Das Buch Iris von Roten: Eine Frau kommt zu früh – noch immer? besteht einerseits aus der Biografie der Frauenrechtlerin von Roten, die in den 50er Jahren das Frauenstimmrecht und Gleichberechtigung forderte, und andererseits aus einer Bestandsaufnahme der Position der Frau im Jahr 2017. Die Journalistin Anne-Sophie Keller setzt sich darin mit der heutigen Feminismusbewegung und den Forderungen auseinander, denen wir heute begegnen.
Anne-Sophie hat an der Journalistenschule in Luzern studiert und auch schon für VICE geschrieben. Sie setzt sich leidenschaftlich für Feminismus ein und engagiert sich im Kollektiv aktivistin.ch. Wir haben uns mit ihr darüber unterhalten, in welchen Bereichen volle Gleichberechtigung auch heute noch nicht erreicht ist und wer von Roten war, die zu fortschrittlich für ihre Zeit war.
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VICE: Wer war Iris von Roten?
Anne-Sophie Keller: Iris von Roten wurde vor hundert Jahren in Basel geboren. An der Universität Bern promovierte sie in den Rechtswissenschaften, ausserdem war sie Journalistin für das Schweizer Frauenblatt. Ein paar Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs reiste sie in die USA und begann dort mit der Arbeit zu ihrem Buch Frauen im Laufgitter – offene Worte zur Stellung der Frau.
Ihr Buch ist bis heute immer noch ziemlich bekannt. Um was ging es in Frauen im Laufgitter ?
Es war eine gnadenlose Abrechnung mit der frauenfeindlichen Schweiz von damals und wurde zu ihrem Lebenswerk. Mit ihren Forderungen war sie ihrer Zeit weit voraus und traf zu viele wunde Punkte. Schriftsetzer weigerten sich, das Buch zu drucken, Frauenverbände distanzierten sich von ihr, Fremde schmierten das Wort “Hure” an ihre Hauswand, an der Fasnacht wurde Iris von Roten gedemütigt. Ein inhaltlicher Diskurs fand nur am Rande statt.
Sie bekam also Gegenwind von allen Seiten. Wie bist du dazu gekommen über von Roten zu schreiben?
Die Journalistin und Verlegerin Yvonne-Denise Köchli hat eine Biografie über von Roten geschrieben: Eine Frau kommt zu früh – passender könnte der Titel nicht sein. Im Herbst hat sie mich gefragt, ob ich für die Neuauflage der Biografie eine feministische Bestandsaufnahme von heute schreiben möchte. Natürlich habe ich zugesagt.
Weiterlesen: Warum es so verdammt lange dauerte, bis Frauen in der Schweiz abstimmen durften
Als von Roten ihr Buch geschrieben hat, waren Frauen wirklich noch Bürger zweiter Klasse. Sind die Anliegen der damaligen Frauenbewegung umgesetzt?
Ja, die rechtlichen Hauptforderungen aus Frauen im Laufgitter sind erfüllt. Die Gleichstellung der Geschlechter ist seit 1981 in der Bundesverfassung verankert. Die Schweiz hat das Frauenstimmrecht eingeführt, 2002 trat die Fristenregelung und 2005 die Mutterschaftsversicherung in Kraft. Aber wahre Gleichstellung bleibt ein Mythos.
Wo muss sich denn noch etwas tun, damit Frauen wirklich gleichgestellt sind?
In der Politik, auf den Festivalbühnen, auf den Podien, in den Teppichetagen dieses Landes bleiben wir Frauen untervertreten. Frauen übernehmen einen Grossteil der unbezahlten Care-Arbeit und erhalten für gleiche Arbeit noch immer nicht den gleichen Lohn.
Das sind mittlerweile schon fast klassische Forderungen, die ökonomische Punkte ins Auge fassen. Kannst du etwas zu den jüngsten Diskussionspunkten sagen?
Ja, da gibt es durchaus weitere Forderungen. Das Angebaggert werden auf offener Strasse gilt immer noch als das Normalste der Welt. Stillen wird als obszön bezeichnet, aber halbnackte Frauen sieht man in jeder Reklame. Egal, ob man Mutter ist oder nicht wird man verurteilt. Frauen, die ihre Sexualität offen leben, werden als “Schlampen” oder “Flittchen” bezeichnet. Macht man als Frau in der Schweiz den Mund oder die Beine auf, spürt man ganz deutlich, wie weit Gleichstellung hier noch entfernt ist.
Hier ein Auszug aus “Eine Frau kommt zu früh – noch immer?”:
Liberté! Egalité! Fraternité!
