Mord, Verschwörungstheorien und Elfen: Der seltsamste Kriminalfall Islands

Rekonstruktion von Geirfinnurs Tod, 23. Januar 1977

In einer stürmischen, verschneiten Winternacht 1974 verschwand der 18-jährige Arbeiter Gu∂mundur Einarsson spurlos von seinem Heimweg aus der Disko im isländischen Hafnarfjör∂ur bei Reykjavik. Zehn Monate später, im November 1974, erhielt der 32-jährige Geirfinnur Einarsson einen Anruf von einem Unbekannten und fuhr zum Hafencafé von Keflavik, etwa 40 Kilometer westlich von Hafnafjör∂ur. Man fand sein Auto, der Zündschlüssel steckte, doch der Bauarbeiter blieb spurlos verschwunden.

Die Polizei suchte vergeblich nach den Leichen der beiden, zwischen denen kein bekannter Zusammenhang bestand. Doch mit den in vieler Hinsicht problematischen Mordermittlungen im Fall “Gu∂mundur und Geirfinnur” ließe sich ein Buch füllen.

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Das dachte sich wohl auch der walisische Fotograf Jack Latham. Sein neuer Fotoband Sugar Paper Theories beleuchtet den vermutlich skandalösesten Kriminalfall der isländischen Geschichte.

Tatsächlich ist spurloses Verschwinden in Island normaler als in Ländern mit weniger rauer Wildnis, doch als Geirfinnur unter verdächtigen Umständen verschwand, beschloss die Polizei, Gu∂mundurs Fall in ihre Ermittlungen miteinzubeziehen—obwohl Gu∂mundur betrunken in einem Schneesturm zehn Kilometer über ein Lavafeld mit tiefen Felsspalten gelaufen war. Die Ermittlungen der Polizei führten nach Monaten und Jahren zu Geständnissen von sechs jungen Menschen: Sie hätten die vermissten Männer ermordet. Allerdings hatte die Polizei Isolation, Nötigung und sogar Wasserfolter genutzt, um diese Geständnisse zu erwirken.

Bemerkenswert ist auch, dass die isländische Regierung 1976 einen deutschen “Supercop”, den Baader-Meinhof-Ermittler Karl Schütz, importierte. Er leitete eine Taskforce mit zehn isländischen Beamten und soll besonders gut darin gewesen sein, Verdächtige zu Geständnissen zu bewegen.

Keine der “verdächtigen” Personen, die unterschiedlich lange inhaftiert waren und dabei teils nicht einmal Zugang zu Anwälten hatten, schien sich wirklich an die Ereignisse zu erinnern, die sie gestand. Inzwischen sind Tagebücher und weitere Beweismittel aufgetaucht, die das schockierende Ausmaß der “Gehirnwäsche” durch die Polizei offenbaren.

Der Fall hatte Berührungspunkte mit so diversen Themen wie dem isländischen Folklore-Glauben an Elfen und Ängsten vor Drogen und Gegenkultur, die in den 70ern aufkeimten. Heute gilt er als Bilderbuchbeispiel für polizeiliche Nötigung, falsche Geständnisse, Massenhysterie und das Phänomen des Sündenbocks. Lathams Buch geht ausgezeichnet auf die vielen Aspekte des Falls ein—die Ehrfurcht gebietende isländische Natur, die fragwürdigen Beweise aus dem Polizeiarchiv, die Verschwörungstheorien, die noch immer kursieren, und die wichtigsten Beteiligten. Begleitend zum fotografischen Material gibt es einen Text von Gísli Gu∂jónsson, einem forensischen Psychologen und Experten für falsche Erinnerungen, der bereits an den Urteilsaufhebungen der Birmingham Six und der Guildford Four gearbeitet hat—beides Fälle, in denen Menschen nach falschen Geständnissen verurteilt wurden.

Ich habe mich mit Jack Latham über sein Fotoprojekt unterhalten.

Kurz nach seiner Pensionierung 1996 meldete der Polizeipräsident Gísli Gu∂mundsson offiziell, man habe ihn 1977 davon abgehalten, ein mögliches Alibi des Hauptverdächtigen Sævar Ciesilski für die Nacht, in der Gu∂mundur verschwand, zu überprüfen.

