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Pokémon ist wie Poker und gehört ernst genommen

Joshua Smith ist ein gut aussehender 30-jähriger Bartträger mit einer Mewtu-Basecap. Er ist aus dem angrenzenden Bundesstaat Washington nach Oregon gereist, um am wortgewaltigen „Oregon Regional Championships for Pokémon” im Portland Convention Center teilzunehmen. Joshua hat als Kind Pokémon gespielt, von den Editionen Rot bis Kristall, danach war Schluss. Hier und heute ist sein erstes Videospiel-Turnier, bei dem er persönlich auf der Matte steht. Doch der Mann kam gut vorbereitet in Portland an. Im letzten Jahr hat er online viel Pokémon gespielt (an der sogenannten „Smogon University”, einer Website für Pokémon-Jünger), nachdem ihn die siebte Generation Sonne und Mond, die letzten November rauskam, wieder für den Klassiker angefixt hatte. Joshua ist eigentlich kein großer Videospiel-Fanatiker und meinte, vor seinem Pokémon-Rückfall „rund zehn Jahre” nichts mehr gespielt zu haben.

Doch seit einem Jahr wendet er sehr viel Zeit dafür auf, bei Pokémon-Turnieren sein taktisches Können zu schleifen, indem er seine Monster andere Monster den Arsch aufreißen lässt, um marginale taktische Verbesserungen abzustauben, um so noch effektiver anderen Monstern den Arsch aufreißen zu können. Zu diesem Zweck hat er sich sogar die Dienste eines Online-Coaches gesichert, eines echten Pokémon-Gurus, den er als „super Kerl aus St. Louis” beschreibt. Joshua ist übrigens nicht allein mit seiner Pokémon-Begeisterung. Den Veranstaltern in Portland zufolge haben allein im letzten Jahr 450.000 Menschen weltweit an Pokémon-Turnieren teilgenommen.

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Das ist ein Pikachu. Das wusste der Autor sogar schon vor dem Turnier. Foto: Corbin Smith

Als ich den Eingangsbereich der Oregon Convention Hall betrat, beschlich mich das Gefühl, gleich einen großen Fehler zu begehen. Von außen hörte man schon Kinderstimmen und allerlei schrilles Geschrei.

Vorne verkauften ein paar Leute Pokémon-Merch, darunter eine sehr schöne, grüße Baseball-Cap mit einer weltmännischen Eule, die Fliege trägt. Insgesamt sechs Turniere sollten an dem Wochenende in Portland ausgetragen werden: ein Junior-, ein Senior- und ein Master-Turnier, je im Videospiel- und im Spielkartenbereich. Bei den Juniors und Seniors sah man vor allem Kinder an den Tischen sitzen. Beim Master-Turnier hingegen bestimmten ältere Jugendliche und waschechte Erwachsene das Bild – also Typen wie Joshua, die sich in der hinteren Ecke der Halle tummelten. Genau dort wollte ich meine investigative Lust stillen. Was bewegt einen erwachsenen Menschen dazu, in diesen bewegten Zeiten Pokémon zu spielen?

Das Finale des Pokémon-Turniers in Portland

An den Master-Klapptischen saßen ingesamt 130 Menschenseelen, die auf Bildschirme starrten und an Pokerspieler aus dem Fernsehen erinnerten: wortlos, konzentriert, auf ihren Stühlen hängend und die Blicke durch Kopfbedeckungen abgeschirmt. Nur trug hier niemand Caps mit Yankees-Schriftzug, sondern allenfalls bestickt mit fliegetragenden Eulen.

Manche wechselten am Tisch ein paar Worte, doch die meisten beschränkten sich auf einen freundschaftlichen Handschlag und einen kurzen Plausch nach dem Spiel.

Auch vierte Plätze sind etwas Ehrenwertes in der Pokémon-Welt.

Das hier war serious business und wurde dementsprechend auch so „gepfiffen”. Kampfrichter waren in der ganzen Halle verstreut und schauten den Teilnehmern argwöhnisch über die Schultern. Ich wollte vom Hauptkampfrichter wissen, wie man Schummlern das Handwerk legt und welcher Betrug ihnen schon untergekommen ist. Er sagte kein Wort und schien fast empört, dass ich womöglich bereit war, solch hoch brisante Infos zu veröffentlichen. Zu einer Zeit, wo sich eh schon jeder über Pokémon und seine Spieler lustig macht!

Ich sprach mit James Harding, einem jungen Mann mit beeindruckendem Ziegenbärtchen, der aus New Hampshire angereist kam, um an diesem regionalen Turnier teilzunehmen. Zur Erinnerung: New Hampshire liegt an der Ost- und Portland an der Westküste. Klar war das mögliche Preisgeld ein nettes Zubrot, doch James war hier, um sich nationale Punkte zu sichern. Punkte, mit denen er hoffte, es bis zur WM in Anaheim zu schaffen. James hatte zuvor an kleineren Turnieren in New Hampshire und Umgebung teilgenommen, wo es aber nur wenig Punkte zu gewinnen gab. Hier in Portland konnte er auf einen Schlag einen großen Schritt Richtung Finale machen.

„Ich glaube, man braucht 500 Punkte, um sich für die WM zu qualifizieren. Ich komme bisher auf drei”, erzählte er mir.

Drei Punkte oder 300?

„Drei.”

