An einem schwülen Sommertag betrat ich einen Irish Pub in Moskau. Draußen donnerten auf viel zu vielen Spuren die Autos vorbei, leichter Sommerregen setzte ein, die Menschen eilten ins Trockene. Im Pub stand die Luft, es roch nach Malz und Chicken Wings. Ich nahm einen der wenigen freien Hocker. Bald sollte das Halbfinale zwischen Deutschland und Frankreich bei der EM 2016 angepfiffen werden. Diese Partie wollte ich zusammen mit Alexander Schprygin schauen, dem Ober-Fan, Hooligan-Chef oder gar Verteidigungsminister der russischen Hooligans.
Der heute 40-jährige Schprygin bekam von den Medien in ganz Europa zu dieser Zeit allerhand Titel verliehen. Das lag an seiner Rolle als Chef der russischen Fanvereinigung “VOB” und Sprachrohr auch jener russischen “Fans”, die während der EM Marseille verwüstet hatten. Vor allem mit ihren englischen Artgenossen lieferten sie sich brutale Straßenschlachten, 35 Personen wurden verletzt, vier von ihnen schwer, einer schwebte sogar in Lebensgefahr. Sébastien Louis, ein französischer Experte für Gewaltfans, beschrieb das Vorgehen russischer Hooligans als “Überfall eines paramilitärischen Kommandos”.
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Aufnahmen der Ausschreitungen während der EM in Marseille 2016
Alexander Schprygin hat die Fanvereinigung 2007 mitgegründet. Vor laufender Kamera propagiert er keine Gewalt, relativiert sie aber ständig, nach Marseille sagte er nur, dass “da vielleicht einiges aus dem Ruder gelaufen” sei. Gleichzeitig betreiben die von ihm so Verteidigten paramilitärische Trainings, wie die russische Zeitung Novaja Gazeta berichtete. In abgelegenen Trainingszentren üben sie Nahkampf und zelebrieren eine Art militärischen Drill, der an durch Morast kriechende Fremdenlegionäre erinnert.
Alexander Schprygin wurde aus Frankreich ausgewiesen, reiste erneut ein, postete Stadion-Selfies vom nächsten Spiel. Während russische Hools Europa verwüsteten, hatte ihr Chef die Narrenkappe auf. Wieder wurde er verhaftet, wieder ausgewiesen – und befand sich deshalb am Tag unseres Treffens in Moskau.
Ich war in der russischen Hauptstadt, da ich vorhatte, mein Geburtsland bis in den fernen Osten zu durchqueren. Ich wollte Russland verstehen und darüber schreiben. Moskau stand am Anfang meiner Reise.
Schprygin kam spät, aber er kam
Russlands im Westen ohnehin mieses Image hatte durch die Vorkommnisse in Frankreich natürlich erneut Kratzer bekommen. Nicht zuletzt deshalb, weil die Schläger Zuspruch einiger prominenter Politiker erhalten hatten, da sie doch nur die “Ehre” ihres Vaterlandes verteidigt hätten. Hier war also nicht nur etwas Schlimmes passiert, hier schien sich ein kultureller Graben zwischen Ost und West aufzutun, den ich ausmessen wollte. Dafür schien mir eine Begegnung mit Schprygin ideal. Ich hatte ihn über den von ihm angeführten Fanverband kontaktiert, er hatte schnell eingewilligt.
Nicht allzu eilig hatte es Alexander Schprygin aber, in die Bar zu kommen, die er selbst als Treffpunkt ausgesucht hatte. Ich holte mir schonmal ein Bier, nippte daran und beobachtete eine Viertelstunde lang, wie die letzten Hocker besetzt wurden. Dann kam er endlich.
Schprygin ist ein groß gewachsener, stämmiger Typ, er trug Jeans und Regenjacke – im Kontrast zu seiner Erscheinung wirkte sein nur angedeuteter Händedruck wie eine Parodie.
