Popkultur

‘Zahltag’ zeigt, dass Hartz-IV-Empfangende bei RTL immer noch keine Menschen sein dürfen

Wodurch wurden RTL und seine Schwestersender zur unangefochtenen Bastion der deutschen Trash-Unterhaltung? Durch semiprominente Dullis, die für ein paar zehntausend Euro und Instagram-Follower in nachgebauten Dschungelkulissen Tierpenisse verkosten? Oder doch durch eine Bevölkerungsgruppe, die bereits so tief am Boden liegt, dass es selbst Oliver Bierhoff zu schäbig wäre, nochmal nachzutreten? Sorry, Micaela Schäfer und Bert Wollersheim, aber Deutschlands größter Privatsender wäre nichts ohne Menschen, die Hartz IV empfangen.

Dutzende Erfolgsformate hat RTL in den letzten Jahren aus der simplen Formel “arme Menschen sind arbeitslos und machen vielleicht nicht alles, aber sehr viel für ein bisschen Taschengeld” gepresst und sich dabei genüsslich in allen Klischees gewälzt. Wenn es nicht zuvor schon genug Menschen innerhalb der deutschen Bevölkerung gab, die Sozialhilfe-Empfangende als “faule Assis” abstempeln, die lieber den ganzen Tag rauchend auf der Couch hängen, als selbst für ihren Lebensunterhalt aufzukommen – dann gibt es sie spätestens seit Mitten im Leben oder Frauentausch.

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Zahltag! Ein Koffer voller Chancen soll nun jeden Dienstagabend so tun, als hätte der Sender seinen Umgang mit mittellosen Menschen überdacht. Als wolle man Personen mit überschaubaren Zukunftsaussichten den Start in ein anderes, besseres Leben ermöglichen. “Hilfe zur Selbsthilfe” würde das jemand wie FDP-Chef Christian Lindner nennen. Dafür wird Familien, die sich mit irgendeiner Geschäftsidee selbstständig machen wollen (Goodbye Deutschland lässt grüßen), ein Koffer vor die Haustür gestellt. In ihm: Eine Summe, die den kompletten Hartz-IV-Bezügen eines Jahres entspricht. Je nach Haushaltsgröße also um die 25.000 bis 30.000 Euro.

Ob sich die Familien des Geldes würdig erweisen, bestimmt ein bunt gemischtes Experten-Trio: der Investor und “Keynote Speaker” Felix Thönnessen, Ilka “Cindy aus Marzahn” Bessin und der Ex-Bürgermeister von Berlin-Neukölln Heinz Buschkowsky, der von seinen beiden Mitmoderierenden so leidenschaftlich gehasst wird, dass die Sendung fast ein bisschen lustig sein könnte. Ginge es hier nicht um ganz reale Menschen in ganz real beschissenen Lebenssituationen.

Felix Thönnessen, Ilka Bessin und Heinz Buschkowsky sollen den Familien unter die Arme greifen – aber nur, wenn sie nett fragen

Schon die Frage, auf der die Sendung aufbaut, irritiert: “Kann ein Koffer voller Geld Hartz-IV-Empfänger aus der Arbeitslosigkeit befreien?”, heißt es zu Beginn, so als würden wir in einer Gesellschaft leben, in der Jobs wie Geschirrspül-Tabs im Supermarkt gekauft werden müssen. Und sie ist relativ schnell beantwortet: Nein. An der Ausgangssituation, der Arbeitslosigkeit, ändert sich durch eine Summe von rund 30.000 Euro nichts. Was sich ändert, ist, dass die Personen nach Erhalt des Koffers keinen Anspruch mehr auf Arbeitslosengeld 2 haben und demzufolge tatsächlich keine Hartz-IV-Empfangenden mehr sind. Mehr Geld haben sie deswegen nicht zur Verfügung, müssen sich jetzt aber selbst kranken- und sozialversichern. Ein Fakt, der in der Sendung nur am Rande berührt wird.

Auch dass Sozialhilfe-Empfangende nicht auf RTL warten müssen, um einen Gründungszuschuss zu beantragen, taucht lediglich kurz in einem Einspieler auf. Wenn klar wird, dass ebenjenes “Einstiegsgeld” vom Amt zusätzlich zum Hartz-IV-Regelsatz gezahlt wird, klingt es nämlich plötzlich gar nicht mehr so heldenhaft, dass der Privatsender lediglich den Regelsatz in einen Koffer packt, um verzweifelte Familien in die Selbstständigkeit zu treiben.

