Der Duft von gebratenem Hähnchen liegt über der Straße, gewürzt mit einem Hauch Benzin von den unermüdlich brummenden Generatoren. Hier im Herzen der syrischen Stadt Raqqa im Bezirk Thakanah verkauft das Restaurant Al Hadery Hühnergerichte. Tag und Nacht, gebraten, gegrillt oder paniert: Das Lokal ist in der ganzen Stadt bekannt. Das war auch so, als die Islamisten des IS Raqqa unter ihre Gewalt brachten und zur Hauptstadt ihres Kalifats erklärten. Als eins der wenigen Restaurants blieb Al Hadery auch während dieser Periode geöffnet und wurde zu einer Art inoffiziellem Hauptquartier für viele internationale Dschihadisten.
Der Besitzer Mahmoud, der eigentlich anders heißt, redet nicht gerne darüber. Vier Jahre nach der Vertreibung der Terroristen aus Raqqa ist ihm die Angst noch immer in den Augen anzusehen. Als wir ihm ein Foto von Fabien Clain zeigen, möchte er sich nicht äußern. Auf dem Bild trägt der Franzose, der sich zu den Anschlägen in Paris vom 13. November 2015 bekannte, einen Vollbart. Sein Gesicht ist kräftig, der Blick stechend. “Ich erkenne ihn”, sagt schließlich ein Stammgast, der neben Mahmoud sitzt. “Ich habe ihn hier fast täglich mit einer Gruppe anderer Männer gesehen. Aber ich wusste nicht, dass sie Franzosen waren. Die waren wie Pakistanis angezogen.”
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Dann spricht auch Mahmoud mit uns. “Während der Herrschaft des IS waren die meisten Kunden Ausländer”, sagt er leise, kaum hörbar. “Mein Hühnchen hat sie an den Westen erinnert.” Sie hätten allerdings Probleme gehabt, die syrische Währung zu verstehen, sagt er und schmunzelt. “Also haben sie uns zum Bezahlen einen Haufen syrischer Scheine gegeben, und wir haben sie für sie gezählt.”
Unter der IS-Herrschaft wurden in Raqqa die Lebensmittel knapp, die Preise stiegen. Nur wenige konnten sich noch ein Menü im Restaurant leisten. Fabien Clain führte offenbar ein privilegiertes Leben.
Sein jüngerer Bruder Jean-Michel Clain war bereits 2014 von Frankreich nach Syrien gereist, mit ihm seine Frau Dorothée Maquère und ihre sechs Kinder. Ein Jahr später folgte ihm Fabien nach Raqqa, begleitet von seiner Frau und den drei Kindern.
Als sich am 13. November 2015 islamistische Terroristen in Paris vor dem Stade de France in die Luft sprengten, das Bataclan stürmten, eine Reihe von Bars und Restaurants angriffen und insgesamt 130 Menschen ermordeten und 350 verletzten, lebten die Clain-Brüder nicht mehr in Frankreich. Trotzdem gehören sie zu den 20 Angeklagten im Mammutprozess zu der Anschlagsserie, der seit September in Paris läuft. Gegen die Clains und vier weitere Männer wird das Verfahren in Abwesenheit geführt.
Die Brüder sollen zur Führungsriege des selbsternannten Islamischen Staats gehört haben. Fabien Clain war es, der am Tag nach den Anschlägen in einer Audionachricht mit schaurig ruhiger Stimme die Terrorakte für den IS beanspruchte. Sein jüngerer Bruder Jean-Michel ist ebenfalls in der Aufnahme zu hören, er singt. Fabien Clain wurde damit “zur französischen Stimme des Islamischen Staats” und zu einem “symbolischen Ziel für Frankreich und die Franzosen”, sagte Dschihadismus-Experte Wassim Nasr in einem Interview mit dem französischen Sender FRANCE 24.
In der Audionachricht, die am 14. November versendet wurde, erwähnt Fabien auch einen weiteren Anschlag im 18. Arrondissement von Paris, wo sich unter anderem das Moulin Rouge und das Vergnügungsviertel Pigalle befinden. Der Anschlag fand offenbar nie statt, aber die Tonaufnahme ist ein wichtiges Beweismittel dafür, dass die Clains im Vorfeld von den Terrorplänen wussten. Deswegen glauben die Ermittlerinnen und Ermittler, dass die Brüder relativ weit oben in der IS-Hierarchie standen und wahrscheinlich eine wichtige Rolle bei der Orchestrierung der Anschläge spielten.
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Die ursprünglich von der französischen Insel Réunion im indischen Ozean stammende Familie Clain war nach Frankreich gezogen, bevor die Brüder auf die Welt kamen. Als Teenager versuchten sich beide an christlichem Rap, bevor sie in den 90ern zum Islam konvertierten und begannen, Naschids aufzunehmen – also islamisch-religiöse A-cappella-Musik. Eines dieser Lieder findet man heute noch auf Myspace, es lässt sich allerdings nicht abspielen. Als gewiefte Internet-User waren beide Brüder auch in einem der ersten islamistischen Online-Foren aktiv, Ansar Al Haqq, was in etwa Unterstützer der Wahrheit bedeutet.
Die Clain-Brüder heirateten jung und ließen sich in der Nähe von Toulouse in Südfrankreich nieder, wo der charismatische Imam Olivier Corel eine Gemeinschaft radikaler Islamisten um sich versammelt hatte. Sie bildeten die Artigat-Zelle, eine der ersten dschihadistischen Zellen in Frankreich. 2009 wurde Fabien zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, weil er Mitglieder rekrutiert und radikalisiert hatte, bevor er sie zum Kämpfen in den Irak schickte.
