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Wie sich der Recklinghausener Paris-Attentäter 20 Identitäten zulegen konnte

Der Beil-Attentäter konnte wohl nur aufgrund von Schwächen im Datensystem „Eurodac“ nicht vorher festgesetzt werden.
Ein professioneller Betrüger mit einem Netzwerk aus 20 falschen Identitäten aus sieben Ländern. Alle Bilder: Anna Neifer

Als der 24-jährige Tarek Belgaclem am Jahrestag der Charlie-Hebdo-Morde mit einem Beil bewaffnet auf Pariser Polizisten zustürmte, ging für den verhinderten Attentäter eine absurde Tournee durch Europa zu Ende. Der Mann kam bei dem versuchten Attentat auf eine Polizeistation ums Leben—seitdem versuchten Ermittlungsbehörden, seine genaue Identität zu klären.

Schnell wurde klar: Der Mann besaß nicht nur eine deutsche SIM-Karte, sondern wohnte auch in einem Erstaufnahmelager in Recklinghausen. In Deutschland war er bei den Behörden als Walid Salihi bekannt, weil er sich unter diesem Namen als asylsuchender Syrer registriert hatte. Tatsächlich stammte er jedoch sehr wahrscheinlich aus Tunesien. Das ergab der Abgleich von Fingerabdrücken.

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Das und vieles mehr wissen die Ermittler mittlerweile über den Mann, der als „Terror-Phantom" bekannt wurde. Nach einer erneuten Razzia in der Recklinghausener Flüchtlingsunterkunft, in der der 24-Jährige zwischenzeitlich gelebt hatte, präsentierte der Direktor des Landeskriminalamtes NRW Uwe Jacob jetzt in Düsseldorf auf einer Pressekonferenz den bisherigen Ermittlungsstand. Das LKA stellte heute außerdem eine stammbaumähnliche Folie vor, die ganze zwanzig Identitäten Belgaclems auflistet, mit welchen er sich in den vergangenen Jahren unbemerkt durch Europa bewegt hatte.

Aber wie konnte das passieren? Zunächst reiste der Mann 2011 nach Rumänien ein (das Land schob ihn zwischendurch nach Tunesien ab, wo er auch ohne Papiere wieder aufgenommen wurde—für das LKA ein weiterer Beweis für seine tunesische Identität) . Seitdem hatte er insgesamt in sieben Staaten Asylanträge gestellt.

Die meisten Identitäten unterhielt er in Frankreich, wo er unter sieben verschiedenen Namen bekannt war. Danach folgte Deutschland mit vier Identitäten, zudem wurde er mit anderen Personalien in Schweden, Luxemburg, Italien, der Schweiz, Rumänien und Österreich identifiziert.

Im Dezember 2013 reiste er über Aachen nach Deutschland ein und wurde einer Flüchtlingsunterkunft in Recklinghausen zugewiesen. Natürlich wurde er dabei kontrolliert, allerdings tauchte in den polizeilichen Datensystemen dann immer der Name Walid Salihi auf. Die Behörden wussten zu diesem Zeitpunkt durch Fingerabdruck-Abgleich bereits, dass er bereits einen Asylantrag in Rumänien gestellt hatte—und leitete eine Abschiebung unter Berufung auf das Dublin-Abkommen ein.

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Noch gibt es allerdings keine endgültige Aussage vom BAMF darüber, wieso seine Abschiebung nicht durchgeführt wurde. Umgekehrt nahm Deutschland 2014 Salihi wieder auf, nachdem er in Stockholm einen Asylantrag stellte, den die Schweden ablehnten. Von Deutschland aus reiste Belgaclem dann nach Paris.

Das jüngst verabschiedete Gesetz zum verbesserten Dateiaustausch soll einen derartigen Identitätsmissbrauch unterbinden: Auch in Ahlen fanden die Ermittler bei einer Razzia vergangene Woche in einer Asyl-Unterkunft Personen mit mehreren Identitäten oder unklarer Herkunft, von denen einige auch Straftaten begangen haben.

Der Direktor des LKA von NRW Uwe Jacob (links) bei der Pressekonferenz am 22.1.

Laut Jacob zeige der Fall die Probleme der europäischen Datenbank „Eurodac". Das System soll Informationen über Personen, die Asylanträge innerhalb von Europa stellen, verschiedenen europäischen Behörden zugänglich machen. Allerdings würden dabei nicht Name, Herkunft oder Geburtsdatum angezeigt, sondern nur, wo und wann die Person einen Asylantrag gestellt habe. So blieben den verschiedenen Behörden in Europa die Identitäten des Betrügers offenbar verborgen. Abschließende Gewissheit über die Identität des Mannes werden erst derzeit laufende DNA-Analysen bringen.

Der Polizei in Recklinghausen jedenfalls war der Mann gut bekannt, mehrmals war er wegen krimineller Delikte aufgefallen. Dies und anonyme Hinweise auf den späteren Attentäter führten schließlich zu einer Durchsuchung in seinem Zimmer in der Flüchtlingsunterkunft.

An diesen Orten in NRW hielt sich der spätere Beil-Attentäter von Paris auf.

Mitbewohnern fiel Belgaclem schon damals negativ auf; sie hielten ihn für durchgeknallt und vermuteten, er hätte Drogenprobleme. Immerhin schien er keine Verbindung zu Al-Qaida zu unterhalten; im Gegenteil: Trotz einer mit Kuli an die Wand seines Wohnheims gekritzelten IS-Flagge, einer Schreckschusspistole in seinem Zimmer sowie etwas salafistischen Propagandamaterials, das die Ermittler auf einem Handy fanden, verdingte sich der Tunesier hauptsächlich als professioneller Betrüger und Kleinkrimineller, der bereits durch 14 Delikte auffällig geworden war.

„Aufgrund unserer umfangreichen Überprüfungen, die wir mit sehr hohem Aufwand betrieben haben, können wir die Existenz eines islamistischen Netzwerkes um diese Person in Recklinghausen ausschließen", sagte Jacob weiter. Eine an diesem Nachmittag abgeschlossene Razzia der Asylunterkunft, in dem sich Belgaclem aufhielt, brachte jedoch keine Ergebnisse diesbezüglich. Man habe keine Hinweise auf Islamisten gefunden, teilte die Polizei aus Recklinghausen mit.