Nicht nur Menschen, die schon einmal voller Tatendrang in ein Tattoo-Studio reinmarschiert sind und enttäuscht mit einem Termin für sechs Monate später wieder rauskamen, wissen: Es ist alles andere als ein leichtes Unterfangen, sich spontan ein lebensgroßes Porträ seiner Oma auf den Rücken stechen zu lassen. Wenn es nach der Politikerin Gitta Connemann geht, soll aber zukünftig nicht nur die Beliebtheit von fancy Tattoo-Studios solche Spontanaktionen erschweren: Die Vize-Chefin der CDU/CSU-Bundesfraktion möchte Kunden und Kundinnen dazu zwingen, sich die Unendlichkeitszeichen unter ihren Brüsten und die von Pinterest abgekupferten Eulen-Tattoos künftig zwei Mal zu überlegen.
Im Gespräch mit dem Tagesspiegel nutzt die Politikerin das Sommerloch und fordert gesetzliche Beratungsgespräche und Bedenkzeiten für Tattoo-Interessierte. Die Kunden und Kundinnen sollten so davon abgehalten werden, dass andere sie zu einem Tattoo drängen oder sie sich besoffen Penisfiguren auf ihrer Stirn verewigen zu lassen. “Es darf nicht sein, dass eine Entscheidung, die lebenslang sichtbar sein wird, spontan, ohne Beratung und ungesichert erfolgen kann”, sagt Connemann. Es mag eine durchaus sinnvolle Idee sein, strengere Berufsregulierungen für Tätowierende einzuführen. Doch sind wirklich alle spontan entstandenen Tattoos traumatische Erinnerungen an leidvollen Peer Pressure und Saufgelage? Und welcher seriöse Tätowierer würde jemanden tätowieren, der komatös auf seine Liege fällt?
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Wir haben Menschen mit Spontan-Tattoos gefragt, ob sie diese bereuen – und allein in der VICE-Redaktion zwei Personen gefunden, die mit Connemanns Fristfantasien eine gute Erinnerung weniger hätten.
Tomke, 26
“Ich hab mir vor einigen Jahren mein erstes Tätowier-Set im Internet bestellt, das waren zwei Maschinen für wenig Geld und eine war schlechter als die andere. Meine Mitbewohnerin, die damals in der Ausbildung zur Tätowiererin war, hat mir spontan in der Küche “DOPE” auf den Knöchel gestochen. Der Hintergrund dazu ist aber nicht meine Liebe zu Drogen, sondern ein Lady-Gaga-Song, in dem es darum geht, dass ihr eine bestimmte Person wichtiger ist als jede Droge dieser Welt. Das war lange mein Lieblingssong und als die Maschine ankam, dachte ich mir: Warum nicht? Es ist nicht so geil gestochen, aber irgendwie macht das auch den Charme dieser ganzen Spontanaktion aus. Ich würde es nicht nach- oder überstechen lassen. Für ein Tattoo vom Küchentisch ist es gar nicht so schlecht, ich bereue es nicht. Dass als Motiv “DOPE” auf meinem Knöchel steht und nicht jeder sofort an den Song denkt, wäre aber vielleicht ein Grund, zum nächsten Vorstellungsgespräch nicht knöchelfrei zu gehen.”
Tim, 31
“Es war mein 21. Geburtstag und mein großer Bruder kam zu Besuch. Er meinte, er hätte zwar kein Geschenk dabei – dafür aber eine Tattoomaschine. Es war mein erstes Tattoo und ich war, ohne groß drüber nachzudenken, dabei. Also habe ich meinen Schreibtisch freigeräumt, damit ich mich drauflegen kann, und er hat losgelegt. Ich war damals großer Fan der Band Justice und im Video zur Single “Stress” laufen junge Typen durch die Pariser Banlieue, randalieren und haben auf ihrer Jacke alle ein großes Kreuz-Symbol. Ich wollte auch so cool sein – aber auch nicht zu sehr Fanboy – deshalb habe ich mir auf meine Lederjacke einen Blitz gemalt. Und weil es mir auf der Jacke gefiel, dachte ich mir, ich kann es mir auch auf die Haut tätowieren lassen. Ich habe mittlerweile rund 15 Tattoos, aber dieses erste nie bereut. Es ist ein Zeitdokument und ich erinnere mich gerne an mein 21-jähriges Ich zurück. Ich habe damals studiert und hatte an meinem Geburtstag für zwölf Leute gekocht. Dazwischen habe ich mich tätowieren lassen. Ich fand es damals mega cool, mit dem Blitz rumzulaufen. Heute ist er einfach ein Teil von mir.”
