Aus der Make Believe Issue 2015
Es dämmerte bereits, als er die letzten Kunden mit Earl Grey und grünem Jasmin versorgt hatte, die sie fest umklammert davon trugen. K schloss die Türen seines kleinen Ladens in Montreals Quartier Latin und ließ die Rollläden herunter. Ein paar von uns hatten sich schon eingefunden. Als es völlig dunkel geworden war, gesellten sich noch einige weitere dazu. Wir rückten sechs Tische zusammen, brachten das Wasser in zwei elektrischen Kochern bis gerade an den Siedepunkt und packten langsam unsere Beute aus—Alupäckchen mit Hongkonger Adressen, Plastikbeutel mit getrockneten grünen Kräutern und aufgekritzelten Notizen. Diese erlesene Gruppe von Sammlern hatte sich in Nordamerikas bestem Teeladen zu einem Wettstreit eingefunden, den K offiziell mit „After Hours” betitelte. „Denk an ‚Fight Club’”, meinte er. Alle bringen ihre beste Ware mit und hoffen, unter dem Deckmantel der Kameradschaft zur Erleuchtung zu gelangen.
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Wir würden 15 bis 20 Tees in mehreren Aufgüssen probieren. K fragte, ob ich jemals von Tee betrunken gewesen sei. Ein ganzes Teeblatt setzt Koffein zwar viel langsamer frei als gemahlene Kaffeebohnen, doch je mehr Mitspieler, desto wahrscheinlicher das Erlebnis eines mentalen Gamelan-Konzerts. „Wenn du große Mengen Tee trinkst wie wir heute Abend”, erklärte K, „fühlst du dich angenehm berauscht, denn Tee wirkt anregend und beruhigend zugleich.”
Teeliebhaber verschmähen Zucker. Milch gilt ihnen als Sakrileg. Sie machen Tees von vollendeter Leichtigkeit ausfindig, die oft aus winzigen „Gärten” in Darjeeling, Taiwan und Südchina stammen. Doch diese seltenen Teesorten köcheln in der Koffeinkultur seit jeher auf der kleinen Flamme, dorthin verbannt in dunkler Erinnerung an die trübe Plörre von Oma. Für Kaffeetrinker ist Tee schlicht Schmutzwasser. Allerdings entdecken immer mehr Menschen den 5.000 Jahre alten Stammbaum und die gesundheitsfördernden Vorzüge von Camellia sinensis für sich, was ihr zu einem unerwarteten Durchbruch verholfen hat.
K habe ich 2012 an der University of California, Davis auf einer Konferenz über Terroir kennengelernt. Mit seinem betont britischen Akzent und der fast schon bedrohlich wirkenden klaren, sanften Aussprache war er eine Verkörperung des Teekenners. Wir genossen einen legendären Cabernet von einem der besten Weingüter Napas, und die Weinkenner in der Gruppe beschrieben wortreich sein „volles Bouquet” und die „Cassisnote”. Dann stellte K sein Glas ab und meinte: „Der hat genau in der Mitte ein Loch.” Wir verstummten und starrten auf unsere Gläser, denn nun, da er es ausgesprochen hatte, schmeckten wir tatsächlich genau in der Mitte ein Loch. Ich blieb in Kontakt, kaufte Tee, wann immer ich in der Stadt war, und hin und wieder schob er mir ein wenig Ware zu, die meine finanziellen Mittel überstiegen hätte. Einerseits war es spannend, einen Einblick in die höchsten Sphären des Tees zu bekommen, in die himmlischen Aromen, die mit nichts anderem auf Erden zu vergleichen sind, andererseits war es deprimierend zu erkennen, in welchen Niederungen ich herumirrte.
Eines Tages ließ K mich wissen, dass er demnächst ein paar äußerst seltene Köstlichkeiten aus Asien mitbringen würde. „Ich garantiere dir, dass eine Verkostung auf diesem Niveau nirgendwo sonst in Nordamerika stattfindet”, versicherte er mir. Ich bekniete ihn so lange, bis er mir erlaubte, dabei zu sein, allerdings ohne Kamera und anderes journalistisches Zubehör. Die erste Regel des Tea Club: Du verlierst kein Wort über den Tea Club. „Darf ich Notizen machen?”, fragte ich. „Alle machen Notizen”, entgegnete er. In Ks Laden standen und lagen überall auf den Tischen Notizblöcke, Teepäckchen und unzählige Teekannen herum—einige dreieckig, andere bauchig, die einen aus Eisen, die anderen aus Ton. Im Vergleich zu westlichen Modellen waren sie winzig. Wahrer Tee ist für Lipton das, was für Folgers Espresso ist.