Anschließend tun die Formatverantwortlichen so, als ginge es ihnen um eine tatsächlich ausgewogene Auseinandersetzung mit dem Thema Hartz IV – ohne jedoch auf die klassischen Bilder rauchender Jugendlicher, dreckiger Wohnungen und intensiv genutzter Unterhaltungselektronik zu verzichten. Immer wieder wird nachgeschoben, dass das Bild der faulen Arbeitslosen, die auf der Couch hängen und sich vom Staat aushalten lassen, natürlich nicht auf alle zutrifft. Wenn man ebenjenes Bild aber immer und immer wieder wiederholt, um es anschließend halbgar in Frage zu stellen, ist das Klischee exakt das, was hängenbleibt. Zahltag ist nicht aufgeschlossen und empathisch, es ist genau so zynisch und menschenverachtend wie alle anderen RTL-Formate, in denen mittellose Menschen vorgeführt werden.

Und das liegt nicht zuletzt auch an Heinz Buschkowsky, der zunehmend schmallippiger bewertet, ob sich die Hartz-IV-Empfangenden denn nun wirklich genug anstrengen, sich aus lächerlich wenig Geld und ohne konkrete Handlungsanweisungen (Hilfe gibt es nur, wenn explizit danach gefragt wird oder die Dramaturgie der Sendung es verlangt) eine neue Existenz aufzubauen. “Klassische” Hartz-IV-Familien warten laut Buschkowsky darauf, dass man ihnen Jobs in den Schoß werfe. Als die RTL-Familien nach ihrem – in ihren Augen letzten – Jobcenter-Besuch vor lauter Glück fast in Tränen ausbrechen, ihre Sachbearbeiterinnen nicht mehr sehen zu müssen, erklärt er: “In anderen Ländern: Wenn du keine Familie hast, die dir hilft, krepierst du auf der Straße.” In anderen Worten: Seid dankbar und demütig. Immerhin lebt ihr überhaupt noch.

Familie Bergmann träumt von einem eigenen Currywurst-Imbisswagen

Dazu passt, dass die beiden vorgestellten Familien in klassischer Frauentausch-Manier in “faul und unverschämt” und “nicht ganz so faul und unverschämt” unterteilt werden. Als Familie Metz aus Sachsen den unverhofften Geldsegen erst einmal dazu nutzt, das Auto vollzutanken und bei einer Fastfood-Kette sehr viele Burger zu bestellen, haben sie ihr Schicksal eigentlich schon besiegelt. Wer nicht jeden Cent des neugewonnen Geldes darin investiert, die eigene Geschäftsidee – im Fall der Metzes ein Second-Hand-Laden für Kinderkleidung – voranzutreiben, wird immer ein “Assi” bleiben. Selbst wenn beispielsweise der Wunsch, das undichte, unbeheizbare Haus etwas wohnlicher zu gestalten, eigentlich recht nachvollziehbar scheint.

Familie Nummer Zwei, die Bergmanns, hat Glück. Zwar wohnen gleich mehrere volljährige Söhne der alleinerziehenden Cornelia noch zu Hause und verbringen ihre Zeit wahlweise vor dem Computer- oder Fernsehbildschirm. Cornelia allerdings ist in Anbetracht des Geldkoffers demütig und betont immer und immer wieder, dass sie es mit ihrem geplanten Currywurst-Imbisswagen nun wirklich nur in die Mittelschicht schaffen will. Nur nicht zu viel wollen, nur nicht dem vermeintlich hart arbeitenden Steuerzahler vor dem Fernsehbildschirm das Gefühl geben, dass da jemand, der es “nicht verdient” hat, unverhältnismäßig bevorteilt wird. Selbst als die fünffache Mutter mit ihren Kindern zur Feier des Tages einen Vergnügungspark besucht, wird sie nicht müde zu betonen, dass sie dafür sehr lange Rabattmarken von Joghurtpackungen gesammelt hat. Sparsam und demütig: So mögen die Deutschen die Menschen, die sie unter sich wähnen.


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Ob die Familien es schaffen, ihre “Chance” wahrzunehmen und “ein neues Leben” zu beginnen, wird in der ersten Folge selbstverständlich noch nicht verraten. Dafür macht die unheilvolle Off-Stimme in Zahltag! immer wieder deutlich, wie apokalyptisch die Situation für alle Beteiligten ist. Es geht um alles oder nichts, gesellschaftlichen Aufstieg oder aussichtsloses Leben zwischen Schimmel im Kinderzimmer und Lebensmitteln von der Tafel. Und wenn der Wunsch nach wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Aufstieg nicht mehr spannend genug ist, dann wird Familie Merz eben noch ein bisschen länger dabei gezeigt, wie sie unter dem Druck der neuen Möglichkeiten zusammenbricht. Tränen sorgen für bessere Quoten als Träume.

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