Die Französische Revolution war auch in den Augen von Iris von Roten entscheidend für die Geburt der Frauenbewegung: “Allmählich begannen immer grössere Kreise von Frauen aus dem Credo der Revolution die Konsequenzen in Bezug auf die Frauen zu ziehen. In den meisten Ländern der westlichen Kultur schlossen sie sich zusammen und forderten rechtliche Gleichstellung der Frauen auf der ganzen Linie oder doch ihre Besserstellung. Damit war die Frauenbewegung entstanden und die Frauenfrage aktuell geworden. Sie erschütterte in breitem Ausmass die bisherige axiomhafte Selbstverständlichkeit der Männerherrschaft. Von nun an hörten die Diskussionen über die Frage der Gleichberechtigung der Frau nicht mehr auf.”
Wo steht der Feminismus heute? Klar ist: Es ist alles ein bisschen komplizierter geworden. Die offensichtlichen Ungerechtigkeiten wie das fehlende Stimm- und Wahlrecht oder das alte, patriarchale Eherecht wurden beseitigt. Und doch ist die Schweiz von wahrer Gleichberechtigung noch weit entfernt. Diskriminierung heute ist vielschichtig – und oft auch subtil. An Aufgaben für die neue Generation von Feministinnen fehlt es bei Weitem nicht!
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In den USA war es der Feminismus, der die Anti-Trump-Bewegung nicht nur anführte, sondern auch zusammenführte. Schliesslich sind die Frauen die einzige Minderheit, die keine wirkliche Minderheit ist. Mit dem pinkfarbenen Pussy-hat – in Anspielung auf Trumps Skandalspruch “Grab them by the pussy” – erhielt er ein starkes Symbol: Our pussy grabs back. Der internationale Rechtsrutsch und die damit verbundenen konservativen Rollenbilder weckten viele Feministinnen aus dem Dornröschenschlaf: “Durch die aktuellen Ereignisse auf der ganzen Welt entsteht eine Sensibilisierung für Themen, die sonst nicht oft diskutiert werden. Diese regen jede Feministin zum Nachdenken an. Und über diese Themen finden Feministinnen von den unterschiedlichen Seiten und neue Gruppen zusammen”, sagt die Historikerin Fabienne Amlinger. Bestimmt: Die Gefahr des Sich-Verzettelns besteht bei so vielen Baustellen. Doch die Meinungen und Prioritätensetzungen innerhalb der feministischen Bewegung waren schon immer unterschiedlich – die Bewegung hat in Anbetracht ihres fortwährenden Zwiespalts aber Bemerkenswertes erreicht.
Die Schweiz befindet sich mitten in einem feministischen Frühling. FEMINISM IS BACK BY POPULAR DEMAND. Und er macht mobil: Am Abend des internationalen Frauentags, dem 8. März 2017, zogen rund 250 Demonstrantinnen und Demonstranten in Zürich durch die Strassen. Am 11. März schlossen sich 1500 Frauen und Transfrauen für die alljährliche Demonstration des Frauen*bündnis zusammen. Eine Woche später erlebte die Zürcher Innenstadt ihr pinkes Wunder: Weit über 10 000 Demonstrantinnen und Demonstranten gingen für den von zwei 18-jährigen Schülerinnen initiierten Women’s March auf die Strasse. Nett bitten war gestern. Die Gleichberechtigung wird heute laut und deutlich eingefordert. Die anti-feministischen Artikel in diversen Medien sind derweil als gutes Zeichen zu deuten: Die neue weibliche Wut macht vielen Angst – das bedeutet, dass sie ernst genommen wird. In der Schweiz weiss man um die Wichtigkeit des Protests nur zu gut Bescheid: Die Kraft des Frauenstreiks vom Juni 1991 und die landesweiten Demonstrationen nach der Nichtwahl von Christiane Brunner im März 1993 bleiben unvergessen.
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Feminismus ist auch in der Popkultur angelangt. Zahlreiche Blogs und Websites widmen sich dem Thema. International bekannt sind Bitch Media, Jezebel oder auch Penny Red. In Deutschland vermischt das Missy Magazine Politik mit Popkultur, in Frankreich erscheint Paulette. Lena Dunham zeigt mit ihrer Erfolgsserie Girls die ungeschönte Realität weiblicher Twenty-Somethings und wurde zur Stimme einer Generation. Die Sängerin Beyoncé Knowles und sogar das konservative Pop-Sternchen Taylor Swift outeten sich als Feministinnen; Harry Potter-Star Emma Watson wurde UN-Botschafterin und lancierte die Kampagne “HeForShe” – sie soll Männer als Alliierte im feministischen Kampf gewinnen.