VICE: Wie hast du eine solche Faszination für den Fall entwickelt?
Jack Latham: Ich habe damals viel die isländische Folklore recherchiert, vor allem die Geschichten über Huldufólk, die [Elfen, die] Menschen spurlos entführen. Ein Freund machte mich dann auf den Fall aufmerksam. Alle Verdächtigen saßen etwa ein Jahr lang im Gefängnis [Sævar Ciesilski kam erst 1984 frei, Erla Bolladóttir war drei Jahre lang inhaftiert und die U-Haft überschritt allgemein bereits ein Jahr, Anm. d. Red.] und kehrten dann zu ihren Leben zurück. Die öffentliche Meinung hat sich seit den 70ern erheblich gewandelt—inzwischen wissen die Isländer, was damals bei den Ermittlungen los war. Zum Zeitpunkt dieses Interviews hat der Staat den Fall immer noch nicht neu aufgerollt.

Wie lange hast du für das Projekt gebraucht?
Ich habe 2014 mit dem Fotografieren angefangen. Im Dezember 2015 erhielt ich den Bar Tur Photobook Award; so konnte ich meine Arbeit in ein Buch verwandeln. Aber die Fotoarbeit hat bis Juni 2016 gedauert.

Disappearance #2

Wieso gibt der Fall fotografisch gesehen so viel her?
Es ist ein interessantes und anspruchsvolles Thema. Ich hatte gleich zu Anfang das Problem, wie ich “die Vergangenheit fotografieren” sollte. Viele Landstriche und Orte haben sich seit den Festnahmen so sehr geändert, dass es fast unmöglich sein kann, bestimmte Stellen wiederzufinden. Ich dachte natürlich viel darüber nach, wie sehr unsere Erinnerungen die Dinge verfälschen können, und fing an, die Akten als Gerüst für die Erzählstruktur zu verwenden. In dieser Grauzone zwischen Wahrheit und Fiktion wollte ich arbeiten—ich erzähle die Geschichte im Grunde nach, so wie die Polizei den Verdächtigen sagte, was angeblich passiert sei. Ein Fundament aus Wahrheit, umgeben von verschwommenen Details.

Welchen Einfluss hatte die isländische Folklore auf den Fall und die Berichterstattung darüber?
Durch Geschichten werden den Kindern in Island wichtige Lektionen vermittelt: Wenn es heißt, dass Elfen dich im Schneesturm entführen, dann ergibt sich daraus, dass Schneestürme gefährlich sind. Es ist dieser Aspekt des Geschichtenerzählens, der mich anfangs so an der isländischen Kultur gereizt hat. In diesem speziellen Fall erzählten sechs Personen in solch widrigen Umständen eine Geschichte, dass sie irgendwann selbst daran glaubten. Ich finde, darin schwingt etwas von der Folklore mit.

Conspiracy theorist #3

Es gibt einige Porträts von Verschwörungstheoretikern in Sugar Paper Theories—arbeiten diese Menschen noch aktiv an dem Fall, oder haben sie dir ihre Archive zugänglich gemacht? Und wie sehen einige der Theorien aus, die sich hartnäckig halten?
Ja, [sie sind noch daran], absolut. Inzwischen bin ich sogar gut mit ihnen befreundet. Ehrlich gesagt sind ihre Theorien so lang und detailliert, dass man alle darin erwähnten Personen kennen müsste, um überhaupt durchzublicken. Selbst dann sind einige davon ziemlich abgefahren! Leider ist das alles sehr schwer zusammenzufassen. Wir haben gezögert, ob “Verschwörungstheoretiker” überhaupt das beste Wort ist, da es negative Konnotationen hat. Die Leistungen dieser Menschen sind unglaublich. Manche haben Jahrzehnte damit verbracht, Falldokumente, Polizeiberichte und Zeugenaussagen durchzugehen. Einer sagte mir, dieser Fall sei, als ob man in den Wald gehe: Wer tief genug hinein geht, findet nie wieder heraus.

Ich habe meine eigenen Theorien zu dem Fall, aber die teile ich nicht öffentlich.

