Als Klara* in der Taverne von Goldhain ankommt, sieht sie strippende Zwerge und nackte Elfen. Sie erwartet Cybersex, sinnliche Chats, ein bisschen Rollenspiel. Doch was sie bekommt, sind Geschmacklosigkeiten und Gewaltfantasien. “Geil, Wichse für alle!” ruft ein Zwerg in die Taverne, die fast jeder WoW-Spieler auf seinen Reisen durch die riesige Fantasy-Welt einmal durchquert haben dürfte.
Der Zwerg läuft einem Ork hinterher, der mit einer Schneekanone durch das Gasthaus rennt. “Bist du geil? Wie ist deine Handynummer?” ploppt kurz darauf im Chat auf. Wer sich in der Taverne aufhält, trifft schnell auf Figuren wie die Nachtelfe, die in Reizunterwäsche auf dem Bildschirm auftaucht, ihr Gegenüber intensiv mustert und kurz darauf in Großbuchstaben nachlegt: “Ich ficke dich bewusstlos!”
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Klara geht, doch draußen warten bereits andere Spieler auf sie, umringen ihre Magierin und schießen leuchtend weiße Zaubersprüche in die Luft. Klara loggt sich aus. Was zum Teufel ist gerade passiert? Sie hat die “Rape-Taverne” von World of Warcraft entdeckt.
Ein Rollenspiel im Rollenspiel
Szenen wie diese haben wir während unseres Aufenthalts in der Taverne von Goldhain regelmäßig erlebt. Dieser Ort gilt in World of Warcraft als die inoffizielle Swinger-Hauptstadt des berühmten Online-Rollenspiels: Jeden Tag treffen sich hier tausende Spieler und haben als Elfen, Orks und Pandas Sex. In Chat-Form. Nicht selten sind die Spielfiguren der Gäste bis auf die Unterwäsche entkleidet – das gehöre zum guten Ton, erklärt WoW-Spieler Frank* gegenüber Motherboard. Frank besucht seit 2009 regelmäßig das “Goldhain Inn”, wie Stammspieler das Gasthaus auch nennen. Er spielt hauptsächlich auf den sogenannten “Roleplay Servers”, die explizit für Rollenspieler gedacht sind und das traditionelle Zuhause der Erotik-Community darstellen. Auf den klassischen Servern hingegen ist die Taverne meist nahezu leer und wird nur von Durchreisenden besucht.
“Niemand weiß, wann das so richtig angefangen hat. Aber hier hat sich schon alles um Cybersex gedreht, als ich mit dem Spiel angefangen habe”, führt er weiter aus. “Früher war es dabei noch wichtig, sich gewählt auszudrücken und gegenseitig zu respektieren, um einen gewissen Gesprächsstandard zu halten. Es gab eine richtige Erotik-Kultur hier. Mittlerweile ist das aber den meisten egal.”
Damit spricht der WoW-Fan ein Phänomen an, das uns schon bei den ersten Besuchen in Goldhain auffiel: Der Umgangston und das generelle Verhalten der Spieler sind in dieser Kneipe immer wieder außerordentlich aggressiv. Mehrfach nennen Stammgäste im Gespräch mit Motherboard das “Goldhain Inn” einfach nur “Rape-Taverne”, die “Vergewaltigungstaverne” – und streuen dabei vielsagende Zwinkersmileys in den Chat.
Ein WoW-Spieler, der anonym bleiben möchte, erfuhr von unserer Recherche und gab uns die Email-Adresse der 26-jährigen Klara, die schon als Teenager in erotischen Online-Chats aktiv war. Heute arbeitet sie als virtuelle Escort-Dame auf den Servern des Videospiels Second Life gegen Bezahlung. Durch diese Tätigkeit erfuhr sie auch von der Erotik-Community in World of Warcraft und wollte sich das einmal persönlich ansehen.
“Es sollte ein gemütlicher Abend werden. Ich erstellte mir eine Magierin und reiste direkt nach Goldhain. Die Taverne war randvoll, alle Gäste trugen schrille Kostüme oder einfach gar nichts. Ich habe noch nie so viele lila Brüste gesehen. Ich dachte, ich bin in einem echten Sexclub gelandet”, erzählt Klara. Nach einigen Minuten wurde die erfahrene Rollenspielerin von verschiedenen Tavernen-Gästen öffentlich und auch privat angeschrieben: “Ich wurde gefragt, ob ich Sex haben will. Das hat mich nicht groß gewundert und ich habe nach den Gesprächsregeln gefragt, wie ich es auch von meiner Escort-Arbeit in Second Life kenne.” Daraufhin eröffneten ihr mehrere Spieler, dass es nur um “Animationen” ginge, statt um sinnliche, lange Beschreibungen intimer Momente, wie Klara sie von Second Life kennt.
