Es ist überraschend, wie lange es dauert, Blut rückstandslos von einem Kinn zu entfernen. Zumindest am Computer. Vielleicht liegt es nicht nur an meinen mangelnden Photoshop-Kenntnissen, sondern auch daran, dass der Schauspieler Alexander Skarsgård einen sehr ausgeprägten Kiefer hat. Das war mir schon bei unserem Interview aufgefallen, in dem er sehr begeistert Details vom Dreh eines Horrorfilms erzählt hatte. Riesige Penisse, tote Klone in Fake-Gewebemasse und quasi jede Körperflüssigkeit, die man sich vorstellen kann. Dabei fiel auch eine zu gleichen Teilen verführerisch und bedrohlich klingende Aussage, die so perfekt für eine Überschrift ist, dass es schon fast wehtut: “Ich habe noch nie an einem blutigen Nippel gelutscht – vor der Kamera zumindest.”
Ich führe das Interview für eine Filmseite. Potenzielle Skandalfilme mit cineastischem Anspruch gehen da immer gut. Idealerweise findet sich als Artikelbild eine Szene aus dem Film, die dementsprechend aufregend aussieht. Es gibt allerdings ein Problem: Google mag keine blutigen Nippel. Eigentlich gar keine Nippel, genauso wenig wie Blut in Schauspielgesichtern und ganz generell alles, was in irgendeiner Form nach Sex klingt. Resigniert speichere ich das sauber retuschierte Foto und verabschiede mich gedanklich von meiner Traum-Headline. Für VICE in den 2010ern wäre das der perfekte Artikel geworden. Die Zeit ist allerdings vorbei. Nicht nur für VICE, sondern für jeden, der über Online-Reichweite Geld verdienen will. Selbst Influencer zensieren sich lieber selbst, als für Worte wie “Penis” oder “Drogen” von den Algorithmen abgestraft zu werden.
Videos by VICE
Inhalte fühlen sich aber nicht nur sprachlich desinfiziert an, sondern liefern auch nur noch mehr dessen, was ich schon kenne. Wenn ich wirklich irgendetwas komplett Nischiges, Neues, Subkulturelles lesen möchte, stolpere ich – mit Glück! – auf Reddit darüber. Das war’s. Und das tötet langsam aber sicher nicht nur meine Freude am Schreiben und Lesen von Artikeln, sondern auch am Internet.
Das Internet war mal … mystisch
Ich bin aufgewachsen mit einem Internet, das sich angefühlt hat wie ein undurchsichtiger Wald. Beinahe mystisch. Man konnte alles finden und nichts. Man war angewiesen auf Leute, die sich in die dunkelsten Tiefen vorgewagt haben, um anschließend triumphal von ihrer Suche zurückzukommen. Weil sie etwas Wunderschönes und Seltenes gefunden hatten oder etwas verstörend Unbekanntes. Hauptsache interessant. Meine Teenager-Jahre fanden online statt, zwischen der Neugierde auf komplett neue Welten und der stetigen Angst, beim Klick auf einen Link doch bei Leichenbildern auf rotten.com statt dem neuen Remix irgendeines Westberliner Untergrund-Rapsongs zu landen.
Ich war in Chatrooms, in Foren, die schon lange vor Reddit Diskussionen zu bestimmten Themen bündelten und meinem edgy Teenager-Ich die verstörendsten und konfusesten Filme, die abgefucktesten Mangas, die faszinierendsten Communitys eröffneten, von denen ich noch nie gehört hatte. Das Internet war für mich ein Ort der Wahrheit und Ehrlichkeit, gerade weil Anonymität eine Säule der Online-Experience darstellte. Das Internet war ehrlich, weil es einer der wenigen Räume war, wo man sich als Mensch offenbaren konnte, ohne sein Gesicht zeigen zu müssen. Die Multiverse-Variante von Domian, im Positiven wie im Negativen.
VICE kenne ich in den mittleren 2000ern vor allem englischsprachig und visuell. Von Tumblr. Die Fotos zeigen schöne Menschen, maximal unvorteilhaft ausgeleuchtet, in Situationen, die eine Kaputtheit unter der Oberfläche erahnen lassen. Für Video-Reportagen reisen die immer etwas ungläubig wirkenden Hosts auf der Suche nach dem Absurden, Abgefuckten, Unmöglichen um den Globus. VICE gibt meiner anonymen Internetwelt ein Gesicht. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ich selbst als Autorin bei VICE lande.
