Alle Fotos: Markus Ganter
Ich weiß noch genau, wie damals (1993) das Aerosmith Video zu „Amazing” auf MTV rauf und runter lief und ich nur diesen einen Wunsch hatte: nämlich auch eines Tages dank einer hyperfuturistischen Brille samt Cyborg-Handschuh mit Alicia Silverstone zusammen Fallschirm zu springen. Und das alles, ohne mein Zimmer verlassen zu müssen.
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Zugegeben: Dank Videospielen konnte ich mittlerweile schon so einiges erleben, ohne auch nur ein einziges Mal von meiner Couch aufstehen zu müssen. Ich habe mit Solid Snake einen nuklearen Krieg verhindert, zusammen mit Ezio im Zeitalter der Renaissance Italien erkundet und Commander Shepard im Weltraum stets richtig handeln lassen. All diese Spiele haben unvergessliche Erlebnisse geschaffen und vollkommen zurecht Kultstatus erlangt, weil sie es geschafft haben, einen durch packendes Storytelling in eine andere Welt zu entführen. Trotzdem beschränkte sich dieses Erlebnis stets darauf, mit einem Controller vor dem Bildschirm zu sitzen.
Mit den zunehmenden technischen Möglichkeiten schritten auch Grafik und Storytelling immer weiter voran und sorgten für aufwendigere, tiefergehende Geschichten, die auch noch verdammt gut aussahen. Doch der wirkliche Einstieg in eine andere Welt, die seit Jahrzehnten erwartete Revolution im Bereich Virtual Reality blieb bisher aus—trotz Microsofts Kinect oder immer besser funktionierenden VR-Brillen wie der Oculus Rift und Sonys Project Morpheus.
Ich hatte mich also schon darauf eingestellt, weitere Jahre bewegungslos vor dem Bildschirm zu verbringen, als mein Besuch bei dem Indie-Game-Festival A MAZE mein bisheriges Videospiele-Weltbild gehörig ins Wanken brachte. Die Veranstaltung, die im Rahmen der International Games Week in Berlin stattfand, zeigte mir, was Games eigentlich alles können—und dass die wirklichen Innovationen nicht bei den ganz großen Spieleschmieden wie EA oder Ubisoft passieren. Die wahren Vorreiter der Branche sind die Indie-Entwickler.
Bei unserer Ankunft war ich ziemlich erstaunt, wie metalaffin das Publikum war—lange Bärte, Patronengürtel, Bandshirts mit unlesbaren Logos, jede Menge Dosenbier—, dann stellte sich allerdings heraus, dass direkt nebenan das „Desert Fest” stattfand. So bewahrheitete sich beim Eintritt zum Festival dann doch das übliche Publikum: Triforce-Jutebeutel hier, IT-Crowd-Buttons da und ja, wir haben sogar ein Mädel mit einem Dick-Butt-Shirt entdeckt. Durchschnittlich waren die Besucher alle über Anfang 20 und weit hinaus, Männlein und Weiblein hielten sich die Waage. Es war ein reifes, erwachsenes Publikum, welches aber keineswegs den Spaß am Spiel verloren hatte. Ein starker Gegensatz zu Veranstaltungen wie der Gamescom also, wo sich gerne mal komplett in Merchandise eingekleidete Teenager um das letzte Call of Duty-Schlüsselband prügeln oder Entwickler-Stände mit leichtbekleideten Hostessen um die Aufmerksamkeit der Besucher buhlen.
Eine Sache hatte die Indie-Messe dann aber doch mit dem Schaulaufen der großem Industrievertreter gemein: es war ziemlich laut. Überall piepte es und 8bit-Musik beschallte uns quer durch den Raum. Interessant war, dass man als Besucher sehr auf sich allein gestellt war. Kein Spiel wurde groß beworben, jeder sollte für sich selbst erkunden und das breite Angebot ausprobieren. Natürlich ist es nervig, wenn einem über die Schulter geschaut wird und einen der jeweilige Level-Designer keinen Schritt machen lässt, ohne zu erklären, was als Nächstes passiert. Andererseits waren manche Spiele dermaßen Indie, dass man ohne jegliche Instruktion einfach nicht wusste, was zu tun war. Aber vielleicht ist das auch der Preis der Innovation.
Da gab es zum Beispiel dieses eine Spiel, das auf eine größere Leinwand projiziert wurde und alleinig durch das Umstecken von Klinkekabeln funktionieren sollte. Durch Kopfhörer wurde man mit Minimal-Technobeats beschallt und auf der Leinwand erschienen Vektor-Grafiken und grelle Farben. Kennt ihr noch die Musikvideos von Perplexer aus den 90ern? Genau so sah das aus. Ich steckte einen Stecker um. Ich steckte einen weiteren Stecker um. Doch selbst nach mehrmaligem Umstecken kam weder ein Spielfluss auf, noch änderte sich die Musik. Hatten mich die alles erklärenden Tutorials der AAA-Titel so verdorben, dass ich nicht mehr in der Lage war, einfachste Spielprinzipien zu verstehen? Nach mehreren Versuchen musste ich frustriert aufgeben.
Ich war trotzdem gefesselt. Vielleicht lag es auch daran, dass es in den Räumen irgendwie sehr nach Jungszimmer roch. Wie damals, als man zusammen mit vier weiteren Kumpels bei dem einen aus der Klasse übernachtete, der schon einen Super Nintendo zu Release besaß, und man die ganze Nacht mit Süßigkeiten und billiger Limonade durchzockte. Die Zeit und den Raum, keine große Geschichte erzählen zu müssen, sondern sich auch abstrakten Fragestellungen und ungewöhnlichen Themen abseits des Mainstream widmen zu können—was für den nächsten, teuer produzierten Ableger eines AAA-Franchises unvorstellbar wäre, ist in der Indie-Szene Gang und Gäbe.
