Wer kennt es nicht? Kurz vor 13 Uhr wird man leicht schnippisch, die schlichteste Aufgabe wird zum unbezwingbaren Mount Everest und überall schleichen sich Fehler ein. Während der Blutzuckerspiegel langsam sinkt, steigt die Ruppigkeit. Das Phänomen beschreibt sich im Englischen als „hangry”, ein Amalgam aus den Worten „hungry” und „angry”. Schlau, diese Erfindung.
Das Wort hat sich in unseren kollektiven Zeitgeist geschlichen. Wer möchte, kann T-Shirts kaufen, die auf den „hanger” und dessen Folgen Bezug nehmen. So stolz durften wir noch nie auf unsere Wut und den Hunger sein. Es gibt Menschen, die können sogar nicht einschlafen, wenn der Magen knurrt. Man könnte fast meinen, ihr Magen ist mit Wut statt Nahrung gefüllt.
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Um die Wissenschaft dahinter zu verstehen, muss man zunächst wissen, dass alles, was der Mensch isst, in seinem Körper zu Zucker, Amino- und Fettsäuren zerlegt wird. Nachdem diese in unsere Blutlaufbahn gelangt sind, strömen sie zu den Organen und versorgen unseren Körper mit Energie. Einige Zeit nach der letzten Nahrungsaufnahme sinken die Zuckerwerte des Körpers. Der Großteil des Organismus kann sich auf andere Nährstoffe verlassen, wenn der Blutzuckerspiegel fällt—doch das Gehirn benötigt Einfachzucker, um richtig zu funktionieren und schätzt solche Situationen als lebensgefährlich ein.
Niedrige Blutzuckerwerte wirken sich in erster Linie auf unsere Konzentration aus. Sie lässt nach und sinnlose, leicht vermeidbare Fehler entstehen. Manchen fällt es schwer, sich in diesen Situationen der sozialverträglichen Norm anzupassen (anderen gelingt es selbst mit gut gesättigtem Bauch nicht, aber das nur nebenbei). Meist ist man schlau genug, seinen Vorgesetzten nicht von der Seite anzuranzen. Dafür bekommen der Partner oder die Freunde es umso stärker zu spüren.
Das Gehirn sorgt dafür, dass im Körper Hormone ausgeschüttet werden. Während der gegenregulatorischen Reaktion werden Glukagon, Cortisol und Adrenalin freigesetzt. Ziel ist es, die Blutzuckerwerte zu regulieren. Gleichzeitig handelt es sich hierbei aber auch um Stresshormone, die der Körper in Stresssituationen wie Kampf oder Flucht freisetzt. Und genau wie man in solchen Momenten aus Angst, Frust oder Wut schreit, können beim „hanger” ähnliche Kurzschlussreaktionen hervorgerufen werden. Denn das Gehirn sieht rot und will nur noch eins: Essen. Dabei wird alles andere zweitrangig. Wenn wir Hunger haben, schreit unser Gehirn förmlich nach Glucose.
Hunger und Wut werden vom gleichen Gen kontrolliert. Neuropeptid Y ist das Resultat von solch einem Gen: eine natürliche Gehirn-Chemikalie, die vom Körper bei Hunger ausgeschüttet wird und gieriges, fast animalisches Fressverhalten stimuliert. Neuropeptid Y und dessen Y1 Rezeptoren regulieren zugleich Wut und Aggression. Wer eine hohe Anzahl von Neuropeptid Y in der Rückenmarkflüssigkeit hat, tendiert dazu, ein hohes Maß an impulsiver Aggression aufzuweisen.
Im Endeffekt ist „hanger” ein Überlebensmechanismus. Wenn hungrige Organismen sich zurücknehmen und anderen gnädig beim Essen zuschauen, stirbt die Spezies aus. Ganz einfach. Natürlich spielen bei jedem Menschen psychosoziale Faktoren und kulturelle Einflüsse eine starke Rolle, wenn es darum geht, wie der „hanger” ausgelebt wird und vor allem, wie und ob man seine Wut aggressiv und verbal artikuliert. Wenn der „hanger” kommt, am besten etwas Nahrhaftes essen: Avocados und Nüsse machen sich gut. Schlecht wäre in diesem Fall ein Snickers, auch wenn die Marketingabteilung hier versucht, der Öffentlichkeit etwas anderes zu verkaufen.
Hat man nichts zum Einverleiben zur Hand, ruhig Blut: Bald setzt die gegenregulatorische Reaktion ein und hilft, die Blutzuckerwerte zu stabilisieren. Also: Kein Grund, ein emotionales Blutbad anzurichten.
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