Seit dem 1. Oktober demonstrieren in Bagdad Tausende gegen Korruption und Arbeitslosigkeit. Über 260 Menschen sind bereits ums Leben gekommen. Wir haben mit dem Fotografen Beeyzus über die Proteste gesprochen.
Ich habe schon viele Proteste im Irak fotografiert, aber dieser hier ist anders. Es herrscht eine unglaubliche Solidarität. So etwas sehen wir im Irak nicht oft. Im Laufe der vergangenen Wochen hat das Land etwas erlebt, das ich mit Stolz eine Revolution nennen kann. Spontan und ohne Anführer haben sich die Menschen zusammengetan, politische oder religiöse Parteien spielen keine Rolle.
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Bei den Protesten habe ich überwältigende Szenen erlebt. Auf Bagdads Tahrir-Platz, dem Platz der Befreiung, sah ich am 25. Oktober, wie junge Menschen Getränkeflaschen an Verwundete verteilten, um die Wirkung des Tränengases zu lindern. Danach reihten sie sich wieder in die Demonstration ein und riefen “Nieder mit dem Regime”. Andere verteilten Nahrung und Wasser, Familien spendeten Kissen, Decken und Erste-Hilfe-Sets.
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Irakische Frauen sind seit Beginn an der vordersten Front der Proteste dabei. Sie demonstrieren und skandieren Parolen, helfen den Verwundeten und manche stellen sich schützend zwischen Demonstranten und Sicherheitskräfte. Ein junges Mädchen versuchte, die anderen Demonstrierenden zu schützen, und warf eine nasse Decke über eine Tränengasgranate, bevor sie selbst ohnmächtig wurde.
“Ich habe keine Söhne. Meine Töchter haben mich dazu ermutigt, an den Demonstrationen teilzunehmen”, sagt ein Familienvater, der mit seiner Frau und seinen drei Töchtern an den Protesten teilnimmt. “Wir wollen, dass der Irak wieder stark wird.”
Alle Protestierenden, mit denen ich gesprochen habe, wollen nicht aufhören, bevor ihre Forderungen gehört wurden. Sie verlangen den Rücktritt von Premierminister Adil Abd al-Mahdi und seiner Regierung. Das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte hat bislang über 260 Menschen das Leben gekostet, über 11.000 wurden verletzt. Immer wieder schießen sie mit scharfer Munition auf die Demonstrierenden, auch die schweren Tränengasgranaten feuern sie direkt in die Menschenmengen – mit verheerenden Folgen.
“Die Teilnahme an den Demonstrationen ist die Pflicht eines jeden Irakers. Es ist Zeit für einen Wandel”, sagte eine der jungen Demonstrantinnen. Eine ältere Frau neben ihr sagte: “Ich habe alle meine Kinder in den Kriegen verloren. Sie haben sich für den Irak geopfert. Jetzt bin ich an der Reihe.”
Zwei junge Männer sagen, dass Konfessionszugehörigkeiten für viele keine Rolle mehr spielen. “Ich bin Schiit und mein Freund hier Sunnit. Wollt ihr, dass wir uns gegenseitig umbringen?”