Aus seiner Vergangenheit ist vor allem bekannt, dass Schprygin früher die berüchtigten Hooligans des Traditionsclubs Dynamo Moskau angeführt und sich im rechtsextremen Milieu getummelt hat. Seit der Gründung der Fanvereinigung “VOB” 2007 gibt er sich, zumindest offiziell, seriös. Wie die Vereinigung organisiert ist und wie viele Mitglieder sie hat, bleibt damals wie heute nebulös. Bekannt war aber, dass sie 2016 in den Gremien des russischen Fußballverbandes mitentscheiden durfte. Da war einer vom Bordstein zur Skyline aufgestiegen.
Er holte sich einen freien Hocker, setzte sich neben mich und schaute direkt nach vorne, zur Leinwand, wo sich die Mannschaften gerade aufwärmten und die Kamera über die Arena schwenkte. “Das Stadion kenne ich”, sagte Schprygin, ohne mich anzuschauen. Er deutete mit seinem Kopf auf das Stade Vélodrome von Marseille.
Russlands Auswahl spielte mies
Als die Bedienung kam und mich Kaugummi schmatzend fragte, ob ich noch ein Bier wolle, bestellte Schprygin einen kleinen Orangensaft. Auch die Bedienung schaute er nicht an, als er mit ihr sprach.
Ich kippte mein Bier herunter und wunderte mich über diesen Mann, der offenbar zu den Menschen gehört, die gerne anwesend, aber nicht da sind. Als ich Schprygin nach seinem persönlichen Fazit der Europameisterschaft fragte, schien er gar nicht an die Randale seiner Gefolgsleute zu denken, sondern, ja, an Fußball. Er sagte: “Wir haben wirklich auf ein starkes Abschneiden unserer Mannschaft gehofft.”
Diese Mannschaft war 2016 eine einzige Enttäuschung. Ein Unentschieden und zwei Niederlagen waren die miese Bilanz. 2018 sieht die Qualität der Mannschaft trotz 5:0 im ersten Spiel gegen Saudi-Arabien nicht viel besser aus. Von einem international wettbewerbsfähigen Team ist die Mannschaft der Russen so weit weg wie der HSV von der Deutschen Meisterschaft.
Um uns herum waren jetzt alle Tische voll, die Leute aßen schnell, tranken langsam, redeten viel und checkten unablässig ihre Telefone, als wären sie, wie gute Moskwiter eben so sind, jederzeit bereit, aufzuspringen und wieder loszuarbeiten. Geld verdienen, um sich die Designerhemden mit am Kragen aufgenähten Firmennamen leisten zu können, die sie alle trugen. Unter Schprygins Regenjacke lugte dagegen ein abgewetztes T-Shirt hervor.
Kurz nach dem Anpfiff sagte er ungefragt und als wäre auf einmal eine Platte in seinem Kopf angelaufen: “Die Engländer haben provoziert. Sie haben den Mittelfinger gezeigt. Sie haben unseren Präsidenten beleidigt.” Er machte eine Pause und schaute mich dann zum ersten Mal an. “Die Franzosen haben vier Sicherheitsleute zwischen die Blöcke gestellt.” Er machte wieder eine Pause. “Vier.”
Anschließend verfolgte Schprygin das Geschehen auf der Leinwand unablässig, aber ohne jede Regung. Ich wurde aus dem Mann nicht schlau, von dem im Netz Fotos aus den 90er Jahren kursieren, auf denen er den Hitlergruß zeigt. Schprygin erklärte zu meiner Frage nach seiner Gesinnung nur, dass “diese ganzen Sachen” lange zurückliegen würden. Früher wären Hooligans und Rechtsradikale zusammen marschiert und hätten auch einige Macht ausgeübt. Aus seinem Munde klang das nach good old times. In dieser Zeit erwarb er sich auch seinen Spitznamen: Comanche.
Irgendwie schien der “Comanche” weit weg
2018. Seit unserem Gespräch vor zwei Jahren ist Einiges passiert. Alexander Schprygin ist zwar noch auf seinem alten Posten aktiv, aber bei den Mächtigen Russlands mit seinen Kampfgenossen offenbar in Ungnade gefallen. Er wurde im Herbst 2016 öffentlichkeitswirksam verhaftet, in einer Toilette, in die er vor der Polizei geflüchtet war. Schließlich kam er aber wieder frei. Während des Confederations Cups 2017, eine Art Testlauf für die WM, wurde er von den Behörden kaltgestellt, seine Fan-ID, die nötig ist, um während eines großen Turniers ins Stadion zu gelangen, wurde entzogen. Er hielt sich fortan laut russischen Medienberichten überwiegend in der russischen Provinz auf.