Mit ihrem Angebot meinten die Spieler das Nachahmen von Sex mit Hilfe einiger Tanz-, Kampf- oder Zauber-Animationen. “Ich habe das ziemlich banal gefunden und höflich verneint. Anschließend verließ ich die Taverne und bemerkte, dass mir eine Gruppe von ihnen folgte.” Kurz darauf kommt es zu verstörenden Szenen, wie Klara beschreibt: “Eine Menschin wollte mit mir unbedingt einen 69-er machen, während ein paar Paladine zusehen und mit ihren Zaubersprüchen, die ein weißes Licht ausstrahlen, einen Samenerguss imitieren.” Darauf schrieb Klara nochmals ein deutliches “Nein!” in den Chat, woraufhin die Spieler sie umkreisten und weiter bedrängten. Der unangenehmen Situation entkam Klara, in dem sie sich komplett ausloggte und das Spiel beendete. “Den Charakter habe ich gelöscht und bin seitdem nie wieder zurückgekehrt”, erklärt sie uns.
“Wir bekommen keine Hilfe!”
Szenen, wie Klara sie beschreibt, begegnen uns bei der Recherche mehrfach: Noch während wir unsere Interview-Fragen in den Chat schreiben, reiben sich immer wieder halbnackte Spieler-Avatare an unserer Menschin. Wir werden gefragt, wie viel “eine Runde kostet”, ob wir im echten Leben “geil anschaffen würden” oder wie alt wir sind. Sobald die Situation und der Chatverlauf zu unübersichtlich werden, verlassen wir die Taverne, allerdings nicht ohne, dass uns ein paar Spieler folgen.
Später erfahre ich im Gespräch mit einigen der Täter, dass eine Flucht der Opfer “richtig geil” sei, weil das genau so wie bei einer echten Vergewaltigung sei. Die Verfolgungsjagd wird zum Teil ihres Rape-Rollenspiels, das sie noch mehr dazu anstachelte, unsere Spielfigur einzuholen.
Nach drei solcher Begegnungen ändern wir schließlich unsere Strategie und sprechen den Angreifer direkt auf das an, was er da gerade versucht. “Vergewaltigung ist auch eine Art erotisches Rollenspiel”, erklärt uns die Nachtelfe, die eben noch angekündigt hatte, mich direkt in der Taverne “bewusstlos zu ficken”. Ein Zuhörer stimmt ihm zu und ergänzt: “Unzüchtiges Verhalten, mehr nicht.”
“Wem das nicht gefällt, der kann sich ja jederzeit ausloggen.” Diesen Satz hören wir häufig im Gespräch mit den Spielern, die nichts gegen diese Angriffe haben. Alex*, ein langjähriger WoW-Fan, der mit seiner Panda-Spielfigur schon viele derartige Szenen in Goldhain beobachtet hat, fasst zusammen, was an dieser Einstellung problematisch ist: “Es ist eine klassische ‘Friss oder stirb’-Mentalität, die diese Rape-Spieler haben. Goldhain ist auf fast allen Roleplay-Servern in ihrem Besitz und wem das nicht gefällt, der muss diesen eigentlich so schönen Ort meiden. Das verdirbt allen den Spaß hier.”
Doch auch das Verhalten des Entwicklerteams von Blizzard kritisiert der WoW-Veteran: “Wir bekommen hier einfach keine Hilfe. Es gibt zwar ein Melde-System, doch das ignoriert Blizzard schon seit Jahren. Die bekanntesten Schwerenöter tauchen hier immer wieder auf.”
Die Probleme der betroffenen Spieler mögen vielleicht nach Augenwischerei klingen, immerhin sprechen wir hier von Vorfällen, die sich nur auf dem Bildschirm und in einer Fantasiewelt abspielen. Dabei wird aber schnell übersehen, wie diese Erlebnisse diejenigen belasten, die selbst Opfer der Angriffe geworden sind: Viele Spieler, mit denen wir ins Gespräch kamen, betonten, wie unangenehm diese Situationen immer wieder für sie seien.