Mehrere Hände voll Teeblätter werden für einen kurzen, kräftigen Aufguss in zierliche Teekannen gestopft. Nach ein paar Tassen schlägt der Verstand Purzelbäume. Unsere erste Tasse war ein goldener Bi Luo—„Frühlingsschnecke”—aus Yunnan. Wir setzten die Kannen auf Teeboote—flache Holzschalen mit lamellenartig durchbrochenen Deckeln—und füllten sie bis zum Rand mit Wasser auf. Dann drückten wir die Deckel in die Öffnung, sodass das Wasser an den Teekannen hinunter in die Schalen lief. Der Tee war gut und malzig, doch mit Lob hielt man sich zurück. Dieser war nur zum Aufwärmen. Darauf folgte ein Yiwu, der von jahrhundertealten wilden Teesträuchern geerntet wird, dann ein weißer Tee, ein Oolong und ein Hei He Shan aus dem Grenzgebiet Vietnams. Alle paar Minuten gab es eine neue Tasse Tee, und mir ging langsam das Herz auf.
Nach der 20. Tasse waren die Schwergewichte an der Reihe. Ks Thurbo Estate mit Kastaniennote aus Darjeeling brachte uns ins Schwanken. „Diese Weite”, murmelte jemand. Alles war glasklar, als hätte ich den ganzen Tag Kokablätter gekaut. Ich fragte mich, ob das der Teerausch war.
Der Oolong-Spezialist im Laden präsentierte einen samtigen Da Hong Pao aus dem Wuyi-Gebirge in China, einem der ältesten Teeanbaugebiete der Welt. Eine Unze guter Wuyi ist mehr wert als eine Unze Gold. „Das ist der heilige Gral des Tees”, erklärte er. „In Japan, Taiwan und Indien kennen wir die besten Tees und wissen, wo wir sie finden können. In China ist das anders. Dort leben über eine Million Produzenten mit der ältesten Teegeschichte und -kultur. Einige der alten Familien verfügen noch immer über die besten Pflanzen und das beste Know-how. Und im Wuyi-Gebirge findet sich immer irgendein Meister mit zweifachem schwarzen Gürtel, der auf nie gekannte Art Tee zubereitet.”
Der Tea Club endet gewöhnlich mit den Pu-Erhs. Die meisten Tees schmecken frisch am besten, doch Pu-Erhs werden mit zunehmendem Alter besser. Das macht sie für Sammler interessant. In China werden Pu-Erh-Kuchen—gepresste Scheiben in der Größe von kleinen Frisbees—wie Meisterwerke ge- und verkauft. In diesem Frühjahr tauchte in Vancouver eine Scheibe äußerst seltener 1910er Pu-Erh im Wert von 600.000 Dollar auf. Ein Gérard-Depardieu-Doppelgänger, der die blumigen Beschreibungen für Ks Onlinekatalog verfasst, brühte einen 1996er Dayi auf, der ein muffiges Kelleraroma verströmte und sich wie ein Werner-Herzog-Film trank. Wie bei allen Pu-Erhs liegt sein Wert (15 Dollar pro Gramm, wen es interessiert) sowohl im Aroma als auch im Chi. „Bei großen Tees suche ich immer nach diesem speziellen Gefühl”, sagte er. „Im Westen kostet man immer vom Hals aufwärts. In Asien jedoch schmeckt man mit dem ganzen Körper.” „Ein guter Tropfen”, meinte K und spürte dem Weg des Chi die Speiseröhre hinab nach. Der Depardieu-Doppelgänger, der in Montreal und Umgebung „Wie kombiniert man Whisky und Tee”-Seminare leitet, öffnete eine Flasche 2003er Evan Williams Single Barrel Bourbon und mischte ihn mit einem 1976er Bai Hao, einem gerösteten Oolong, was uns die Sinne schwinden ließ. Ich befand mich tief in einer Höhle, frei assoziierend wie ein Schizophrener, als vereinzelte, über mein Bewusstsein verstreute Sinnwolken sich plötzlich an der Höhlenwand zu einer Theorie „des Blattes und der Bohne” zusammenfügten. Tee, so erkannte ich, wirkt nicht wie Kaffee oder Wein, deren Aroma einem aus mehreren Elementen zusammengesetzten Bauwerk gleicht, wie etwa einer Kathedrale, die umso beeindruckender wirkt, je komplexer sie ist. Tee gleicht einem Reflexionsbecken. Man beugt sich immer weiter vor und sieht—nichts. Doch wenn der Wind sich plötzlich legt und die Wasseroberfläche sich glättet, verschlägt es einem den Atem: Mit einem Mal scheint dir der ganze Himmel zuzuzwinkern.
Ich versuchte, die Clubmitglieder an meiner Erkenntnis teilhaben zu lassen, doch die Kessel blubberten schon für die nächste Runde. Die Nacht war noch lange nicht vorbei und es gab noch so viel mehr Tee zu trinken. Als die Sonne über Yunnan schon aufgegangen war und zigmillionen Chloroplasten auf den grünen, terrassierten Hügeln befeuerte, füllte K seine Kanne mit etwas sehr Seltenem und Wirkungsstarkem—was, weiß ich nicht mehr. Gespenstische Dämpfe stiegen aus den tönernen Gefäßen auf, während wir unsere Tassen leerten und unsere Grenzen ausloteten. Früher oder später, das wussten wir, würde es hell werden.