Wer die Geschichte der Menschheit, ihre Hoffnungen und Ängste, ihr Leiden und Leben verstehen will, der kann jeden Tag acht Stunden in der SoWi-Bib verbringen und dann nochmal vier auf YouTube zwischen 3Sat-Dokus und LeFloid. Oder aber er geht auf eine Tattoomesse. Denn ob Totenköpfe, Hundeschnauzen, Babyfotos, traditionelle Schriftzeichen oder Disney-Figuren: Es gibt kein Motiv, das nicht irgendwo auf die Haut passt. Und jedes Tattoo sagt etwas über seinen Träger aus. Auch auf der “Tattoo Expo” von Zwickau, im Erzgebirge. Im Konzert- und Ballhaus “Neue Welt”, einem alten Jugendstilsaal im Stadtteil Pölbitz, stoßen am vergangenen Wochenende Hunderte Tätowierte aus der Region auf Gezeichnete aus Bayern, Italien und Polen. Manche von ihnen sind bis in die Augäpfel hinein tätowiert und lassen sich bereitwillig fotografieren. Andere behalten ihre langen Jacken lieber die ganze Zeit an, die Zeichen auf ihrer Haut bleiben verborgen. Sie könnten ihren Trägern sonst Probleme mit der Polizei bescheren.
Philipp und Nicole kommen aus Zwickau, beide tragen bunte Tattoos. Nicole kombiniert die mit einer Ansammlung von Piña-Colada-Obstsalat-Motiven auf ihren langen Gelfingernägeln.
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Das mit den Augäpfeln hätte am wenigsten wehgetan, sagt “The Inked Fighter”, wie sich der Mann aus Frankfurt-Oder nennt. Eine Spritze, das war’s. Und obwohl auf seiner Brust ein wütender Wolf mit gelben Augen bellt, lächelt “The Inked Fighter” fast die ganze Zeit.
Aseo und Püppy waren Sarahs Hunde. Als der Schäferhund Aseo starb, ließ sie sich sein Konterfei auf den linken Oberarm stechen. Das Tattoo sei danach angeschwollen, erst, als auch Jack Russell Terrier Püppy aus dem Leben auf den Arm wich, habe sich der Arm wieder beruhigt. Auf der Innenseite steht “Nichts ist für immer und für die Ewigkeit”.
Das weiß auch Mike aus Nürnberg. Nach dem Tod seiner Oma habe er eine Erleuchtung gehabt, sagt er. Sieben Jahre ist das her, seitdem ziert eine Zeile aus dem Vaterunser seinen rechten Unterarm: “Erlöse uns von dem Übel, damit Rechtschaffenheit gedeihen kann.” Es handelt sich um eine Abwandlung aus dem Actionthriller Der blutige Pfad Gottes.
Jenny aus Glauchau verbindet ihr Tattoo ebenfalls mit ihrem Glauben. Sie ist Christin und schon die Kreuzritter hätten sich ein solches Kreuz einritzen lassen. Der Ritter auf dem Arm von Jennys Partner Martin stützt sich auf ein Schild mit dem Todestag von Martins Vater, dem 18. Juli 2014.
Mit Denise aus Dresden kam auch die amtierende “Miss Tattoo Germany 2017” nach Zwickau.
Antonio (links) und Miguel aus Ilmenau haben beide einen Sinnspruch gefunden, der mit nur acht Buchstaben auf die Knöchel beider Hände passt. Das Eiserne Kreuz in Miguels rechter Armbeuge stehe für seinen nicht mehr existenten Downhill-Radrennclub, die ziemlich breit wirkende Schildkröte von Antonio repräsentiert dessen Angelleidenschaft. Seine Ex-Freundin trage das gleiche Tattoo.
Als ihre Tochter schwerkrank mit einer Gürtelrose im Krankenhaus lag, habe sie jeden Tag mit ihr Schneewittchen geguckt, sagt die Chemnitzerin Stefanie. Nachdem es dem Kind wieder besser ging, ließ die Mutter sich die sieben Zwerge stechen. Ihr Mann (nicht im Bild) trägt den Schriftzug “STEFANIE” im Stile der mittelalterlichen Inkunabeln auf seiner Wade. Für den Mann rechts gibt es noch mehr als Tinte, was er sich in und unter die Haut setzen kann: Er hat sich als Body Modification ein Paar Hörner verpasst.
Stefan (links) und Max sind Freunde aus Eilenburg, die sich gegenseitig tättowieren. “Tättowieren ist mein Leben”, sagt Max, er will sich bis zu seinem Tod immer weiter stechen lassen. Anders als Stefan ist er aber kein hauptberuflicher Tättowierer. Das “JUSTICE” an Stefans Hals füllt Max derzeit noch aus.
Ihre Tochter und ihren Sohn trägt Yasmin immer bei sich.