In den Interviews erklärten uns Opfer dieser Angriffe, dass sie sich trotz der Größe der Spielwelt plötzlich eingeengt fühlten und schlichtweg nicht wollten, dass ihrer Figur, zu der sie eine Bindung aufgebaut hatten, so etwas passiert. Dazu kommen die expliziten, häufig rassistischen und sexistischen Beleidigungen, die von den Angreifern ausgehen und das Gefühl verstärken, in dieser Spielwelt nicht mehr sicher oder willkommen zu sein.
Das Phänomen der “Rape Taverne” ist dabei tatsächlich nicht neu: Beiträge, die viele Jahre zurückreichen, schildern immer wieder verstörende Erlebnisse in Goldhain und verlangen ein Einschreiten von Blizzard. Direkte Stellungnahmen zu diesen konkreten Vorwürfen sind über die Jahre nur schwer zu finden. 2010 kündigt Blizzard an, regelmäßig “Streifen in zivil” durch Goldhain zu unternehmen und alle Spieler mit einer Auszeit zu bestrafen, die in ihrer Anwesenheit gegen die Community-Richtlinien verstoßen. Mit Blick auf die heutige Situation scheint dieser Entschluss nur wenig geholfen zu haben. Wir bitten Blizzard um ein aktuelles Statement, aber auch nach sieben Tagen gibt es keine Antwort auf die Anfrage.
In den Augen der meisten WoW-Fans wurde das Schicksal von Goldhain bereits 2008 mit der Erweiterung Wrath of the Lich King besiegelt: Dank eines neuen Features mussten sich Spieler nun nicht mehr erst in Tavernen und ähnlichen Orten treffen, um ein gemeinsames Abenteuer zu starten. Stattdessen übernahm ein “Dungeonbrowser” die Gruppenbildung und machte es überflüssig, sich in Dörfern wie Goldhain vor einer gemeinsamen Quest zu verabreden. Zurück blieb die erotische Rollenspiel-Community, die das Dörfchen weiterhin als Treffpunkt nutzte, sich aber bald von der wachsenden “Rape Community” zunehmend belästigt fühlte.
Bröckelnder Jugendschutz
Neben der Tatsache, dass die aggressiven Mitglieder dieser “Rape Community” anderen Spielern den Spaß verderben, sie in überaus unangenehme Situationen versetzen und sie sogar dauerhaft aus Goldhain vertreiben, gibt es noch ein weiteres Problem: Den Jugendschutz.
In Deutschland ist World of Warcraft ab 12 Jahren freigegeben und dank einer laufenden Promo-Aktion für Anfänger kostenlos spielbar, bis sie Level 20 erreicht haben. Je nachdem für welches Spielvolk sich die Neulinge entscheiden, liegt Goldhain in unmittelbarer Nähe zum Startgebiet und kann mit einem kurzen Fußmarsch erreicht werden. Die Chance besteht also durchaus, dass ein Minderjähriger in die “Rape Taverne” gerät, wo auch regelmäßig nach Handynummern oder “Realbildern” gefragt wird. Gerade auch aus diesem Grund wäre es wichtig, dass sich Blizzard Goldhain zuwendet und überlegt, wie sie Beschwerden und Reportings gründlicher nachgehen und umsetzen können.
Die virtuellen Täter, mit denen ich mich unterhalten habe, wollen unterdessen von diesem Szenario nichts wissen, dass sie eventuell auch an Minderjährige geraten könnten: Immer wieder hören wir Ausreden wie “Abends sind doch keine Kinder mehr wach” oder “selbst schuld”.
Nach unserem Aufenthalt in Goldhain müssen wir das Fazit ziehen, dass der Mikrokosmos dieses Dorfes nach ganz eigenen Regeln funktioniert, die teilweise die Nutzungsbedingungen von World of Warcraft verletzen. Während jeder unserer Besuche auf den unterschiedlichen Rollenspiel-Servern konnten wir Spieler antreffen, die uns nicht nur innerhalb der Spielwelt enorm bedrängten, sondern auch regelmäßig versuchten, an echte Bilder oder Kontaktdetails zu gelangen.
Ein Schuldbewusstsein dafür gibt es nicht, vielmehr wird das konsequente Wegsehen von Blizzard als Billigung interpretiert, den ehemals erotischen Chat auf Ingame-Vergewaltigungen auszudehnen. Gäbe es eine Art virtuelles Reiseverbot, so müsste es wohl für das Dorf Goldhain ausgesprochen werden.
*Name von der Redaktion geändert