Geschichten vom Rand der menschlichen Existenz
In einem der ersten aufwändigeren Texte, die ich für VICE.com schreibe, geht es um Vore. Ein Fetisch, bei dem Menschen die Vorstellung geil finden, von etwas Großem verschlungen zu werden. Das kann ein Monster sein, aber auch eine riesige Vagina. In letzterem Fall handelt es sich um eine Fetisch-Unterkategorie, die als Unbirthing bekannt ist. Wobei ich “bekannt” wahrscheinlich in Anführungszeichen setzen sollte. Wäre das alles so bekannt, wäre es keine VICE-Story. Ich mache mir keine Gedanken darüber, wie viele Menschen diesen Text lesen. Ob sich die Klicks in einer Form monetarisieren lassen, die meine Arbeitszeit am Artikel rechtfertigen. Ich weiß, dass Menschen wie ich jeden Tag auf VICE.com gehen, um herauszufinden, was sie noch nicht über die Menschheit wussten. Es gibt schon Mitte der 2010er nicht mehr viele dieser Orte. VICE wirkt wie eine letzte Bastion.
Ich häufe Wissen an, das mich mal überfordert, mal verstört. Oft beides auf einmal. Vor allem ist es aber nichts, was sich locker in einem Gespräch auf einer Homeparty erzählen lässt. “Wusstet ihr, dass es Shops gibt, in denen man künstlich hergestellte Drachenspucke kaufen kann, damit Leute sich in ihren Rollenspielen so authentisch wie möglich gefressen fühlen können?” Liefert noch etwas Kontext, verweist auf zwei, drei Videos, die ihr zu dem Thema ausgegraben habt, und zählt die Sekunden, bis das Licht in den Augen eures Gegenübers erlischt. Recherche bedeutet nicht regelmäßig, aber oft genug, nachzusehen, ob es “auf Pornhub irgendwas neues Abstruses” gibt. Ich bin ein niemals endender Quell an Informationen vom Rand der menschlichen Existenz. Mainstream ist langweilig. Wenn alle darüber reden, interessiert es mich schon nicht mehr.
In den Augen anderer sind wir bei VICE die medialen Schmuddelkinder. Bei einem Reporter-Workshop fragen mich Leute nach meinem Arbeitgeber. “Weiß?”, achso, das englische Wort? Nee, kennen sie nicht. Gleichzeitig stampfen große Medienhäuser junge Internetangebote aus dem Boden, die ihre Entsprechung zu VICE sein sollen. Überall gibt es jetzt Ich-Reportagen und “Guckt mal, was andere Menschen fünf Jahre vor mir im Internet gefunden haben”-Essays. Nicht ganz so edgy natürlich. Aber zumindest so unbequem wie ein sehr kleiner Stein unter der Komfortsohleneinlage in den Doc Martens. Ich ertappe mich mehrfach bei dem Gedanken, dass ich andere Journalistinnen und Journalisten nicht sonderlich gut leiden kann. Vielleicht ist es auch Neid. Ich bin unterbezahlt, wenig wertgeschätzt und arbeite mich tot für Themen, die ein paar Wochen später von anderen Medien übernommen werden. Den Applaus bekommen die anderen. Um den Traffic kämpfen wir, zum Teil mit Themen und Headlines, die sich eher nach einer Parodie auf VICE anfühlen als authentischem Gegenkultur-Journalismus.
VICE muss erwachsen werden, wird uns auch intern zunehmend weniger durch die Blume nahegelegt. Wo sind die gesellschaftlich relevanten Recherchen? Also die Art von gesellschaftlicher Relevanz, mit der man Preise gewinnen und große Sender-Deals abschließen kann. Oder zumindest seine Eltern beeindrucken. Warum wird hier nicht genauso gearbeitet, wie sich die Führungsetage den Alltag von “echten” Journalistinnen und Journalisten vorstellt? Also echter Journalismus, aber mit einem Bruchteil der Ressourcen und des Gehalts. Aber gut, auch nicht so richtig echter Journalismus, nicht dass sich potenzielle Werbekunden und -kundinnen (oder das saudische Königshaus) angegriffen fühlen. Und bitte auch nicht zu obskur, wonach googeln Menschen eigentlich gerade so? Denn: Die Hoch-Zeiten von Facebook, über das wir zwischenzeitlich den Großteil unseres Traffics einfuhren, sind vorbei. Jetzt kommt Google. Hier endet gerade etwas, denke ich damals. Und bevor ich gehen muss, gehe ich lieber selbst.
