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Foto: David Zehnder

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Arbeitsmigranten

Wie es ist, für 6 Franken die Stunde in der Schweiz Kranke zu pflegen

Nela Molnár, 63, aus der Slowakei betreut eine pflegebedürftige Frau in der Schweiz. Wie viele andere Frauen aus Osteuropa arbeitet sie 24 Stunden pro Tag, sieben Tage pro Woche.

Nela Molnár hält uns schon die Wohnungstüre auf, als wir aus dem Lift steigen. "Kommt herein", sagt sie und schüttelt uns die Hand. Zwei Stunden werden wir hier bleiben, in der Wohnung, wo Nela Molnár jeden Tag 24 Stunden ist. Bevor sie uns ihre Geschichte erzählt, stellt sie uns der 80-jährigen Frau Müller vor, die im Bett liegt und irgendeine Serie über Berlin im Fernsehen schaut. Um die Privatsphäre der Erwähnten Personen zu schützen, haben wir ihre Namen geändert.

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"In Bratislava habe ich eine Wohnung, in Basel wohne ich in einem Zimmer, 12 Quadratmeter gross. Mit einem Bett, einem Nachttischchen, zwei Stühlen, an der Wand das Klappbett, auf dem ich früher schlief, einem Koffer mit meinen Kleidern. Weisse T-Shirts, weisse Hosen. Ich trage immer weiss, ich will sauber aussehen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges liegt Frau Müller in ihrem Zimmer. Sie ist dement, hört mir zu, spricht aber nicht, schaut fern, verlässt das Bett aber nicht. Früher ging ich mit ihr spazieren, dazu ist sie jetzt zu schwach.

Seit zwei Jahren arbeite ich bei Frau Müller, in der Zweizimmerwohnung weit oben in einem Basler Hochhaus. Nachbar*innen hat es viele, doch ich kenne die wenigsten, ich bin ja meistens in der Wohnung. Seit 20 Jahren arbeite ich als Pflegerin im Ausland – zuerst in Österreich, dann in Deutschland, und seit sieben Jahren in der Schweiz, jetzt gerade in Basel. Hier arbeite ich jeweils drei Wochen lang rund um die Uhr. Pro Tag sind sieben Stunden bezahlt, der Rest ist Präsenzzeit, so verdiene ich 2.800 Franken plus Kost und Logis. Rechne ich diese nicht durch sieben Stunden, sondern durch 24, macht das knapp sechs Franken pro Stunde.

Einmal pro Woche habe ich fünf Stunden frei, immer mittwochnachmittags. Dann fahre ich in die Stadt, eine halbe Stunde hin, eine halbe Stunde zurück. Mir bleiben vier Stunden, das ist nichts. Gestern habe ich mir dieses Halstuch gekauft, 3 Franken 50 hat es gekostet. Immer nach drei Wochen arbeite ich für drei Wochen nicht, dann verdiene ich nichts und wohne bei einer Freundin."

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Nela Molnár ist eine von mehreren tausend Pflegerinnen aus der Slowakei, Polen und Ungarn, die jeweils zwei Wochen bis drei Monate in der Schweiz arbeiten, schätzt die Soziologin Sarah Schilliger, die an der Universität Basel zum Thema Care-Migration geforscht hat. Dazwischen kehren viele ebenso lange in ihr Heimatland zurück, während sie von einer Kollegin vertreten werden.

Seit der Erweiterung der Personenfreizügigkeit 2011 brauchen Angestellte aus den EU-Oststaaten für Aufenthalte von weniger als 90 Tagen keine Bewilligung mehr. So stehen für die Pflegebranche der reichen Schweiz, in der es an Personal fehlt , nun viele günstige und flexible Arbeiterinnen zur Verfügung. Insbesondere für die 24-Stunden-Betreuung in Privathaushalten, für die sich kaum eine Schweizerin oder ein Schweizer finden liesse. Und in der weiterhin verschiedene Gesetzeslücken bestehen, die von der Politik bisher nicht geschlossen wurden . So werden Privathaushalte vom Arbeitsgesetz beispielsweise nicht als Arbeitsort anerkannt, weshalb weder Arbeits- noch Ruhezeitbestimmungen gelten. Das machen sich private Vermittlungsagenturen für 24-Stunden-Betreuerinnen zunutze.

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Sie profitieren von den sozialen Ungleichheiten innerhalb Europas – hohe Arbeitslosigkeit in Osteuropa, tiefere Lebenskosten, tiefere Renten – und schaffen neue Abhängigkeiten: lange Arbeitszeiten, tiefe Löhne, befristete Arbeitsverträge, wenig Sozialversicherungen. Aus Angst vor einer Entlassung schweigen viele Frauen. Nela Molnár arbeitet nur noch bis Ende Mai bei Frau Müller, darum spricht sie.

"Ich werde Frau Müller vermissen. Aber ich werde sie besuchen kommen, irgendwann. In einer Woche werde ich schon nicht mehr da sein, mein Wecker wird nicht mehr um 06:30 Uhr klingeln. Dann bereite ich normalerweise das Frühstück zu, wecke Frau Müller, wechsle ihre Einlagen, pflege ihr Gesicht und ihre Hände, messe den Blutdruck, verabreiche ihr die Tabletten, gebe ihr zu trinken. 09:00 Uhr. Ich beginne mit dem Kochen, vielleicht Gnocchi und Fleisch, vielleicht eine Suppe. 10:30 Uhr. Eine Kollegin von der Spitex kommt, dann waschen wir Frau Müller gemeinsam. 12:00 Uhr. Ich esse mit Frau Müller zu Mittag, das dauert einige Zeit, sie isst langsam. Den Blutdruck messen, das Geschirr spülen, einkaufen gehen, die Wäsche im Keller holen, das Zvieri vorbereiten – und immer wieder schauen, wie es Frau Müller geht. Zu trinken geben, das Kissen ausschütteln, sie auf die andere Seite lagern, von links nach rechts, von rechts nach links, auf den Rücken.