Auch sein Verband wird nicht mehr von Regierungsstellen protegiert wie noch 2016. Hooligans wurden im Vorfeld der WM zu Gesprächen bei der Polizei vorgeladen. Etwa 400 haben Stadionverbot. Wie viele Hooligans es in Russland gibt, kann niemand genau sagen, aber 2016 zählte die Novaja Gazeta 18 “firms”, also Gruppierungen, die aus einer zweistelligen Anzahl an Kämpfern bestehen. Viele Experten schätzen, dass die Gewaltbrüder während der jetzigen WM ruhig bleiben werden, weil der Staat ihnen diesmal mit voller Härte begegnen dürfte.
Russland will also keine Negativschlagzeilen mehr – und trotzdem bleibt die Furcht vor den russischen Hooligans groß. Ein hoher deutscher Polizeifunktionär warnte deutsche Hooligans kürzlich vor Begegnungen mit ihren russischen Pendants, diese seien “ein anderes Kaliber” und würden Pyrotechnik nutzen so wuchtig “wie kleine Handgranaten”.
Warum aber Alexander Schprygin damals auf dem Höhepunkt seiner Karriere als Schläger-Funktionär so wirkte, als würde er durchgehend auf eine Zitrone beißen, konnte ich nicht herausfinden. Auch sonst war es schwer, ihm etwas zu entlocken. Wenn er etwas sagte, das mehr über ihn verriet, tat er es von selbst, und ohne jeden Zusammenhang. Einmal flüsterte er fast: “Die französischen Polizisten, auch die Männer, die küssen sich zur Begrüßung. Die küssen sich, so links und rechts.” Schprygin schaute dabei nicht etwa angewidert, sondern als wolle er sagen: Ich verstehe diese Welt nicht mehr.
Frankreich gelang dann kurz vor dem Halbzeitpfiff das 1:0, im Pub bestellten sich alle in der Halbzeit noch mehr Chicken Wings. Schprygin saß vor seinem kleinen Orangensaft, nur an und wieder benetzte er damit seine Lippen. Er sagte: “Unsere Hooligans wollten es doch nur machen wie in den guten alten Zeiten.”
Der Fußball? Nebensache
Die zweite Halbzeit zwischen Frankreich und Deutschland lief an, wie ein Soundtrack zu einem Film, den man nicht unbedingt sehen wollte. Schprygin gab hin und wieder seine Äußerungen von sich. “Die russischen Hooligans sind jetzt die Nummer eins in Europa. Ich weiß nicht, ob das gut ist, aber es ist so.” Dann saß er lange regungslos da und schaute nach vorne, als würde er durch die Leinwand durchgucken. “Im Stadion wurde die Mannschaft gut unterstützt. Das Spiel gegen England war leider noch das beste.”
Wieso der Kontrast zwischen dem Mann und seinen Taten so groß war, kann ich auch heute nur vermuten. Hooligans, die auf Alkohol verzichten und bisweilen sogar vegan leben, sind eine Erscheinung der vergangenen Jahre. Dieser moderne Typ Hooligan steht dem alten, fetten und vollgesoffenen Schläger entgegen, diesem aussterbenden Reptil unserer Zeit, das nur noch selten zubeißt. Aber vielleicht ist Alexander Schprygin, als ruhig-melancholischer Russe, der sich nach alten Zeiten sehnt, in denen noch das Faustrecht galt, auch eine sehr prosaische Figur seiner Zeit in Putins Russland.
Zum Schluss sagte er: “Beruhige die Deutschen. 2018 wird die sicherste WM aller Zeiten. Die Polizei hat hier alles unter Kontrolle. Ich weiß, wovon ich rede.” Dann ging der russische Oberfan hinaus, aus der Bar, in die Nacht, in den Regen.
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