Gina, 30
“Eine meiner besten Freundinnen ist Tätowiererin und arbeitet in einem Studio. Sie hat irgendwann angefangen, Fineline-Tattoos zu machen und hat jeder Person, die zum Tätowieren zu ihr kam, zusätzlich diese Fliege gestochen. Ich war bei ihr zu Besuch, wir haben abgehangen und Wein getrunken und dann hat sie gefragt, ob ich spontan auch eine Fliege haben möchte. Ich hatte Bock drauf. Wir haben überlegt, wohin sie kommen soll, und da eh geplant war, dass meine Freundin meine ganze Hand tätowiert, zierte nach 15 Minuten die Fliege mein Handgelenk. Obwohl es so spontan war, hat es sich angefühlt wie bei einem regulären Termin im Studio, außerdem war es nicht mein erstes Tattoo. Ich liebe es auch heute noch.”
Daniel, 34
“Ich bin seit einem Jahr in Berlin und wollte etwas, das mich an meine Zeit hier erinnert. Ich bin einfach mit meiner Freundin rumgelaufen, hatte Geld in der Tasche und habe mir spontan überlegt, dass ich ein Tattoo möchte. Ich bin Street Artist und wusste schon, zu welchem Künstler ich gehen möchte, um ein Andenken an die lokale Künstler-Community, zu der ich gehörte, zu bekommen. Ich ging einfach in das Studio, blätterte die Bücher durch und fand ein Messer-Motiv, das mir gefiel. Ich wollte etwas auf meinem Bauch haben, weil es sehr zentral ist, und ich fand das Design am coolsten. Insgesamt habe ich über zehn Tattoos und habe nie das Gefühl, dass meine spontanen irgendwie schlechter aussehen als die geplanten. Außerdem finde ich es cool, etwas Unüberlegtes getan zu haben.”
Julia, 27
“Ich war mit meinem besten Freund im Urlaub, wir wollten eigentlich nur einen Tagesausflug nach Berlin machen, aber haben unseren Flug verpasst und sind dann noch einen Tag länger geblieben. Wir haben spontan entschlossen, uns zu tätowieren, und sind in ein Studio gegangen, das wir kannten. Eigentlich wollte ich ein ganz anderes Motiv haben, aber das hätte zu lange gedauert. Dann habe ich durch Pinterest gescrollt und mich für das jetzige Motiv entschieden und es mir direkt stechen lassen. Ich bereue mein Tattoo nicht, habe auch nie damit gefremdelt und für mich hat es die Bedeutung, dass es an diesem Ort als Erinnerung an den Kurztrip gestochen wurde. Ich arbeite in einer Klinik am Empfang, aber hatte nie das Gefühl, dass mein Tattoo mir privat oder beruflich irgendeinen Nachteil bringt.”
Monika, 29
“Ich mache alles spontan, geplante Dinge finde ich langweilig. Ich bin einfach ins nächste Studio gegangen, hatte Bock auf ein neues Tattoo und es ging los. Die Wahl des Motivs fiel mir auch nicht schwer, ich habe eine Liste im Internet mit Dingen, die mir gefallen, und wurde schnell fündig. Es war kein Alkohol im Spiel und es war auch nicht mein erstes Tattoo und viele von meinen 13 Tattoos sind relativ kurzfristig entstanden. Das Motiv hat zwar keine Bedeutung für mich aber ich mag den Stil und wollte mir das auf der Haut verewigen lassen. Ich würde mich jederzeit wieder spontan tätowieren lassen und einfach ins nächste Studio gehen, wenn mir der Stil dort gefällt.”
Anne, 58
“Im Sommer vor zehn Jahren war mein Vater gerade gestorben. Ich hatte das Gefühl, dass ich etwas tun muss, um mich auszudrücken, und dachte über ein Tattoo nach. Meine Kinder und jeder aus meinem Umfeld sagten, ich solle es auf keinen Fall tun. Aber ich habe kurzentschlossen nach einem Studio gegoogelt und bin los. Vor Ort sah es sauber aus und ich bin reingegangen. Als Motiv habe ich mir eine Rose mit Dornen vorgestellt, der Künstler sagte, er würde das nicht machen, aber ich wollte es, und er hat eine Skizze angefertigt. Wir haben uns besprochen und ich erzählte ihm vom Tod meines Vaters und hatte den Eindruck, dass er versteht, worum es bei der Sache geht. Ich fühle mich durch diese blaue Rose auf meinem Arm weiter mit meinem Vater verbunden.”