Hierzulande ist jüngst das feministische Onlinemagazin Fempop entstanden, ein Projekt von Rahel Fenini, Serena Schindler und Cécile Moser. Letztere schreibt in der ersten Ausgabe: “Ob Dior, Prabal Gurung oder Monki: Statement-Shirts mit feministischen Botschaften sind diese Saison omnipräsent. Dabei vermischt sich Politik mit Konsum und Popkultur, was dem Establishment oft nicht gefällt. Wir finden dagegen: Lasst den Slogan ‘We should all be feminists’ wahr werden!” Der Slogan bezieht sich übrigens auf den gleichnamigen Buchtitel der erfolgreichen nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie. Aus dem Feminismus-Hype wird auch Kapital geschlagen: Fashion goes Feminism. Das Dior-Shirt mit dem Aufdruck “WE SHOULD ALL BE FEMINISTS” wurde zum Kassenschlager, und die Mainstreammarke H&M verkauft Shirts und Accessoires mit feministischen Parolen. Aus Edinburgh kommt, wie die Zeit berichtet, das erste feministische Parfüm mit dem Namen: Damn Rebel Bitches. Und auch von Stella McCartney gibt es einen Female-Empowerment-Duft: Pop. Der Ausverkauf einer Bewegung? Kaum. Jede soziale Bewegung wurde früher oder später kommerzialisiert. In den USA sind “Black Lives Matter”-Shirts weit verbreitet. Und Che Guevaras Konterfei ziert zahlreiche Merchandising-Artikel – also selbst den Vorzeige-Kapitalismuskritiker hat es erwischt.
Natürlich kann man diese Kommerzialisierung kritisieren, aber sie ist auch eine Chance: Popfeminismus und market-place feminism, wie man neuerdings auch sagt, machen die feministische Bewegung breiter und bringen sie wieder ins Gespräch. Andi Zeisler, Mitbegründerin von Bitch Media, schreibt dazu in ihrem neuen Buch Wir waren doch mal Feministinnen: “Nach Jahrzehnten hämischer Spottgesänge über ungekämmte Tussen in Birkenstock-Latschen und unförmigen Latzhosen war der Feminismus nun endlich Mode. Sicher, er kam jetzt in Gestalt trendiger Konsumobjekte für Frauen daher und nicht mehr als ethische Einstellung, die sich mit Menschenrechten verband, doch zumindest sprach man wieder über ihn. Oder etwa nicht?” Klar, ein Feminismus-Rebranding allein genügt nicht. Das kann nur ein Anfang sein für mehr Akzeptanz. Aber wer sagt, dass die ethischen Werte auf der Strecke bleiben müssen?
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Jede neue Generation hat ihre eigenen Kämpfe, ihre eigenen Errungenschaften, ihre eigenen Erfolge, ihre eigenen Niederlagen. Auch der nächste Backlash wird kommen. In konservativen Medien wird die feministische Bewegung, die inzwischen ja sehr pluralistisch ist, gerne als einseitiger Furor bezeichnet, als übertrieben, als linkes Hirngespinst. Gerade in der Schweiz gebe es doch nichts mehr zu bemängeln. Feministinnen werden deshalb beschimpft, gedemütigt, bedroht, ausgelacht und angegriffen.
Iris von Roten wusste solch diffuse Anwürfe zu kontern: “Je verlegener man um sachliche Argumente ist, um so rascher greift man zum unfairen Mittel des unanständigen persönlichen Angriffs. Je nach Zuhörerschaft kann man damit einen Stimmungssieg ergattern.”
Daily VICE trifft: Madame Gandhi, Schlagzeugerin und Aktivistin
Feminismus hat im postfaktischen Zeitalter einen schweren Stand. Konservative Fake-News-Seiten wie Breitbart florieren, Fakten werden als Verschwörung abgetan, sachliche Artikel und Studien als Produkte der “Lügenpresse” abgestempelt. Der mächtigste Mann der Welt lügt am Laufmeter und hat damit sogar noch Erfolg. Auf der anderen Seite werden Opfer von sexueller Gewalt als Hochstaplerinnen, die Aufmerksamkeit brauchen, bezeichnet. Was tun in einer Zeit, in der die Wahrheit keinen Wert mehr hat? In der sogar Selbstverständliches wie das Recht, über den eigenen Körper entscheiden zu können, immer wieder verteidigt werden muss?
Durchbeissen. Feministische Errungenschaften kamen noch nie über Nacht – schon gar nicht in der Schweiz. Das Frauenstimmrecht oder die Fristenregelung sind nur zwei Beispiele dafür. Aber wir Feministinnen machen das, was wir schon immer gemacht haben: We persist. Wir harren aus, wir kämpfen weiter, wir bleiben dran.
Liberté! Egalité! Sororité!