Als er 2012 wieder aus dem Gefängnis entlassen wurde, zog Fabien mit seiner Familie in die Normandie. Etwa 2015 schlossen sich die Clain-Brüder dann dem Islamischen Staat in Syrien an. Französischen Medienberichten zufolge brachte Fabien auch hochwertiges Audio-Equipment im Wert von 3.600 Euro von Frankreich mit nach Raqqa. In der IS-Hochburg fingen die Brüder wieder an, Naschids aufzunehmen. Die Lieder waren nach der IS-Ideologie die einzig erlaubte Musikform, weil sie keine Begleitmusik enthalten. Fabien schrieb die Texte auf Französisch, Jean-Michel sang sie.
Einer ihrer beliebtesten Songs, “Les éternelles”, also die Ewigen, ist ein romantisches Lied über die Jungfrauen, die angeblich die Märtyrer im Himmel erwarten. Er wurde in terroristischen Social-Media-Kanälen auf der ganzen Welt geteilt. “Meinen Quellen nach haben sie mindestens 300 Lieder aufgenommen”, sagt Sacha Belissa vom Think Tank Centre d’analyse du Terrorisme. “Die Brüder beherrschten die Sprache der Terrororganisation perfekt. Auf diese Weise gewannen sie unter französischsprachigen Dschihadisten schnell an Einfluss.”
Laut mehreren französischen Syrienrückkehrern stiegen die Brüder in den Rängen des IS auf und wurden mit dem französischsprachigen Programm des offiziellen IS-Radiosenders Al-Bayan beauftragt, welcher 2016 von der irakischen Luftwaffe kaputtgebombt wurde. Dort verlasen die Clains die täglichen IS-Nachrichten mit Geschichten über Märtyrertum und Berichten von Vorstößen gegen die Ungläubigen. Die Brüder arbeiteten zudem für An-Nura, die französischsprachige Propaganda-Abteilung des IS-Medienbüros. Auch dieses Büro existiert nicht mehr.
Auch wenn die Behörden ziemlich genau wissen, welche Rolle die Brüder innerhalb des IS spielten, ist unklar, was genau während ihrer Zeit in Syrien passierte. Deswegen entschieden wir uns im August 2021, ein weiteres Mal nach Raqqa zu reisen, um mit Menschen zu sprechen, die die Clains persönlich kannten. Wir waren bereits 2019 in Syrien gewesen, unter anderem in Baghuz an der irakischen Grenze, der damaligen letzten Enklave des IS. Dort sprachen wir auch mit Jean-Michels Frau Dorothée Maquère, als diese mit den Kindern über einen humanitären Korridor die belagerte Stadt verließ.
In Raqqa jedenfalls schienen die Clains es gut zu haben. Obwohl sie wahrscheinlich im Umgang mit Waffen ausgebildet waren, wurden die Brüder nie an die Front geschickt. Stattdessen waren Fabien und Jean-Michel für den Medien-Dschihad zuständig. In dieser Zeit, also um 2014 oder 2015 herum, fingen die Brüder an, mit einer französischsprachigen Zelle zusammenzuarbeiten, die für IS-Attentate im Ausland zuständig war. Es war die gleiche Gruppe, die 2015 die Anschläge in Paris plante und durchführte.
Bis 2017 wechselte Fabien in Raqqa immer wieder den Wohnort. Jean-Michel lebte mit seiner Familie in einem luxuriösen Apartment in der Nähe der Al-Wadi-Straße. Unseren Recherchen sowie Menschen aus der Nachbarschaft zufolge, deren Namen wir aus Sicherheitsgründen nicht nennen werden, gehörte das Gebäude ursprünglich einem Kinderarzt. Der IS hatte es jedoch annektiert und den Arzt vertrieben. Zwischen 2014 und 2017 lebten hier viele französische Familien. Wir haben Jean-Michels Wohnung von innen gesehen. Sie war geräumig mit großen Zimmern, einer gut ausgestatteten Küche und einer Whirlpool-Badewanne.
Ein Ladeninhaber in der Nähe der Wohnung bestätigt, dass es Jean-Michel im Vergleich zur restlichen Bevölkerung ziemlich gut ging. Seine Frau Maquère sei oft in sein Geschäft gekommen und habe teure Schokolade und Kosmetikartikel gekauft. Wir sprachen per Telefon auch mit drei Französinnen und IS-Anhängerinnen aus dem früheren Umfeld der Clains. Sie beschrieben Maquère als “IS auf Leben und Tod”.
Selbst nachdem der IS von Koalitionstruppen aus Raqqa vertrieben worden war, dachten die Clains nicht daran, sich zu ergeben. Auch dann nicht, als die Niederlage des IS nur noch eine Frage der Zeit war. Im Dezember 2018 machten die Brüder in der Region Deir ez-Zor nahe der irakischen Grenze eine letzte Aufnahme. Dorthin hatten sich die übriggebliebenen IS-Unterstützerinnen und Unterstützer zurückgezogen. Von da an lebten sie in den Tunneln von Baghuz, wo der IS schließlich besiegt wurde. Fabien Clain starb mutmaßlich am 20. Februar durch einen Drohnenangriff, sein Bruder Jean-Michel wahrscheinlich wenige Tage später durch eine Mörsergranate. Mit absoluter Sicherheit geklärt ist das allerdings nicht, deswegen sitzen sie in Paris in Abwesenheit auf der Anklagebank.
Die Frauen und Kinder der Clain-Brüder befinden sich bis heute mit anderen Familien von mutmaßlichen IS-Anhängern im kurdischen Lager Roj in Nordostsyrien. Die französische Regierung weigert sich, sie zurück ins Land zu holen. Als Kronzeuginnen für die Taten ihrer Männer hätten sie beim aktuellen Prozess dennoch viel zu erzählen.