Komplett neue Wege beschritt beispielsweise Deep, eines der vielen Spiele der Messe, die durch den Einsatz von Oculus Rift an der Grenze zwischen Realität und Virtualität rütteln. Insgesamt nutzten etwa die Hälfte der Aussteller die VR-Brille für ihre Titel. Ob man Deep nun als Spiel im klassischen Sinne bezeichnen kann, ist fraglich, denn dieses Spiel steuert man komplett mit der so genannten „Pranyama-Atmung”. Beim Einatmen streckt man den Bauch aus, beim Einatmen ein. Diese Atemübung half Owen Harris, Entwickler dieses Spiels, seine Angstzustände zu mildern. Immer, wenn er kurz vor einer Panikattacke stand, schottete er sich in einen stillen Raum ab und konzentrierte sich ausschließlich auf seine Atmung. Um diesen künstlich geschaffenen Isolationstank mit anderen zu teilen und Betroffenen zu helfen, ihre Ängste ebenfalls in den Griff zu kriegen, entwickelte er Deep.
Da war ich also. Mit einem Gürtel um den Bauch, der meine Atmung registrieren sollte, einer klobigen Brille auf dem Kopf und 3D-Kopfhörern auf den Ohren. Mitten auf einer gut besuchten Messe und absolut bereit, in die Unterwasserwelt einzutauchen, die die Kulisse für das Spiel bildete. Ein Ziel gab es keins, alleinig das Entspannen war gefordert. Beim Bauchausstrecken, also beim Einatmen, stieg ich hinauf und schwamm schneller, durch Bewegungen meines Kopfes konnte ich die Richtung bestimmen. Für stundenlangen Spielspaß reicht diese einfache Mechanik natürlich nicht aus, soll sie aber auch nicht. Würde man die Steuerung per Atemtechnik allerdings in Stealth-Games wie Splinter Cell oder Metal Gear einbinden—beispielsweise die Luft anhalten zu müssen, um von einem vorbeilaufenden Feind nicht entdeckt zu werden oder den Alarm auszulösen—, könnte man einem etwas fad gewordenen Genre neues Leben einhauchen.
Einen ersten Einblick, wie Virtual Reality sich wirklich anfühlt, bekam ich allerdings bei The Marchland. Als ich die Dame fragte, worum es sich bei diesem Spiel handle, antwortete sie mit einem einfachen „It´s about being you”. Gespannt setzte ich die Oculus auf und befand mich direkt in einem Kassenhäuschen einer Mautstelle. Vor mir ein Tisch mit Telefon und einem aufgeschlagenem Buch. Ich schaute aus dem Fenster in die verregnete Nacht. Über mir eine Uhr, welche fortlaufend tickte.
Und als ich mich gerade fragte, ob dieses Spiel weder Sinn noch Ziel hat, traf es mich wie aus dem Nichts. Die Immersion tritt ein, ich verschmelze mit der virtuellen Realität. Sowohl im Spiel als auch in der Realität sitze ich auf einem Stuhl und vor mir befindet sich ein Tisch. „Aha, ich sitze. Demnach sitze ich wohl auf diesem Stuhl und wenn ich meine Hand ausstrecke zu diesem vor mir gesehenem Tisch, dann fühle ich auch diesen Tisch.” Mein Gehirn fällt auf den Trick herein. Ich hätte niemals gedacht, dass ein Spiel sich so echt anfühlen kann.
Diese für die perfekte Immersion nötige Überschneidung zwischen Realität und virtueller Welt ist es aber auch, die das Thema Virtual Reality so schwer für den breiten Markt adaptierbar macht. Ein FIFA mit Oculus Rift würde sich nur dann verblüffend realitätsnah anfühlen, wenn der Spieler auch vor dem Bildschirm seinen Gegenspieler ausdribbeln muss. Gleiches gälte für AAA-Spiele wie Battlefield, Far Cry oder Assassin’s Creed. Der Spieler wäre in ständiger Bewegung und müsste sich für das komplette Eintauchen in das ultimative Spielerlebnis in seinem Wohnzimmer abhetzen und schwitzen—oder sich zumindest deutlich mehr körperlich betätigen, als er es von anderen Spielerlebnissen gewohnt ist.
Deshalb war eins der ersten Spiele, das Sony für seine VR-Brille Project Morpheus vorstellte, ein Rennspiel in einer Seifenkiste. Der Spieler kann hier eine Immersion erzeugen, da er auf seiner Couch ebenfalls zurückgelehnt liegen kann. Ebenfalls wichtig ist übrigens eine hohe Framerate. Sobald das, was man über die Brille sieht, nicht exakt den Bewegungen des Kopfes entspricht, entsteht ein Delay. Dadurch registriert das Gehirn, dass es sich nicht in der Realität befindet und das Wissen, nur ein Spiel zu spielen, bleibt.
Da der Traum vom Virtual-Reality-Handschuh, der es mir ermöglicht, mit den Helden meiner Jugend coole Sachen zu erleben, nach wie vor unerreichbar scheint, ist es umso schöner, dass es die internationale Indie-Game-Szene gibt. Eine Spielwiese, in der sich ohne Absatzzahlendruck und Vorgaben seitens der Industrie ausgetobt werden kann, weil man weder einen hohen Standard erfüllen, noch sich gegenseitig mit neuster Grafik-Engine oder Cameo-Rollen von Schauspielern messen müssen. Die Indie-Szene bietet einen Blick dahin, wie die Zukunft des Mediums Videospiel aussehen könnte. Und wenn ich mal keine Lust auf Innovation habe, rette ich eben wie gehabt als übermächtiger Soldat die Welt.
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