Aber eigentlich, gab er zu, war er vor allem hier, um Erfahrung zu sammeln und Gleichgesinnte kennenzulernen.

Dieser dünne, gut gepanzerte Vogel ist Kapu-Riki – ein legendäres Pokémon mit den Typen Elektro und Fee, das über die Insel Mele-Mele wacht. Kapu-Riki existiert seit der siebten Spielgeneration und ist unter Spielern besonders beliebt, da es schnell ist und kraftvolle Attacken ausführen kann. Es hat aber den Nachteil, dass es oft früh im Kampf K.o. geht. Glaskinn, wenn man so will. Doch in letzter Zeit werden immer häufiger Kapu-Riki-Varianten (-Mutanten?) gesichtet, die durch einen kräftigeren Körperbau bestechen. All das und noch viel (lies: viel viel viel) mehr hat mir Ben Emerzion erzählt, der mir auch erklärt hat, inwiefern sich Pokémon weiterentwickeln können. Die Quintessenz daraus lautet: Wenn Pokémon ihren Kampf gewinnen, bekommen sie Erfahrungspunkte (EP). Sobald man eine bestimmte EP-Anzahl erreicht hat, steigt das Pokémon um ein Level auf und wird stärker. Dabei verbessern sich auch die Statistikwerte hinsichtlich Angriff, Verteidigung etc. Ab einem bestimmten Level können sich manche Pokémon weiterentwickeln und zu einem neuen Pokémon werden. Tada!

„Manchmal kommen Top-Spieler aus dem Nichts und machen dich mit demselben Pokémon fertig, das alle anderen auch benutzen”, so Ben Emerzion weiter. „Das liegt daran, dass die Leute angefangen haben, rumzuexperimentieren und das Kapu-Riki stärker zu machen. Das kann jetzt Schläge einstecken, ohne sofort zu sterben.”

Nach der Lobeshymne auf das Kapu-Riki hat es mich nicht wirklich überrascht, dass in einem der Viertelfinal-Kämpfe genau ein solches Pokémon eingesetzt wurde. Einer der beiden Live-Kommentatoren vor Ort (ja, du hast richtig gelesen) hat während des Kampfes voller Erstaunen bemerkt, dass immer mehr von „solchen kräftigen Kapu-Riki zu beobachten” sind – übrigens mit der gleichen Ernsthaftigkeit eines NBA-Experten, der darüber fachsimpelt, warum die Qualitätsdichte unter Point Guards so hoch ist.

Ich habe euch doch gesagt, dass die Eule sehr weltmännisch rüberkommt. Foto: Corbin Smith

Dann habe ich Alberto Lara kennengelernt. Alberto ist ein ehrgeiziger, schnell sprechender, leicht zu begeisternder Typ um die 20, der es bei diesem Turnier bis in die Finalrunde geschafft hat und zuvor schon zwei regionale Turniere für sich entscheiden konnte. Er erzählte mir, dass sein Interesse für das Spiel mit der Möglichkeit zu tun hat, Wahrscheinlichkeitsrechnung anzuwenden. „Ich konzentriere mich aufs Training und darauf, besser zu werden. Man muss lernen, die richtigen Spielzüge anzuwenden, nicht, das richtige Pokémon zu bekommen.”

Alberto war der Platz, auf dem er landen würde, im Gegensatz zu vielen Leuten hier so gar nicht egal. Seit 2007 nimmt er an Turnieren teil, auch wenn der letzte Turniersieg schon zwei Jahre her ist. „Ich bin hungrig”, entfuhr es ihm.

„Du willst also Blut sehen”, meinte ich zu ihm.

„Genau, mir geht es nicht nur um eine gute Platzierung, ich will gewinnen.”

Ich fragte Alberto, warum er an Pokémon-Wettkämpfen teilnimmt. „Weil es eine Menge Spaß macht”, erklärte er mir, bevor er noch weiter ins Detail ging: „Das Spiel ist wie ein Tortendiagramm, und es geht darum sicherzustellen, dass man den richtigen Zug spielt. Mit vier Pokémon auf dem Feld, die jeweils vier Attacken haben, gibt es insgesamt 16 Attacken auf dem Feld. Das heißt, dein Gegner hat eine gewisse Wahrscheinlichkeit, die eine, die andere oder wieder eine andere Attacke zu spielen. Am Ende musst du auf 100 kommen und dir überlegen, wie wohl dein Gegner taktieren wird. Du musst einfach smarter sein als er.”

Und plötzlich stellte ich (mit Erschrecken) fest, dass Pokémon eine ganze Menge mit Poker zu tun hat. Auf den kurzen Schock verließ ich für eine Pokémon-Pause erstmal die Halle. Als ich nach einiger Zeit zurückkam, war das Kindergeschrei verschwunden – und mit ihm auch die Kinder. Zurück blieben erschöpfte Teenager und Erwachsene, die noch immer wie gebannt auf Bildschirme starrten. Der Typ, der für den Live-Stream verantwortlich war, saß mit geschlossenen Augen auf seinem Stuhl. Als er sie wieder öffnete, blickte ich in ein erschöpftes Gesicht. Und ich verstand, was Pokémon-Turniere wirklich sind: ein anstrengendes, nervenaufreibendes Denkspiel, bei dem man in Sekundenschnelle die richtigen Entscheidungen treffen muss. Das war mehr, als ich vorher gedacht hätte. Trotzdem gehe ich nächste Woche wieder pokern.