Mit Tattoos wollen viele der Tattoo-Expo-Besucher ihre “Lebensphilosophie” ausdrücken. Ein Klassiker dabei: traditionelle chinesische Schriftzeichen. Der Mann auf dem Foto links hat sich nicht übers Ohr hauen lassen: Auf seiner Haut steht wie bestellt “Das Gute und das Böse”, das haben wir nachgeprüft.
Aus dem VICE-Netzwerk: i-D: Was Tattoos heutzutage noch bedeuten können
Katharina aus Bayern trägt ihre Hoffnung auf der Haut, wenngleich ihr Sinnspruch eher an X-Factor: Das Unfassbare erinnert.
“Das ist die letzte Träne, die ich einer Frau nachgeweint habe”, sagt Hans. Dass es sonst Mörder sind, die ein solches Tattoo tragen, ist dem Tattoomodelmanager bewusst.
Ein Keltenkreuz trägt diese polnische Besucherin, sie sagt, sie spreche weder Deutsch noch Englisch. Eine Sexpuppe wartet derweil auf ihren Auftritt im “Comedy”-Teil des abendlichen Showprogramms.
Bei dem tritt auch die Deutschrockband Haudegen auf. Die beiden ehemaligen Rapper Sven (links) und Hagen stammen aus Ostberlin. Das hier in Zwickau, das seien “ihre Leute” sagen sie, während sie mit einer Whiskeyflasche in der Hand lachend Autogramme geben.
Nur in Farbe-auf-Fleisch und als Druck auf Shirts vertreten ist die Band Frei.Wild, die in Sachsen wie im Rest Deutschlands viele Fans hat, teilweise hören die auch Haudegen, obwohl das Duo Frei.Wild für ihre “Deutschtümelei” offen kritisiert. Dieser Fan möchte lieber anonym bleiben.
Auf einer Tattoomesse entstehen einige Gigabyte Smartphone-Fotos. Fast jeder ist Besucher und Model zugleich, hält Motive anderer zur Inspirationen fest und posiert im Gegenzug selbst. Nicht alle im Saal wollen allerdings über ihre Tattoos sprechen, geschweige denn sich von VICE fotografieren lassen. Für den Mann auf dem Foto links spricht seine Jacke mit dem Dynamo-Dresden-Schlachtruf “Ost, Ost, Ostdeutschland!“.
Ein Mann erzählt, auf seiner Brust seien Soldaten zu sehen. Leider könne er das Tattoo nicht in der Öffentlichkeit zeigen, da bekäme er Probleme. Andere kombinieren Thor-Steinar-Jogginghosen mit Shirts, die die Schlacht um Breslau verherrlichen. Im Frühjahr 1945, am Ende des Zweiten Weltkrieges, verheizte die Nationalsozialistische Führung hier Tausende Menschen, die als “Volksfront-Einheiten” die Stadt gegen die Sowjetarmee verteidigen sollten.
Ein Mitarbeiter eines Tätowiermagazins erklärt, wie eng Tattoo- und rechte Szene miteinander einhergehen. Die Redaktion achte deshalb peinlichst genau darauf, keine politischen Symbole auf den Fotos zu zeigen, weder NS-Bekundungen noch “A.C.A.B.”. Jedoch: “Teilweise sind die rechtsradikalen Symbole so ausgetüftelt, dass sie selbst auf den zweiten Blick nicht auffallen.”
Auf Tattoomessen, gerade denen im Osten, kämen Punks, Rocker und Rechte friedlich zusammen, sagt der Magazin-Mitarbeiter. Das Interesse an der Kunst verbinde die Leute über politische Gräben hinweg.
Das zeigt sich auch während des “Slap Contests”, bei dem sich immer zwei anwesende Männer gegenseitig mit der flachen Hand ins Gesicht schlagen. Bis einer aufgibt.
Einer der Teilnehmer ist Martin L. Der MMA-Fighter mit dem breiten Kreuz und kurz geschorenen blonden Seiten trägt ein Shirt der Sportgemeinschaft Barbaria Schmölln aus Thüringen. Die schickt Kämpfer zum “Kampf der Nibelungen”, einem von Neonazis mitorganisierten, nichtöffentlichen MMA-Turnier, und druckt die germanische Lebensrune auf ihre Banner. Die Rune kennzeichnete im Dritten Reich die NS-Frauenschaft ebenso wie die Deutschen Apothekerschaft. L. selbst ist auf einem in Ungarn aufgenommenen Foto zu sehen, das ihn am Rande einer nationalistischen Gedenkveranstaltung in Budapest zeigen soll. Und in einem Wettkampf-Video von 2015 schlägt L. selbst dann noch auf seinen Gegner ein, als der bereits benommen am Boden liegt. Beim “Slap Contest” in Zwickau nimmt L. die 500 Euro Preisgeld am Ende mit nach Hause, offenbar stört sich niemand an seiner Anwesenheit.