Das Problem ist größer als VICE
VICE ist nicht die einzige junge Website mit alternativen Themen, die in den kommenden Jahren zusammenklappt. VICE Deutschland macht 2024 nach 18 Jahren dicht. Bento, der jugendliche Ableger des Spiegels, ging aber schon 2020. Ze.tt existiert seit demselben Jahr nur noch als Ressort von ZEIT Online weiter. Watson startete als News-Portal für junge Menschen, ist mittlerweile aber vor allem eine geölte SEO-Maschine. Und Buzzfeed? 2023 erklärte der Gründer Jonah Peretti, vorher oft als visionärer Retter des Online-Journalismus gefeiert, das Ende von Buzzfeed News – und damit von jedem journalistischen Anspruch. Seitdem hängt Buzzfeed am Life-Support von (immer häufiger KI-generierten) Quizzes, die mir verraten, welche Produkte besonders gut zu meiner Psyche passen.
Die Gründe dafür sind komplex. Vereinfacht lässt sich wahrscheinlich sagen: Es lohnt sich finanziell nicht. Oder nicht mehr. “[VICE und Buzzfeed] glaubten beide, dass Reichweite alles sei und digitale Werbeschaltungen ausreichen würden, um die Inhalte zu finanzieren”, schreibt Medienexpertin Jane Martinson im britischen Guardian. Das habe sich als Fehlschluss herausgestellt, denn Reichweite führe nicht automatisch dazu, dass die Lesenden auch bereit seien, Geld auszugeben, und die Werbetreibenden seien weitergezogen.
Ich glaube, es gibt auch ein inhaltliches Problem: Die nachgewachsenen jungen Generationen konsumieren die Ich-Geschichten aus dem Unterbauch des Internets lieber auf Plattformen wie YouTube, vorgetragen von einer Person, zu der sie zumindest eine parasoziale Beziehung haben. Deren Meinung und Empfindungen für sie greifbarer sind als die einer Autorin. Rezo statt Hunter S. Thompson. Die sagen nur eben nicht mehr “ficken” ohne Wegpiepen oder denken sich für traumatische Themen komplett alberne Alternativbegriffe aus, um keinen Shadowban zu kassieren. Mascara für Penis, zum Beispiel. Algo-Speak nennt sich das.
Die 2000er sind angeblich zurück, sagen die gleichen Influencer auf TikTok, liest man bei VOGUE, hört man in den Samples der Hits, die aktuell Spotify dominieren. Aber nur die Ästhetik, nicht das, was dahinter liegt. Das Internet – in heutigen Zeiten also alles – geht nicht zurück zu dem, was war. Der Wildheit, dem Unoptimierten. Als Yahoo Tumblr aufkaufte, entfernten sie als Erstes alle Darstellungen weiblicher Nippel oder anderweitig sexualisierte Bilder. Nur die nostalgische Oberfläche scheint profitabel, auch wenn Yahoo der Blogging-Plattorm damit endgültig das Genick brach.
Was für eine Welt das ist, in der sich selbst junge Menschen nicht einmal mehr trauen, “Sex” in eine Handykamera zu sagen, weil sie glauben, durch Selbstzensur den strengen Maschinen zuvorzukommen, die wir nicht mit Gedanken füttern, sondern mit Content? Nun ja, die Realität. Eine Realität, in der die oben angesprochenen Werbetreibenden nur dort Werbung schalten, wo sie sich wohlfühlen. Wo es keine blutigen Kinne oder Nippel gibt, keine bösen Wörter, keine allzu strittigen Themen, dafür halboffizielle Listen mit verbotenen Begriffen, nach denen sich nicht nur Influencer richten müssen, sondern alle Medienschaffenden. Brand Safety, das journalistische Äquivalent zur Lobotomie. Das Ergebnis ist inhaltlicher Einheitsbrei. Zähne hat hier schließlich kaum noch wer, rechnet sich nicht.
Dafür Google Docs und immer neue Programme, die mir ganz genau auswerten, wer wann wie lange meinen Content konsumiert hat. Und damit ich weiß, welchen Content ich als Nächstes zu produzieren habe, analysiere ich in meiner Zeit nach VICE für neue Arbeitgeber vergangenen Output und antizipiere, was die Leute wann googeln werden. Weil ich nicht die einzige bin, die das macht, ist es komplett egal, auf welcher Seite man einen TV-Tipp liest oder wer mir rechtzeitig zur Fußball-WM in einer übersichtlichen Slideshow erklärt, wer die Spielerinnen der Nationalelf sind. Alles gleich, alles Content, alles für Google optimiert. Denn was für mich interessant sein könnte, entscheiden nicht mehr ich oder ein anderer, echter Mensch. Algorithmen entscheiden das. Ich bin Journalistin und so sieht mein Job in den 2020ern aus.
