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Wir müssen über Sommerdepressionen reden

Es war ein typischer Samstagnachmittag im Sommer: Die Sonne schien, die Vögel sangen und meine Nachbarn spielten draußen mit ihren Kindern. Das Wetter und die Temperaturen um die 30 Grad musste man in einer sonst eher wolkenverhangenen Großstadt schließlich ausnutzen. Ich hingegen lag in meiner Wohnung auf der Couch und konnte mich nicht bewegen.

Ich fühlte mich wie ein nasser Sack, mein Blick starr auf den Deckenventilator gerichtet. In meinem Kopf ging ich immer wieder die Dinge durch, die ich an diesem Tag nicht geschafft hatte. Ich kam mir wie eine Versagerin vor. Den ganzen Tag lang sagte mir mein Gehirn: “Raff dich endlich auf und mach etwas!” Aber mein Körper wollte nicht mitspielen.

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Alles erschien mir wie eine riesige Last. Ich wollte weder essen noch arbeiten noch irgendwo hingehen. Dank Instagram konnte ich meinen Freunden allerdings dabei zusehen, wie sie sich am Strand vergnügten, Wanderausflüge machten oder sich gemeinsam ein kühles After-Work-Bier gönnten. Dadurch fühlte ich mich natürlich noch beschissener. Ich dachte sogar kurz darüber nach, ein älteres Foto von mir zu posten, auf dem ich draußen aktiv bin. Aber selbst das war mir zu anstrengend.

All diese Gefühle und Gedanken sind nicht nur zufällig im Sommer aufgetreten. Das Ganze erstreckte sich oft über Tage hinweg – und das fast jeden Sommer. Als ich mich selbst und mein Umfeld immer besser verstand, wurde mir klar, dass da etwas nicht stimmte. Als sich meine Symptome noch weiter verschlechterten, ging ich endlich zu meinem Hausarzt. Er sagte mir, dass ich sehr wahrscheinlich an Sommerdepressionen litt. Dabei handelt es sich um eine Form der jahreszeitlich bedingten depressiven Störungen, die vor allem durch äußere Faktoren beeinflusst werden.

Mein erster Gedanke: “Wer wird denn im Sommer depressiv? Ist das nicht eigentlich so ein Winterding?”


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Nach meinem Arztbesuch erzählte ich Freunden von der Diagnose. Ihre Antworten überraschten mich: “Ich hasse den Sommer auch”, schrieb eine Freundin zurück. Während dieser Jahreszeit ziehe sie sich vermehrt zurück, sie habe auch keine Lust auf viele der typischen Sommeraktivitäten. Je mehr ich über dieses Thema redete, desto mehr Bekannte vertrauten sich mir an und erzählten von ihren eigenen Erfahrungen mit dem Sommer-Blues.

Fast ein Zehntel aller Menschen, die an jahreszeitlich bedingten Depressionen leiden, kämpfen vor allem im Sommer mit den Symptomen. “Zwar kann niemand mit Sicherheit sagen, warum manche Leute Sommerdepressionen bekommen, aber es gibt zwei Dinge, die dabei eine große Rolle spielen: Licht und hohe Temperaturen”, sagt Norman Rosenthal, Psychiater und Professor an der Georgetown University Medical School. “Viele verbinden Licht mit Glücksgefühlen und Energie. Bei manchen Menschen erzielt Licht aber die gegenteilige Wirkung. Und die drückende Hitze lässt einen schnell unbehaglich fühlen.”

Man bringt die Trägheit im Sommer oft nicht mit Depressionen in Verbindung, weil die Symptome das Gegenteil zu dem sind, was die meisten Menschen bei Winterdepressionen erleben. “Im Sommer neigen wir dazu, weniger zu essen und Gewicht zu verlieren. Im Winter isst man hingegen mehr und nimmt zu”, sagt Rosenthal. “In den Wintermonaten schlafen wir grundsätzlich auch mehr, während viele Leute im Sommer mit Schlaflosigkeit zu kämpfen haben.”