Wer den Fall heute in Augenschein nimmt, sieht vor allem junge Menschen, die ohne rechtliche Vertretung zu Falschgeständnissen genötigt wurden. Aber diese Schlüsselverdächtigen sprechen auch heute noch wenig über den Fall und wirken weniger wütend, als man vielleicht erwartet. Haben die Verantwortlichen denn Schuldgefühle, weil sie die Verdächtigten in diese Lage gebracht haben?
Ich denke auch, man hat damals ein bisschen gedacht: “OK, die hier tun’s auch.” Aber es ist faszinierend sie kennenzulernen. Erla Bolladóttir, mit der ich am meisten zu tun habe, inspiriert mich sehr. Ich kann nicht sagen, ob sie wütend oder verbittert sind, aber ich hoffe einfach, dieselbe Zähigkeit und Tapferkeit in mir zu haben, falls mir jemals so was passiert. Ich habe mit Ex-Gefängniswärtern und Polizeibeamten gesprochen, die an dem Fall beteiligt waren. Manche von ihnen sind zu Whistleblowern geworden und haben über den falschen Umgang mit den Verdächtigen ausgesagt. Ich denke, es gibt ein kollektives Verlangen, den Fall neu aufzurollen—er ist ein Schandfleck in der Geschichte der isländischen Polizei.

Gísli Gu∂jónsson

Siehst du diesen Fall als einen Teil des allgemeinen Misstrauens gegenüber der Jugendkultur und “Andersartigen”? Es erscheint mir relevant, dass diese jungen Menschen aus der Sicht der älteren Generation außergewöhnlich waren—jemand polnischer Abstammung, Rock-Fans und “Langhaarige” mit geringfügigen Vorstrafen. Oder geht es hier mehr um den Mikrokosmos Island—eine kleine Insel, isoliert mit ihren Ängsten?
Das hat alles definitiv eine Rolle gespielt. Aber man muss zum Beispiel auch wissen, dass es damals in Island strenge Alkoholgesetze gab. Außerdem stelle ich mir vor, dass es in so einem kleinen Land eine große Sache ist, wenn man sich von der Norm abhebt. Das gesamte erste Kapitel des Buchs handelt von der kulturellen, politischen und rechtlichen Landschaft im Island der 70er, denn nur dort und unter diesen Umständen konnte so etwas in diesem Ausmaß passieren.

Das Buch enthält auch Exzerpte aus dem Tagebuch von Gu∂jón, einem der Verdächtigen. Dieser Text wurde erst vor Kurzem öffentlich. Seine Einträge zeigen, wie er zunehmend an seinen eigenen Erinnerungen zweifelte und nicht mehr wusste, ob er beteiligt war, oder nicht. Wie wichtig ist seine Perspektive für den Fall?
Seine Tagebücher wurden erst in den letzten Jahren entdeckt und haben massive Auswirkungen auf den Fall. [Der forensische Psychologe und False-Memory-Experte] Gísli hat uns ermöglicht, sie zu lesen. Man hat sie bisher nur ins Englische übersetzt, und dies ist eine der ersten Veröffentlichungen überhaupt. Gu∂jón wurde nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis Pastor und seine Kirchen kommen im gesamten Buch immer wieder vor. Die Einträge sind Beweise für die deutlichste Form des Memory-Distrust-Syndroms, die Gísli jemals gesehen hat. [Gísli hat diese Bezeichnung 1982 mit dem Kollegen James MacKeith eingeführt; sie steht für eine Störung, bei der Menschen ihren Erinnerungen nicht trauen.] In anderen Worten, dieser Fall ist unheimlich wichtig für die Erforschung von Nötigung und falschen Erinnerungen.

Sugar Paper Theories gibt es hier zu kaufen.

Scrolle weiter, um mehr Fotos aus dem Buch zu sehen.

Kristján #6. Rekonstruktion von Geirfinnurs Tod, 23. Januar 1977. “Kristján Vi∂ar zeigt der Polizei, wie sie Geirfinnur festhielten.” Aus dem Polizeiarchiv.

Ragnar Aðalsteinsson, der Anwalt, der Sævar 1996 half, sein Urteil (erfolglos) anzufechten. Inzwischen vertritt er Erla und Gu∂jón.

Die Polizei fertigte ein Ton-Porträt des Mannes an, den man in der Nacht von Geirfinnurs Verschwinden am Hafencafé gesehen hatte. Der Kopf bekam den Spitznamen Leirfinnur—”leir” ist Isländisch für “Ton”.

Sighting #2