"Hi, hier ist das Squat Bochum. Kannst vorbeikommen und dich bei uns vorstellen." Auch beim zweiten Telefonat keine Namen. Dass Hausbesetzer nicht ihre Namen nennen, wundert mich nicht. Dass ich sie überhaupt anrufen kann, überrascht mich schon. Eine Presse-Telefonnummer steht auf ihrem Twitter-Profil. Hier berichten sie jeden Tag über den Stand ihrer Sache, die rechtlich gesehen eben nicht ihre Sache ist. Spendenaufrufe, Solidaritätsbekundungen und bedruckte Soli-Jutebeutel ("Home sweet home"): Ist das die Vermarktung einer Hausbesetzung? Aktivismus 2.0? Ist ein guter Draht zur Öffentlichkeit wichtiger als stabile Barrikaden?
Anzeige
Am nächsten Morgen steige ich über eine Leiter, die auf Europaletten steht, durch ein kleines Fenster im Innenhof. Wie sie die Wohnungen geöffnet haben, woher der Schlüssel für das Ladenlokal im Erdgeschoss kommt, will mir keiner sagen. Ich habe eine Einladung zur Geburtstagsparty bekommen, aber mitspielen darf ich nicht. Das Untergeschoss ist verbarrikadiert, alte Schränke und Gerümpel aus dem Keller verhindern den Zutritt. In das Ladenlokal kommt man nur von der Straße aus, deshalb ist im ersten Obergeschoss erstmal die letzte Station.
8:00 Uhr: "Ich glaube, die Bochumer Polizei weiß einfach nicht, wie man räumt."
Nicht so in Bochum. Auch nach knapp drei Wochen sitzen die Hausbesetzer noch in "ihrem" Hinterhof. Mit Elementen der Gebärdensprache lenken sie ihre Diskussion, Händewackeln bedeutet Zustimmung, eine Roll-Bewegung mit beiden Händen heißt "zum nächsten Thema". Diskutieren haben sie an der Uni und alternativen Gruppen gelernt. Jetzt wollten sie mal ein bisschen mehr Action.
Anzeige
Das Haus haben sie schlau gewählt: Richtig verfallen ist es nicht, renovierungsbedürftig schon. An die Vormieter erinnern in einigen Wohnungen noch die Wandfarben in Pastell-Grün und Lila und Tapete mit Schmetterlingsmuster; der letzte Mieter ist letztes Jahr ausgezogen. Die Besitzerin ist eine ältere Frau, die bei der Stadt verschuldet ist. Der Marktwert des Hauses liegt bei 181.000 Euro, bei einer Zwangsversteigerung am 22. Juni soll das Haus einen neuen Besitzer finden. Wenn es nach den Hausbesetzern geht, gibt es die schon. Ihr Ziel: Im 120 qm großen Ladenlokal im Erdgeschoss soll ein selbstverwalteter Nachbarschaftsladen oder ein Kulturtreffpunkt entstehen.
Mehr von VICE: Diese Anarchisten besetzen leerstehende Luxushäuser
Die Wohnungen wollen sie Bedürftigen, Obdachlosen oder Geflüchteten geben. Ein Fall aus Köln zeigt, dass das keine Utopie ist: Vor einem Jahr mietete die Stadt Köln ein Haus an der Zülpicher Straße, um dort zu renovieren und Geflüchtete einziehen zu lassen – und kam damit den Forderungen der Aktivisten nach, die das Haus ein halbes Jahr lang besetzt hatten. Aber es gibt auch Negativ-Beispiele wie die Räumung der Liebigstraße 14 in Berlin zum Beispiel. 2011 wehrten sich Aktivisten dort mit Feuerlöschern gegen die räumende Polizei, am Ende gab es 30 Festnahmen und 8 verletzte Polizisten.Im dritten Stock, in einem rund 40 Quadratmeter großen Zimmer mit Holzbalken, Erker und holzvertäfelter Decke, hängt ein Whiteboard, darauf Fragen für die nächste Diskussionsrunde: Soll das Haus "Alte Dame", "Grüne Freiheit" oder doch lieber "Klaus-Jürgen-Rattay-Haus" heißen, nach einem Hausbesetzer, der 1981 bei einem Polizeieinsatz ums Leben kam? Es ist eine Entscheidung zwischen Nostalgie, Kitsch und Rebellion.
Mehr von VICE: Diese Anarchisten besetzen leerstehende Luxushäuser
Die Wohnungen wollen sie Bedürftigen, Obdachlosen oder Geflüchteten geben. Ein Fall aus Köln zeigt, dass das keine Utopie ist: Vor einem Jahr mietete die Stadt Köln ein Haus an der Zülpicher Straße, um dort zu renovieren und Geflüchtete einziehen zu lassen – und kam damit den Forderungen der Aktivisten nach, die das Haus ein halbes Jahr lang besetzt hatten. Aber es gibt auch Negativ-Beispiele wie die Räumung der Liebigstraße 14 in Berlin zum Beispiel. 2011 wehrten sich Aktivisten dort mit Feuerlöschern gegen die räumende Polizei, am Ende gab es 30 Festnahmen und 8 verletzte Polizisten.Im dritten Stock, in einem rund 40 Quadratmeter großen Zimmer mit Holzbalken, Erker und holzvertäfelter Decke, hängt ein Whiteboard, darauf Fragen für die nächste Diskussionsrunde: Soll das Haus "Alte Dame", "Grüne Freiheit" oder doch lieber "Klaus-Jürgen-Rattay-Haus" heißen, nach einem Hausbesetzer, der 1981 bei einem Polizeieinsatz ums Leben kam? Es ist eine Entscheidung zwischen Nostalgie, Kitsch und Rebellion.