Abnehmen und lange wach bleiben? Was für viele Menschen gerade in der Badesaison gar nicht schlecht klingt, ist für Leute mit Sommerdepressionen ernsthaft belastend. Der Gewichtsverlust liege laut Rosenthal an unregelmäßigen Mahlzeiten. Durch diese schlechte Ernährungsweise fühlten sich Betroffene dann schlapp und müde. Schlafmangel verursache langfristig gesehen zusätzliche gesundheitliche Schäden.

“Sobald man sich klarmacht, dass es sich um eine ernsthafte Krankheit handelt, kann diese auch behandelt werden.”

“Im Sommer ist man allgemein gereizter und sieht diese negative Stimmung nicht als Depressionen an”, erklärt Rosenthal. Und gerade weil Betroffene in dieser Zeit ständig Urlaubs- und Ausflugsfotos sehen, versuchen viele, ihre depressiven Gefühle zu verdrängen.

Rosenthal sagt, dass es seines Wissens nach zwar keine wirklichen Studien zu Sommerdepressionen gebe, dank Untersuchungen von Menschen mit jahreszeitlich bedingten Depressionen aber immerhin einige Einschätzungen. Denen zufolge kommen Winterdepressionen häufiger vor als Sommerdepressionen. Je weiter südlich man aber kommt, desto verbreiteter werden auch Sommerdepressionen. Grund dafür sind die steigenden Temperaturen und Probleme wie Dehydration und Schlafmangel – all das kann dazu führen, dass man sich gereizter fühlt.

Die Suizidrate erreiche im Frühling und am Sommeranfang ihren Höhepunkt, nicht – wie so oft angenommen – im Winter, so Rosenthal. Das zeigen mehrere Studien aus der ganzen Welt. Grund dafür sei oftmals die gefährliche Mischung aus Depressionen und Gereiztheit.

Die richtigen Schritte zur Genesung

Es gibt jedoch Hilfe. Generell gilt: Je mehr man über Sommerdepressionen redet, desto besser können Betroffene das Thema einschätzen und sich die nötige Hilfe holen. “Sobald man sich klarmacht, dass es sich um eine ernsthafte Krankheit handelt, kann diese auch behandelt und dieser vorgebeugt werden”, sagt der Psychiater.

Was Menschen mit Sommerdepressionen tun können, um die typischen Symptome der depressiven Störung wie etwa Schlappheit zu minimieren? Hier schlägt Rosenthal vor, direkt nach dem Aufstehen in der kühlen Morgenluft einen Spaziergang zu machen, joggen zu gehen oder irgendwie anders Sport zu treiben. So startet man energetisch in den Tag und gibt direkt eine gewisse Intensität vor.

Einen wortwörtlich kühlen Kopf zu bewahren, sei laut Rosenthal eine weitere Taktik, um gegen die Symptome von Sommerdepressionen vorzugehen. Die Temperatur in der Wohnung sollte also immer angenehm bleiben und es empfiehlt sich, nur so wenig Sonnenlicht wie möglich reinzulassen. Rosenthal legt für die Sommermonate auch noch nahe, in Absprache mit einem Arzt über Medikamente nachzudenken.

Was aber am wichtigsten ist: Ehrlich zu sich selbst und seinem Umfeld zu sein. Ich weiß jetzt, dass der Sommer für mich die schlimmste Zeit des Jahres ist, und kann mein Leben dementsprechend gestalten. Ich versuche, so viele kreative Projekte wie möglich in die Wintermonate zu legen, da fühle ich mich besonders inspiriert. Und im Sommer sage ich jetzt immer direkt, wenn ich keine Lust darauf habe, draußen abzuhängen. OK, so verpasse ich vielleicht einen “Sunday Funday” oder ein cooles Festival, aber FOMO wird von nun an nicht mehr meine persönlichen Beziehungen bestimmen.

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