“Eine Handvoll gigantischer sozialer Netzwerke hat den offenen Raum des Internets übernommen und unsere Erfahrungen durch ihre undurchschaubaren und stetig im Wandel begriffenen Content-Sortier-Systeme zentralisiert und vereinheitlicht”, beschreibt es Kyle Chayka 2023 für den New Yorker. Welcome to hell.
Dazu passt, dass Künstliche Intelligenz in den Augen vieler ohne jegliche Abstriche menschliche Kreativität ersetzen kann – eine KI baut anders zusammen, was schon existiert, was schon bekannt ist, was sich schon als effektiv erwiesen hat. Die Chefs der Redaktionen beklatschen Künstliche Intelligenz als redaktionellen Game-Changer, weil es scheißegal ist, ob irgendjemand die so entstandenen Inhalte gut findet. Schon jetzt lese ich Texte von Menschen, die klingen, als wären sie von Maschinen, weil sie nicht für Menschen, sondern für Maschinen geschrieben werden. Ich lese Texte, die mich wünschen lassen, keine Augen zu haben und Informationen über die Haut aufzunehmen.
Ich brauche gar nicht zu raten, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass das alles schlimmer wird. Experten beschreiben der amerikanischen Technikseite The Verge eine Zukunft, in der Google von “KI-generierter Scheiße” überschwemmt würde, die nicht mal mehr so tut, als sei sie für etwas anderes als Algorithmen geschrieben worden. Und Google ist der Knotenpunkt, die große mechanische Göttin des Internets, die um jeden Preis zufrieden gestellt werden muss. “Vielleicht ist das der Grund, warum so gut wie jeder SEO hasst”, schreibt die Journalistin Amanda Chicago Lewis im selben Artikel für The Verge. “Diese Praktik hat erfolgreich die Illusion zerstört, dass es im Internet jemals um etwas anderes ging, als Dinge zu verkaufen.”
💔
Die Wahrheit ist: Nicht alles an VICE war geil. Was sich offen und edgy anfühlte, hatte oft eher einen Freakshow-Charakter. Im Nachhinein frage ich mich, ob man vielen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern nicht einen größeren Gefallen damit getan hätte, ihre Interessen nicht an die Öffentlichkeit zu zerren. Auch die Blasiertheit, alles schon gesehen zu haben und aus Selbstschutz oder Abgestumpftheit so gar nichts dabei fühlen zu wollen außer amüsierten Nihilismus, finde ich heute in der Form nicht mehr cool. Diese Zeit war wichtig für meine Entwicklung als Autorin, aber ich bin ihr entwachsen.
Doch wenn ich heute an das VICE denke, das ich vermissen werde, denke ich nicht an bewusst verletzende Hot Takes, diskriminierende Witze, das beschissene Gehalt und die Überstunden oder Gavin McInnes. Ich denke an eine Ära, in der nicht alles eine Kopie einer Kopie einer Kopie war. In der es sich bedeutsam anfühlte, wer einen Text schreibt, weil Artikel je nach Autor oder Autorin unterschiedlich aussahen, unterschiedlich aufgebaut waren. Spaß gemacht haben. Überrascht haben. Mich als Person mit progressivem Weltbild und unstillbarer Neugier ernst genommen haben. Ich denke an ein Internet der Menschen, nicht der Maschinen. So dumm und naiv das auch klingen mag.
“Ich denke an junge Menschen, die versuchen, es in der Branche zu schaffen. Die brauchen Orte, an denen sie sich selbst formen können, ihre Stimmen ausprobieren, eine Person werden”, sagte die kanadische Journalistin Amil Niazi in einem CBC-Podcast über ihre Zeit bei VICE. “Das hier war einer dieser Orte.”
Das Ende von VICE in Deutschland fühlt sich an wie ein gebrochenes Herz. Oder wie die Erinnerung an ein gebrochenes Herz, denn zusammen waren VICE und ich schon lange nicht mehr. Deswegen kann ich Folgendes mit leicht feuchten Augen und traurigem Lächeln schreiben und an die guten Zeiten denken: Tschüss VICE. Tschüss abgründiges Abenteuer, das deine Art von Online-Journalismus war. Tschüss Internet, mit dem ich erwachsen geworden bin. Ich habe euch geliebt.