Anzeige
In dem Zimmer treffe ich auf Simon. Bis gerade hatte er Schutzschicht, was heißt: "Aus dem Erkerfenster die Straße beobachten, und per Walkie-Talkie Meldung machen, wenn Polizisten oder Faschisten auftauchen", wie er sagt. Einmal tauchte eine Streifenpolizei auf und bat, leiser zu sein. Und sie berichten, sie hätten einzelne "Faschisten" vorbeilaufen sehen, einer habe das Haus wohl fotografiert. Eine Plaudertasche ist Simon nicht, ein Analyst schon: "Tagsüber wird fast nie geräumt, die brenzlige Zeit ist zwischen drei und sechs Uhr morgens", sagt er. Das habe vor allem pragmatische Gründe: "Jetzt die Herner Straße für eine Räumung sperren? Das wäre ein riesen Chaos." Die Straße ist eine Hauptschlagader im Bochumer Stadtzentrum, Auf- und Abfahrt der A40 sind 500 Meter die Straße runter, Autos aus Dortmund, Recklinghausen, Gelsenkirchen und Herne fahren im Sekundentakt vorbei. Und auch die bisherige Zurückhaltung der Bochumer Polizei sieht Simon pragmatisch: "Ich glaube ja, dass die gar nicht wissen, wie man räumt. Vielleicht sind die auch noch in einem Crash-Kurs." Was alle hier wissen: Hausbesetzungen gegen den Willen des Eigentümers sind Hausfriedensbruch – bei einer Verurteilung kann das ein Jahr Gefängnis bedeuten. Und trotzdem: Im Haus herrscht Ferienlager-Stimmung, als wäre das Schlimmste, was passieren kann, dass der Soli-Tabak alle ist.Im dritten Stock sind mehrere kleine Zimmer bewohnt oder durch Namensschilder reserviert. So sieht also Freiraum für alle aus? "Die Dauerbesetzer brauchen Rückzugsräume, die alle respektieren", erklärt mir Isa später beim Rauchen. Vick ist einer von ihnen. Ohne dass ich ihn danach frage, bietet er mir an, bei sich zu fotografieren. Vorher räumt er aber noch ein paar Bierflaschen weg, kommt dann nochmal wieder, um ein AKP-kritisches Plakat abzuhängen. Ein Hausbesetzer, der gemocht werden und deswegen niemanden verschrecken will.
9:00 Uhr: Offenes Haus, verschlossene Hausbesetzer
Anzeige
9:30 Uhr: "Früher war ich nur ein Sauf-Punk."
Nach ein paar Minuten steht ein Nachbar vor uns: "Ihre Zettel können Sie behalten, wir empfinden das als Belästigung", sagt der grauhaarige Karohemd-Mann. Die meisten anderen Nachbarn sind deutlich freundlicher. Carsten sitzt mit einer Pulle Bier häufig vorm Ladenlokal. Er wohnt direkt daneben, ist Ur-Bochumer, lebt von Hartz IV. "Ich hab' dat ausm Fenster beobachtet", sagt er. "Dass die da rein sind ins Haus."
Er freute sich, dass mal was los ist im Viertel, hat auch schon einen großen Topf Nudeln für die Besetzer gekocht: "Nur an dat vegan habe ich nich gedacht."Andere Anwohner und Unterstützer haben den Kühlschrank, den mobilen Gasherd und eine funktionierende Spülmaschine gespendet, die jetzt in der Küche stehen. Autos hupen beim Vorbeifahren. Ein Fahrer der Bochumer Stadtreinigung streckt kämpferisch seine Faust aus dem Fenster seines orangenen LKWs. Es scheint, die meisten Deutschen freuen sich über ein bisschen Rebellion in ihrer Nachbarschaft.
Anzeige
Die Hymne der Hausbesetzer ist Rio Reisers "Rauch-Haus-Song" von 1972: "Ihr kriegt uns hier nicht raus, das ist unser Haus". Keiner in der Herner Straße 131 war geboren, als der Song rauskam. Manche tragen Zahnspangen, einige kommen erst am Nachmittag, weil sie davor noch in der Schule sitzen. Wissen eure Eltern, dass ihr ein Haus besetzt?