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Frau Müller kann mich nicht rufen. Ich schaue nach, wie es ihr geht. Ich schaue immer. Sie aber macht das Gegenteil von dem, was ich sage: Wenn ich ihre Beine für die Gymnastik beuge, streckt sie sie, will ich sie strecken, will sie beugen. Dann bin ich verschwitzt und Frau Müller auch. Aber sie ist nett, nachts schläft sie, ich habe schon andere erlebt, die schimpften, schrien, aufstehen wollten. Da hatte ich die ganze Nacht nicht geschlafen.

Um 18:00 Uhr eine Tablette, Abendessen, um 20:00 Uhr Tabletten, den Blutdruck messen. 21:00 Uhr. Zähne putzen. Ich wünsche Frau Müller eine gute Nacht. Feierabend habe ich aber noch nicht. Rapport schreiben, einen zur Pflege, einen zur Hauswirtschaft. 22:00, vielleicht 23:00 Uhr. Ich gehe duschen und bevor ich mich ins Bett lege, lagere ich Frau Müller nochmals um. 00:00, manchmal 01:00 Uhr. Ich brauche nicht viel Schlaf. Gestern habe ich sie auf der anderen Seite des Ganges schnarchen gehört. Nein, geärgert hat mich das nicht, sie ist ja krank. Und schnarchen bedeutet doch, dass sie gut schläft, oder nicht?

So wie ich jetzt in die Basler Nacht lausche, ob bei Frau Müller alles in Ordnung ist, bin ich früher in Bratislava aufgestanden, wenn bei meinen beiden Töchtern etwas nicht in Ordnung war. Ich war alleine – geschieden und meine Eltern schon tot. Mein Ex-Mann hat sich nicht für unsere Töchter interessiert, er hatte eine andere Frau, eine andere Familie. Ich wollte meinen Töchtern eine gute Ausbildung ermöglichen. Das war mir immer das Wichtigste. Nach der Auflösung der Tschechoslowakei 1992 wurden Firmen geschlossen, da habe ich meine Stelle als Chemikerin und Leiterin eines Lagers verloren. Also habe ich nochmals sechs Semester Informatik studiert. Ich war schon über 50, zu alt, um noch Karriere zu machen. Dann habe ich einen Pflegekurs gemacht, 400 Stunden. Im Internet bin ich auf die Stellen für Pflegerinnen gestossen und habe – als meine Töchter 17 und 21 waren – entschieden: Ich gehe!

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In der Schweiz fehlt mir die Anerkennung meines slowakischen Pflegekurses. Ich habe versucht sie zu bekommen, aber irgendwann gab ich auf, der Papierkrieg wollte nicht enden. Den Kurs des Schweizerischen Roten Kreuzes kann ich mir nicht leisten, über 2.000 Franken kostet er. Zudem müsste ich eine eigene Wohnung finden und bezahlen. Es ist schwierig, wenn niemand hilft. Gut, ist das Gewerkschaftsnetzwerk Respekt@vpod da. Es hat mir mit einem Arbeitsvertrag geholfen, der nicht in Ordnung war, und hilft mir weiterhin.

Ich frage mich: Wenn ich immer nur gebe, woher soll ich Kraft bekommen? In Deutschland sind nacheinander zwei Patienten gestorben, eine Frau in meinen Armen. Sich danach an einen neuen Charakter, eine neue Krankheit, eine neue Umgebung anzupassen, macht dich kaputt. Viele Patienten mit Demenz sind am Anfang aggressiv, sie verstehen nicht, warum ein fremder Mensch bei ihnen zuhause ist. Sie brauchen Zeit, aber dann sind sie nett. Ich kann die Aggressivität wieder vergessen, das ist ja normal. Ich nehme alles mit Humor. Und es gibt auch schöne Augenblicke. Einer meiner Patienten hat manchmal meine Hand gestreichelt: 'Sie ist die Beste', hat er gesagt. 'Sie ist wirklich die Beste.'

Das macht mich glücklich. Und ich bin dankbar: Meine jüngere Tochter hat dank eines Stipendiums das Studium in den USA abgeschlossen und dort erfolgreich Volleyball gespielt. Meine ältere Tochter ist heute Verkaufsdirektorin eines Reisezentrums, sie hat Tourismus studiert, Praktika in Deutschland gemacht und spricht perfekt Deutsch – im Gegensatz zu mir. Ich hatte keine Zeit das zu lernen, ich hatte die Kinder. Jetzt ist mein Leben in Basel, ich bin hier angemeldet, ich gehe nicht alle drei Wochen zurück nach Bratislava. Ich möchte aber meine drei Enkel sehen, vor allem jetzt, wenn sie klein sind. Nicht wie meine Töchter, die ich wegen der Arbeit nicht oft gesehen habe.

Wer wird mich wohl pflegen, wenn ich nicht mehr andere pflegen kann? Eine zweite Säule habe ich nicht, die dritte sowieso nicht, und die AHV zahlt nicht viel. Ob es für ein Altersheim reicht, weiss ich nicht. Ich würde lieber in der Schweiz alt werden, doch meine Kinder sind in der Slowakei."

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