„Ich ficke euch, Bullenschweine!” – Eine Nacht auf Polizeistreife an Berlins Brennpunkten

Berlin-Kreuzberg hat ein Problem: Seit ein paar Monaten hat der Bezirk der deutschen Hauptstadt mit einem massiven Anstieg von Straßen-Kriminalität zu kämpfen. Besonders betroffen sind vor allem zwei Gegenden: Das RAW-Gelände an der Revaler Straße und das Kottbusser Tor. Die Zustände an der Revaler Straße sorgten bereits letzten Herbst für einiges Aufsehen, als einem jungen Mann fast die Halsschlagader aufgeschnitten wurde, weil er sich gegen einen Taschendiebstahl gewehrt hatte. Auch am Kottbusser Tor haben Diebstähle, Belästigungen und Überfälle derart zugenommen, dass die Anwohner mittlerweile, ähnlich wie in Wien, über Bürgerwehren nachdenken—sogar Drogendealer bezeichnen die Gegend als gefährlich.

Mittlerweile sorgt die Situation auch politisch für einigen Ärger: Das Fass zum Überlaufen brachte der Bericht in der Tagesschau, in dem Berlins regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) hilflos versuchte, die Problematik kleinzureden, und die Schuld seinem Koalitionspartner und Innensenator Frank Henkel (CDU) in die Schuhe schob.

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Darunter leidet aber nicht nur der Ruf Berlins insgesamt. Besonders die Berliner Polizei gerät immer öfter ins Visier der Kritik—und möchte das nicht auf sich sitzen lassen. Und so erhielt ich letzte Woche den Anruf einer aufgeregten Pressefrau der Berliner Polizei, mit dem Angebot, mir „selbst ein Bild von der Lage machen” zu können. Sie schlug vor, dass ich die Beamten eine Nacht am Samstag bei ihrer Arbeit rund um das RAW-Gelände begleiten könne.

Selbstverständlich sagte ich zu. Ich wollte wissen: Ist die Lage wirklich so schlimm wie in den Medien besprochen? Und wie geht die Berliner Polizei damit um?

Ein Unterschied wie Tag und Nacht

Ich mache mich also auf den Weg zur Polizeidirektion 5, am Columbiadamm in Kreuzberg. Um 18:00 Uhr soll hier die Lagebesprechung für den heutigen Einsatz stattfinden. Als ich an dem festungsartigen Backsteinkoloss eintreffe, bin ich allerdings nicht alleine—es haben sich bereits drei Kamerateams dort eingefunden. RTL Extra plant wohl einen Beitrag, den Birgit Schrowange dann mit betroffener Miene anmoderieren wird. Böses, gefährliches Berlin mit seiner unkontrollierbaren Kriminalität!

Doch dass der RTL-Mann heute—anders als ich—keine guten Bilder bekommen würde, ahnt er zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Nach einer Weile werden wir vom äußerst freundlichen Polizeisprecher Stefan Redlich begrüßt, dann bewegt sich der Medientross auf den Hof des Polizeireviers, wo 120 Beamte auf ihre Einsatzbesprechung warten. Die Prozedur wirkt militärisch. Die Beamten stehen in Reih und Glied, um ihren Chef anzuhören. Der erzählt, dass das heute alles ein bisschen anders sei, wegen der vielen Kameras—sie sich daran aber nicht stören sollten. Ansonsten erwartet er wie immer viel Motivation und gutes Gelingen. Eine gut gelaunte Gewerkschafterin verteilt dann noch Süßigkeiten und Äpfel, auch ich bekomme einen Schokoriegel ab.

Meinem Fotografen und mir werden die Polizisten Felix und Timo zugeteilt, die beide Mitte 20 sind und uns heute ihre Arbeit erklären sollen.

Wir erfahren, dass der heutige Einsatz rund ums RAW-Gelände in zwei Phasen aufgeteilt sei. Phase I besteht demnach aus Präventionsmaßnahmen. Die jungen Beamten müssen Passanten über die hiesigen Taschendiebe aufklären und entsprechende Flyer verteilen—ihren Gesichtsausdrücken nach zu urteilen, sind sie davon nicht wirklich begeistert. Phase II klingt auch gleich viel spannender: Dann nämlich sollen die bösen Buben gefangen werden und die Festnahmen erfolgen.

Ich nehme in einem der Polizeiwagen Platz und die insgesamt 120 Beamten machen sich mit ziemlich vielen Fahrzeugen per Verbandsfahrt, wie es so schön heißt, auf den Weg nach Friedrichshain. Um eine mögliche Geldbuße zu vermeiden, schnalle ich mich vorsichtshalber an—im Gegensatz zu den Beamten im Wagen.