"Ich habe meine Mutter sogar hierhin eingeladen, gekommen ist sie aber noch nicht", sagt Ephraim."Ich wohne sonst alleine, da kriegt meine Mutter das nicht mit", sagt Flex. Keiner der Hausbesetzer ist obdachlos, alle haben eine eigene Wohnung, leben in einer WG oder noch zu Hause. Was sind ihre politischen Ziele? "Ich will mir selbst und anderen beweisen, dass Gemeinschaft funktioniert. Ein Haus für Bedürftige, das geht nicht, wenn es weiter verfällt. Wir wollen es der kapitalistischen Verwertungslogik entziehen, im Ladenlokal einen Raum der Begegnung schaffen."Weniger auswendig gelernt klingt die Antwort von Wiesel: "Früher war ich Sauf-Punk. In einer anderen Stadt war ich schonmal bei einer Besetzung dabei, die hat mich erst politisiert. Ich bin der Meinung, dass Freiheit alles ist. Wenn etwas nicht genutzt wird, warum können wir es uns dann nicht nehmen und etwas Gutes daraus machen?"Schon drei Polizeiautos sind an uns vorbeigefahren. Wäre nicht ein bisschen Aufregung angebracht? "Ne, ne, vor der Autobahnauffahrt ist doch die Wache", erklärt Wiesel.
Anzeige
13:00 Uhr: Plenum mit Emo-Runde
19:00 Uhr: Support aus der Szene
Anzeige
Moderatorin Kati bedankt sich für den Hinweis, lenkt das Gespräch aber schnell wieder auf den Nutzungsplan. Bei dem Treffen zeigt sich, was passiert, wenn drei Generationen Hausbesetzer aufeinandertreffen: Der Baskenmützenmann war bei fünf Besetzungen in den 80ern dabei, erzählt er, auch bei der BO-Fabrik, die im Februar 1982 von 1.000 Polizisten geräumt wurde. Nostalgie und Solidarität haben ihn hergeführt. Der Ex-Steffi-Besetzer will prinzipiell nicht mit der Presse sprechen, dafür mit den Besetzern. Sein Dilemma: Die Presse (also ich) ist an seinen Geschichten interessiert, die aktuellen Besetzer nicht. Sie wollen einen Kiezladen statt Krawall-Tipps.Schon wieder ein Plenum. 15 Leute sitzen bei Kerzenschein zusammen – Strom gibt es nur für die Küchengeräte und im Bad. Eine Meta-Reflexion der abendlichen Diskussion, dann erzählt eine andere Arbeitsgruppe, wie das Treffen mit dem Anwalt gelaufen ist. Briefe an den Bürgermeister und verschiedene Stadtfunktionäre sollen geschrieben werden, um ein Signal zu senden. Die Message: Wir sind gesprächsbereit. Offen ist, ob jemand mit ihnen reden will.Kein Gefühlsgerede beim letzten Plenum mitten in der Nacht. Jetzt geht es um den Ernstfall, welche Taktik gibt es im Fall einer Räumung? Widerstand oder Wegtragen? Die Sorglosigkeit des Tages ist einem wohligen Schauer gewichen. Neun Leute werden heute im Haus übernachten. "Stell dich mal drauf ein, dass du mindesten eine halbe Stunde Zeit hast, bevor die Bullen oben sind", sagt Wiesel. "Wenn du Glück hast, kannst du vor der Räumung noch eine rauchen." Während unten die Tür aufgebockt und die Barrikaden gelöst werden, muss oben ein abgesprochenes Programm abgespult werden: "Das Pressehandy muss vernichtet werden. Aber am wichtigsten ist, dass wir uns alle hier treffen. Dass wir uns auf eine Version einigen, die wir dann den Bullen erzählen. Ob du freiwillig raus gehst oder dich wegtragen lässt, ist deine Sache. Wegtragen ist aber immer gefährlich: Jeder Ausrutscher, jedes Zucken kann als Widerstand gewertet werden. Und dann bist du am Arsch." Auf eines haben sich die Besetzer geeinigt: keine Gewalt, zu keinem Zeitpunkt.Ein paar Tage später, Anruf bei der Bochumer Polizei: Nein, sagt der Polizeisprecher, einen Polizisten für die Beobachtung des Hauses abgestellt haben sie bisher nicht: "Das erledigen wir mit unseren Streifen", sagt er. Seit fast 20 Jahren hat die Bochumer Polizei kein Haus mehr geräumt. "Das letzte war die alte Feuerwache, Anfang der 2000er." Beim Haus an der Herner Straße sehe die Polizei aber aktuell keine akute Gefährdungslage: "Eine Räumung ist für uns die letzte Option, von der wir nicht hoffen, dass sie stattfinden muss." Er sagt, die Stadt spreche noch mit der Eigentümerin, solange so nach einer konstruktiven Lösung gesucht werde, mische man sich nicht ein.
21:35: Reden, reden, reden
00:47: "Wenn du Glück hast, kannst du vor der Räumung noch eine rauchen."
Anzeige
1:30: Und wenn es brennt?
7:30: Kurze Nacht, tiefer Schlaf
Neben den gemeinsamen Plänen ist es vor allem das gemeinsame Risiko, das die Gruppe verbindet. Sie spielen Räuber und Gendarm im echten Leben – und ohne dass der Gendarm vermutlich je kommen wird. Eine Protestdemo in der Bochumer Innenstadt im Falle einer Räumung haben sie trotzdem schon geplant.Folge VICE auf Facebook, Instagram und Snapchat.