Ich bin Anfang 20, ziemlich groß und ziemlich dünn. Schlaksig würde man sagen, ein bisschen wie Slenderman. Eigentlich war ich immer eher glücklich über die plötzliche Erschlankung meines erwachsenen Ichs, nachdem ich zuvor ein dickes Kind war und in meiner Familie Gewichtsprobleme nicht gerade etwas Unbekanntes sind. Groß, dünn und immer einer dieser verhassten Menschen zu sein, die fressen können wie ein Schwein und trotzdem nicht zunehmen, empfand ich immer mehr als Privileg denn als Anlass für Selbstzweifel.
Ein ziemlich arger Wachstumsschub (und wahrscheinlich eine von mir und netdoktor.at vermutete Schilddrüsenüberfunktion) haben mich also zu der großen, dünnen Person gemacht, die ich heute bin. Das hat zur Folge, dass meine Mama, meine Oma, meine Tanten, und eigentlich generell Frauen über 40 den starken Drang verspüren, mich mittels Fütterung vor dem Hungertod zu bewahren. „Isst du auch genug?”, „Schmäler bist du geworden!”, „Ist ja fast nichts da von dir!” sind so die Standard-Sätze, die ich mir anhören muss. Ich versuche das meist mit einem Scherz abzutun, aber natürlich ist es nicht gerade angenehm.
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Ich fing erst an, mir bewusst Gedanken über meine Körperwahrnehmung zu machen, als ein Freund, dessen Statur ich grundsätzlich als durchschnittlich bis definiert einordnen würde, mir plötzlich seine Body Issues offenbarte: Er fühlt sich neben seinen durchwegs muskulösen Arbeitskollegen unwohl und will nicht mal ein T-Shirt neben ihnen anziehen, weil seine Oberarme nicht ganz so breit sind wie die der anderen. Lieber trägt er Hemden mit hochgekrempelten Ärmeln; das kaschiert. Jetzt gehen ihm langsam aber sicher die Hemden aus—und ich frage mich, mit welchen Augen er mich erst sehen muss, wenn er sich selbst schon für zu untrainiert hält.
Als Kelly Clarkson dieses Jahr aus ihrer Babypause zurückkam und logischerweise nicht mehr ganz ihre bauchfreie „Breakaway”-Figur hatte, schimpfte eine britische Giftnudel auf Twitter, sie hätte wohl ihre Background-Sängerinnen gegessen. Der Backlash gegen sie war riesig, die Botschaft klar: Body Shaming, egal in welcher Form, hat 2015 einfach keinen Platz mehr in unserer Gesellschaft. Die Botschaft steht aber auch im Widerspruch zur Praxis, in der Body Shaming immer noch ein Problem für viele ist—auch, wenn in der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Thema immer noch viele glauben, es wäre ein reines Frauenproblem. Aber warum denken wir, (vor allem junge) Männer stünden nicht unter demselben Druck, attraktiv zu wirken?
Es gab mal eine Zeit, in der Skinny Jeans das Geilste in der Männermode-Welt waren und man nur cool sein konnte, wenn die Arctic Monkeys zumindest zum engeren Kreis der Lieblingsbands gehörten. Keine Ahnung, wo die ganzen Indie-Typen inzwischen hinverschwunden sind—vermutlich schmoren sie mit den Emo- und Skater-Überbleibseln der 00er-Jahre in einem eigenen Limbus für ausgestorbene Jugendkulturen. Alles, was ich weiß, ist, dass Pete Doherty-Beine in engen Hosen heute nicht mehr wirklich dem Ideal entsprechen. Stattdessen haben alle Typen irgendwann beschlossen, muskulöse Bros zu werden.
Der britische Autor Mark Simpson, der auch schon für die Prägung des Begriffs „Metrosexualität” verantwortlich war, hat vergangenes Jahr im Telegraph über „spornosexuelle Männer” geschrieben—sie definieren sich in ihrer Statur angeblich über eine Mischung aus Sportler und Pornostar. „Sie wollen für ihre Körper gewollt werden, nicht für ihre Kleidung. Und schon gar nicht für ihren Verstand”, schreibt Simpson.
Diese Männer vermehren sich wie die Karnickel—und ja, sie haben sich verdammt ansehnliche Körper antrainiert. Das verlangt Hingabe und verdient Respekt. Die Motivation der meisten Pumper, die regelmäßig Workout-Selfies auf Instagram posten und natürlich genau so hard worken wie sie playen, ergibt sich jedoch weniger aus körperlicher Gesundheit als aus purer Eitelkeit. Am Ende des Tages wollen Männer nun mal genau so wie Frauen gewollt werden—und durch soziale Medien ist eben nicht nur der Vernetzungsgrad höher, sondern auch die Konkurrenz größer geworden.
