesem Pub war es auch, dass er einen jungen, ambitionierten Mann kennenlernte und mit dem heutigen Superstar eine enge Mentor-Schüler-Beziehung aufbaute: Phil Taylor.

Denn „The Power” ist das letzte wichtige Puzzlestück der Stoke-Darts-Symbiose.

The Power. | Foto: Laura Malkin

Taylor wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf und konnte auf keinerlei finanzielle Unterstützung von Elternseite setzen. Darum zögerte er auch, seinen sicheren Job in einer Fabrik für Toilettenpapierhalter aufzugeben, um Vollprofi zu werden. Bis Bristow in die Bresche sprang und seinem Schützling 9.000 Pfund pumpte und für Flug- und Hotelkosten aufkam, Taylor aber auch gnadenlos zu besseren Leistungen antrieb. Schon bald gingen die beiden unterschiedliche Wege. Während der Schüler sein Spiel auf ein immer höheres Niveau schraubte, wurde die Dartitis des Altmeisters immer schlimmer. Das ging sogar so weit, dass sich Bristow Ratschläge von Taylors Mutter anhören musste.

Besonders brisant war das WM-Finale 1990, bei dem Taylor gegen seinen Mentor antreten musste. Und mit 7:1 gewann. Es war Taylors erster WM-Titel und gleichzeitig ein Stabwechsel an der Spitze des Dartsports. Doch noch immer konnte man mit Darts nicht wirklich viel Geld verdienen. Bis zum Jahr 1989 wurde jährlich nur ein einziges Turnier im Fernsehen gezeigt. Die Spieler gingen zunehmend auf die Barrikaden und gaben BDO-Boss Olly Croft die Schuld. Der behandelte den Sport wie sein persönliches Fürstentum und verbot den Spielern, sich bei BDO-Turnieren sponsern zu lassen. Nach einem langen juristischen Tauziehen beschlossen 16 Spieler Anfang der 90er, darunter viele aktuelle Weltmeister, der BDO den Rücken zu kehren. Schon bald war die PDC gegründet.

Diese Spaltung öffnete die Türen für Barry Hearn, der 2001 die PDC übernahm und mithilfe von lukrativen TV-Vermarktungsrechten, leichtbekleideten Damen, dröhnender Einlaufmusik und griffigen Spitznamen für die Stars das Endprodukt erheblich „aufgesext” hat. Stoke spielt zwar keine Rolle mehr in der PDC, doch ohne die Stadt im Westen Englands mit seinen großen Spielern und dem legendären Jollees würde Darts wohl heute nicht dort stehen, wo es steht.