Es ist eine interessante Erfahrung, in einem Polizeiauto durch Neukölln und Kreuzberg zu fahren. Die Blicke der Passanten—es sind einige—lassen auf alles andere als Sympathie schließen. Doch scheinbar bin ich der einzige, der das bemerkt. Die Beamten im Wagen sind äußert gut gelaunt und unterhalten sich angeregt darüber, ob der Hype um einen berühmten Kreuzberger Gemüsekebab wirklich gerechtfertigt ist—die Mehrheit hat da eher Zweifel.

Als wir an der Warschauer Brücke ankommen, hängen mein Fotograf und ich zunächst eine Weile mit unseren Polizisten Felix und Timo herum, die tatsächlich einen sympathischen Eindruck machen. Genau wie wir scheinen sie auch eher das Gefühl zu haben, dass diese Flyer-Aktion mehr PR-Veranstaltung als effiziente Polizeiarbeit ist.

Relativ schnell kommen wir auf ihren Arbeitsalltag hier in Berlin zu sprechen. Was sie erzählen, wundert mich alles irgendwie nicht. Sie meinen, sie müssten sich andauernd anschreien, beleidigen und teilweise auch tätlich angreifen lassen. „Das ist völlig normal, dass man zum Beispiel von Besoffenen angepöbelt oder beleidigt wird. Dann muss man halt entscheiden, wo höre ich weg, ab wann wird’s mir zu krass, ab wann muss ich etwas unternehmen”, erzählt einer der beiden. Der Respekt gegenüber Polizisten sei äußert gering—was wir später selbst erleben werden. Gerade in Berlin sei es oft schwierig, da die Polizei hier traditionell kein besonders gutes Ansehen genieße. Zu oft käme es vor, dass sich Passanten in ihre Arbeit einmischten, wenn sie zum Beispiel zu dritt jemanden festnehmen.

Sie beklagen auch, dass solche Vorgänge oft gefilmt und dann aus dem Kontext gerissen gepostet werden, im Netz viral gehen und dort Stimmung machen. Eine Festnahme habe in der Regel aber ihren Grund und dass so etwas für Außenstehende nicht schön aussehe, sei auch klar. Felix meint dazu: „Das sieht vielleicht brutal aus, wenn man da mit drei Mann auf einer Person sitzt. Aber manche Leute können unheimliche Kräfte entwickeln, davon ahnt man nichts. Und wir wollen uns auch nicht unnötig in Gefahr begeben. Insofern ist es einfach legitim, was wir tun, und da sollen die Leute sich raushalten.” Ganz so einfach ist es allerdings auch nicht immer—manche Videos scheinen schon sehr deutlich eine überzogene Gewaltanwendung zu zeigen. Das Video kennt Felix auch—und nennt es „völliger Quatsch”. Das sei ungünstig zusammengeschnitten. „Dass da aber vorher vielleicht schon was gelaufen ist, ist dann auf solchen Videos natürlich nicht drauf.”

Die jungen Beamten wollen jetzt mit ihrer Aufklärungsarbeit beginnen, und so trotten wir ganz entspannt zum U-Bahnhof Warschauer Straße, der von der Abendsonne angestrahlt einen fast schon idyllischen Eindruck macht. Wie jeden Samstag ist auch heute wieder gut was los. Touristen fotografieren Streetart oder was sie dafür halten, Feierwütige brüllen Sauflieder und stoßen mit Bierflaschen an, die üblichen Schmiersuff-Opfer taumeln mit sich selbst diskutierend über den Gehweg.

Für die Flyer unserer neuen Polizisten-Freunde interessieren sich allerdings leider die wenigsten. Die beiden wirken ein bisschen wie auf verlorenem Posten. Die meisten Passanten gucken—berlintypisch—in eine andere Richtung, sobald sie angesprochen werden. Insgesamt hat sich vielleicht eine Handvoll Leute breitschlagen und sich über die Taschendiebe in der Gegend aufklären lassen.

„Scheiß Bullenschweine, ich ficke Euch!”

Kaum ist jedoch die Sonne untergegangen, ändert sich schlagartig die Atmosphäre. Die Passanten machen jetzt einen aggressiveren, herausfordernden Eindruck. Die Sauflieder werden nun gerne mal direkt in Richtung Polizei gegrölt und mit einer zusätzlichen Beleidigung versehen. Leute rempeln sich vermehrt an und werfen sich dabei böse Blicke zu. Es liegt alkoholgeschwängerte Spannung in der Luft.