Wie sich herausstellen sollte, können viele meiner männlichen Bekannten die Hochkrempel-Komplexe des vorhin erwähnten Freundes ziemlich gut nachvollziehen. Die meisten fühlen sich gesellschaftlich unter Druck gesetzt, ab- oder zuzunehmen (je nachdem—die meisten finden sich jedoch zu dünn) und Muskeln aufzubauen, um letztendlich dem Bild zu entsprechen, das gegenwärtig als männliches Schönheitsideal empfunden wird. Bei vielen hatte das so einen leicht ertappten Unterton—sie bezeichnen sich als „Opfer” dieser Fitness-Welle, und „beichteten”, dass sie inzwischen anstatt Musikblogs lieber Anleitungen zum Muskelaufbau lesen würden.
Wenn man sich als Mann ohne Sixpack ins Schwimmbad traut, ist dieser Ort genau so eine Brutstätte für Körper-Komplexe wie er das für Frauen sein kann. Mir persönlich ist das erst richtig bewusst, seit ich von den Unsicherheiten der Männer in meinem Freundeskreis erfahren habe. Wenn man selbst eher Team Hühnerbrust oder Team Wampe ist, und sich plötzlich von Oben-ohne-Muskelmännern umgeben findet, ist es anfangs vermutlich mehr als eine kleine Überwindung, sich überhaupt das Shirt auszuziehen.
Bei meinem letzten Badeausflug fiel dann auch mir gegenüber dieser Satz: „Wenn du so ganz ohne Shirt daliegst, fällt mir erst auf, wie dünn du eigentlich bist.” Die Person meinte das nicht böse, aber es ist eben auch kein Kompliment. Im Grunde genommen war es genau so abfällig, wie es ein Kommentar zu jemandes Bauchspeck wäre. Ich empfand dünn sein wie gesagt immer mehr als Privileg—wenn ich es mir jedoch aussuchen könnte, hätte ich schon gerne ein paar Kilos mehr.
Wie mir selber erst klar wurde, als ich damit konfrontiert wurde, kann „Du bist so dünn” genau so verletzend sein wie „Du bist so dick”. Die Vorstellung, dass Männer dagegen immun sein oder davon unberührt bleiben würden, hängt allein mit der komischen Idee zusammen, dass wir uns für nichts genieren würden. Schamgefühl ist in vielen Köpfen etwas, das bei Frauen stärker entwickelt ist. Während wir furzen, rülpsen, pissen und kacken, ohne uns Gedanken darüber zu machen, was andere über uns denken könnten, werden Frauen von gesellschaftlichen Normen geplagt. Letzteres stimmt natürlich, aber es ist längst geschlechtsübergreifend der Fall. Männer, so das Klischee, finden nichts peinlich, nehmen alles gelassen und haben keinerlei Selbstzweifel—und genau da wird es schwierig. Es gibt hier nicht nur eine, sondern gleich zwei Doppelmoralen.
Einerseits ist es heuchlerisch, wenn wir uns nur in eine Gewichtsrichtung auf Beleidigungen und Diskriminierung sensibilisieren. Ich sage nicht, dass übergewichtige Personen nicht unter Body Shaming leiden, ich sage nur, dass wir bei Body Shaming von Dicken und Dünnen nicht mit zweierlei Maß messen sollten. In meinem Bekanntenkreis hat man sich offenbar auch schon mal Gedanken darüber gemacht. Ein Freund schreibt mir: „Fragen wie ,Wie viel wiegst du?’ oder ,Warst du immer schon so dünn?’ sind bei Dünnen genau so unangebracht wie bei Dicken. Wer fragt schon einen dicken Menschen ,Warst du immer schon so fett?’. Bei Dünnen passiert das in umgekehrter Form aber andauernd.”
Andererseits gibt es völlig unterschiedliche Standards, mit denen Frauen und Männer hinsichtlich ihrer Körper konfrontiert werden, oder vielmehr die Art, wie mit diesen Standards umgegangen wird. Ja, Barbies Figur ist verdammt unrealistisch und treibt kleine Mädchen schon in die Magersucht, bevor sie überhaupt Brüste haben. Victoria’s Secret-Engel zeigen ihre wahr gewordenen Männerträume in Form von Körpern, die für die meisten Mädchen unerreichbar (und gerade deshalb attraktiv) sind.
Inzwischen gab es zahlreiche Kampagnen gegen die Vermittlung eines bestimmen Körpertyps als einzig wahres weibliches Schönheitsideal. Googelt man „Body Image”, erscheinen fast ausnahmslos Bilder von Frauen, die aussehen, wie aus dieser Dove-Werbung und sich pudelwohl in ihrer nicht ganz so perfekten Haut fühlen. Das ist prinzipiell super.