Der erste obdachlose Alkoholiker stürzt über seine eigenen Beine und bleibt stöhnend liegen. Die Jungs helfen ihm entgeistert auf und verfrachten ihn in eine sichere Sitz-Position auf einer Treppe. Der arme Mann brabbelt unverständlich auf Polnisch vor sich hin. Die beiden beschließen, einen Krankenwagen zu rufen, da sie ihm nicht zutrauen, heute noch für sich selbst sorgen zu können.

Eine Chance wollen Felix und Timo ihren Aufklärungs-Flyern dann aber doch noch geben. Sie positionieren sich jetzt am Ausgang des U-Bahnhofes, um die Fahrgäste abzupassen.

Aus einiger Entfernung nähern sich uns zwei Männer, von denen einer lauthals auf einer mir fremden Sprache in sein Handy brüllt. Sie sehen aus wie die oftmals vom Balkan stammenden Straßenmusiker, welche es in Berlin zuhauf gibt und die immer gleichen Lieder performen. Der Typ ist so außer sich, dass er sogar ein Kleinkind übersieht und es mit seinem Trolley, auf dem seine Musikanlage befestigt ist, halb überfährt. Der Mann geht schreiend auf uns zu, bis Timo reagiert: „Geht das auch ein bisschen leiser?” Scheinbar nicht: Der Schreihals baut sich drohend vor Timo auf, hält ihm demonstrativ sein Handy ans Ohr und brüllt ihm direkt ins Gesicht. Ich glaube, er wollte damit ausdrücken, dass er schlechten Empfang hat.

Zu meiner Überraschung bleibt Timo komplett cool und dreht sich einfach weg. Der Handybesitzer interpretiert dies scheinbar als Schwäche und bleibt demonstrativ in unserer Nähe stehen, um weiter in sein Smartphone zu brüllen. Als er dann schließlich fertig gebrüllt hat, will er die Performance seinem dramatischen Höhepunkt zuführen und schleudert sein Smartphone mit voller Wucht auf den Boden. Die Provokation trägt Früchte: Festnahme. Der Delinquent lässt sich regungslos Handschellen anlegen. Auf mich macht er jetzt komischerweise einen entspannten Eindruck.

Als ich die Beamten hinterher fragte, warum man den Mann nun dafür festnehmen müsse, haben sie viel bürokratisches Zeug geredet, was unheimlich langweilig klang und wahrscheinlich jeden Richter überzeugen würde. Ich glaube, es ging einfach darum, diesen Spinner aus dem Verkehr zu ziehen, bevor er für sich oder andere ein Gefahr darstellt.

Während der Schreihals sich also entspannt festnehmen lässt, scheint sein Begleiter, der bisher recht ruhig war, nun auch noch seinen Teil vom Aufmerksamkeitskuchen einzufordern. Der schreit und brüllt die Beamten an und hat dabei Beleidigungen drauf, mit denen andere schon ausgewachsene Staatsaffären ausgelöst haben. „Scheiß Bullenschweine, ich ficke euch!” ist an dieser Stelle ein eher gemäßigtes Zitat. Währenddessen greift er sich permanent in den Schritt und brüllt immer weiter „Ich ficke euch!”.

Die Beamten ignorieren den kleinen Mann aber zunächst, da sie erst einmal den Handy-Brüller in ihr Auto verfrachten und seine Personalien feststellen wollen. Sein kleiner Freund entfernt sich nun, um eine Gruppe Mädchen am U-Bahnhof mit sexuellen Andeutungen zu belästigen. Wieder greift er sich eindeutig in den Schritt und macht dabei Fick-Bewegungen. Das geht unseren Freunden in Blau dann auch zu weit—und so haben wir schon die zweite Festnahme. Unter lautem Protest lässt sich der Mann abführen.

Nach der Aufnahme der Personalien sprechen die Beamten Platzverweise aus, was natürlich erstmal nicht akzeptiert, sondern mit lautem Protest quittiert wird: „Warum soll ich gehen? Ich kann bleiben und gehen, wohin ich will. Was wollt ihr mir sagen? Ich mache, was ich will!” Die Polizisten bleiben jetzt aber cool und ignorieren die beiden einfach, sodass sie irgendwann aufgeben und in die Nacht verschwinden.