Dass aber auch Super-Man, der eigentlich ein einziger Berg aus Muskeln ist, eine ziemlich utopische Vorstellung eines männlichen Körpers vermittelt, scheint im Gegensatz zur Barbie-Causa nie jemanden gestört zu haben. Captain America, Thor, die Magic Mike-Typen—sie sind alle nicht nicht nur in Form, sie sind perfekt trainiert und definiert. Sogar Justin Bieber ist heute irgendwie muskulös.
Ich will hier nicht wie ein Männerrechtler klingen oder mit „Männer haben auch Probleme” die feministischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte kaputtmachen. Sicher, Männer werden immer noch bevorteilt und verdienen mehr als Frauen.
Vor allem ältere Exemplare werden nach wie vor keine Probleme damit haben, ihre Wampe mit Geld und ihre Falten mit Reputation zu kompensieren. Und kaum, dass der Schönheitswahn auf beide biologischen Geschlechter übergreift, gibt es mit dem „Dad Bod” auch schon die ersten Gegenstrategien, damit es sich Männer ohne Ambitionen zu Fitness oder Körperkult auch schnell wieder bequem machen können. Außerdem gibt es da noch diese als Naturgesetz verkaufte Plattitüde, dass Männer im Alter attraktiver und irgendwann zu George Clooney oder Sean Connery werden, während Frauen nicht reifen, sondern lediglich zu menschlichen Rosinen verschrumpeln.
Johanna Zierl ist Psychotherapeutin im Institut Intakt, einem Wiener Therapiezentrum für Menschen mit Essstörungen, und schildert mir ihre Erfahrungen so: „Früher war es das Selbstverständnis eines Mannes, einen leichten Bauch haben zu können, während eine schöne Frau schlank sein muss.” Sie bemerke zwar keine höhere Anzahl der Männer, die aufgrund einer Essstörung in Therapie sind, aber definitiv einen erheblich steigenden, medial verursachten Druck, dem vor allem jüngere Männer ausgesetzt sind.
„Immer mehr Teenager haben Probleme damit, muskulös, sportlich und trainiert aussehen zu wollen. Ich merke das auch bei uns im Zentrum”, so Zierl. „Das sind eben körperliche Attribute, die heute mit Erfolg und Reichtum in Verbindung gebracht werden.”
In meinem unmittelbaren, zugegeben jungen Umfeld ist das Bild vom ganz normalen Mann genau so tot wie die bereits erwähnten Indie- oder Emo-Looks. Was bleibt, ist, dass es nur eine einzige Art gibt, wie ein Mann auszusehen hat, um heiß und männlich zu sein—und jede Abweichung in egal welche Richtung geahndet wird.
Body Shaming betrifft also längst nicht mehr nur Frauen. Es hat schon eine gewisse Ironie, dass (zumindest junge) Männer plötzlich in der exakt selben, oberflächlichen Position angekommen sind, in die Frauen von uns jahrzehntelang gedrängt wurden. Eine im letzten Jahr veröffentlichte Studie der medizinischen Fachzeitschrift JAMA gibt an, dass fast 18 Prozent aller männlichen jungen Erwachsenen sich übermäßig viele Gedanken über ihr Gewicht und ihre Statur machen. Rund 8 Prozent aller 16 bis 22-jährigen Männer sind besorgt, nicht genügend Muskeln zu haben und ziehen dafür auch die Verwendung potentiell gefährlicher Substanzen in Erwägung.
Der Punkt ist nicht das eigentliche Gewicht oder Muskeln—der Punkt ist, dass deine Figur thematisiert wird, dass sie jemand zum Hauptthema in der Beschreibung deiner Person macht und dass Leute dich direkt verletzen, indem sie dich ungefragt in ihr sexuelles oder ästhetisches Weltbild einordnen. Stattdessen könnte man das gegenseitige Abchecken doch auch einfach auf die direkte Partnersuche, die meist eh nur noch auf sozialen Netzwerken stattfindet, beschränken—und sich gegenseitig ein bisschen slack cutten (sorry not sorry).
Ja, es gibt Körpertypen, die in der Regel als besonders attraktiv empfunden werden. Das heißt aber nicht, dass sie die einzigen sind. Vielleicht sollten wir (wieder) lernen, unterschiedliche Typen zu akzeptieren und aufhören, Shaming zu betreiben—unabhängig vom Geschlecht. Durchschnittliche Männer sollten weiterhin T-Shirts tragen können, ohne sich dabei unwohl zu fühlen.
Franz twittert hier: @FranzLicht