Felix’ und Timos Urteil nach war das reine Routine, nicht der Rede wert. Als ich die Szenerie beobachtete und mir die üblen Beleidigungen und Provokationen der beiden Stressmacher anhörte, hatte ich fast schon selber Lust, mich körperlich zur Wehr zu setzen. Wie können die Polizisten da so cool bleiben?

„Das prallt an mir ab. Ich mache meine Arbeit und weiß auch, was ich tue”, erklärt Felix. Wenn er auf jede Provokation einginge, hätte er ja gar keine Ruhe mehr.

Mit Schusswaffe in die Tram

Mit der Ruhe ist es dann auch schnell wieder vorbei. Ein junger Studententyp kommt auf uns zu gerannt und zeigt auf eine Gruppe breitbeinig gehender junger Männer. Sie hätten vorhin in der Tram Fahrgäste mit einer Schusswaffe bedroht und angepöbelt. Schusswaffe, da klingelt es natürlich sofort bei den beiden. Jetzt geht alles ganz schnell. Sofort rennt eine Gruppe Beamter auf die Jungen zu und umzingelt sie. Die Beamten rufen laut: „Polizei, stehen bleiben!” Und wie aus dem Nichts sind auf einmal auch Beamte in Zivil aufgetaucht. Die Pöbler sind sichtlich überrascht von der plötzlichen Polizeipräsenz. Ein Teil der Gruppe kann allerdings flüchten. Drei der Jungen schaffen es nicht, werden durchsucht und festgenommen. Die Waffe haben sie nicht.

Einer der drei ist 14, die anderen beiden 15 Jahre alt, haben gerade ihren ersten Oberlippenflaum und sind schon so routiniert darin, Handschellen angelegt zu bekommen, dass es mich erst traurig und dann wütend macht. Hinterher stellte sich heraus, dass einer der Festgenommenen nicht mal einen festen Wohnsitz hat. Die Nacht musste er in Gewahrsam verbringen.

Wir sind jetzt seit fünf Stunden unterwegs. Die Beamten wollen eine Pause einlegen, bevor sie Phase II mit den Festnahmen einläuten—was sich ja eigentlich schon von selber eingeschlichen hatte. Theorie und Praxis liegen eben auch bei der Polizei nicht nah beieinander.

Wir werden wieder mit den anderen Medienvertretern zusammengeführt und zu einer Art Sammelstelle gebracht, wo auch einige Polizisten warten. Hier erfahren wir, dass die Kamerateams nicht eine Festnahme filmen konnten. Entsprechend enttäuscht blickt gerade der RTL-Mann, als er von unserer Action hört.

Phase II besteht jetzt daraus, dass sich Polizisten in Zivil auf dem RAW-Gelände bewegen, um Dealer oder Taschendiebe zu beobachten. Im Falle einer Straftat würden dann die Cops von der Sammelstelle, an der wir uns jetzt befinden, hinzugezogen.

Der Polizeisprecher beruhigt den RTL-Mann, dass dieser nun Vorrecht genieße und sie ihn ganz bestimmt zur nächsten Festnahme brächten, damit auch er seine Bilder bekommt.

Allerdings passiert erstmal eine ganze Weile lang gar nichts mehr, alle langweilen sich—bis der Polizeisprecher von einer Schlägerei am Kaiser’s direkt um die Ecke berichtet. Wie angestochen springen die Kameramänner auf und sprinten zum nahegelegenen Ort des Geschehens.

Es ist ein bisschen absurd, wie plötzlich mehrere Streifenwagen mit Blaulicht eintreffen und überall Presseleute rumirren, um das spektakulärste Bild einzufangen. Die Beteiligten der angeblichen Schlägerei, von der allerdings nichts zu sehen ist, sind entsprechend verdutzt. Außer dem O-Ton eines Polizisten, der erzählt, wie er sich gerade fühlt, springt fürs Fernsehen nichts raus. Enttäuscht machen wir uns wieder auf den Weg zur Sammelstelle.

Nach einer weiteren Stunde ohne Festnahme verabschieden sich die Leute von der Deutschen Welle—und auch ich denke, dass es nun reicht.

Am nächsten Morgen erzählt mir eine Pressefrau von der Polizei am Telefon, dass der Einsatz insgesamt als gelungen bezeichnet werden könne. Sie meint, es wurden 800 Präventionsgespräche geführt und 400 Flyer verteilt. Am RAW-Gelände wurde nach unserem Abgang nachts um zwei nur noch ein Dealer festgenommen. Wenn der RTL-Mann nicht müde wurde, können wir uns das also bald im Fernsehen anschauen.