Ich werde nicht lügen: Es ging mir schonmal besser. Anders als sonst gehe ich in letzter Zeit nicht mit dieser gewissen Joie de Vivre durchs Leben. Letztens habe ich beim Versuch, eine Torte zu backen, sogar unkontrolliert zu weinen angefangen, weil mir bei diesem Unterfangen “alles zu viel” war – und das, obwohl es sich um eines dieser “Nur 5 Zutaten!”-Rezepte handelte.
Wäre mein Leben ein Film, wäre wohl allen Zuschauenden klar, dass die Hauptfigur dringend etwas ändern muss. Ich fühle mich gestresst, habe wenig Zeit für meine Freunde und noch weniger Zeit für Hobbys. Manchmal sitze ich im Bus am Weg zu einem Termin und denke mir: “Endlich ein paar Minuten für MICH!”
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Deutlicher könnte ich meine Down-Phase wohl nur machen, würde ich in der Badewanne eine Zigarette rauchen und dabei einen Lana-Del-Rey-Song anstimmen. Dass ich Ende der Woche einen Stand-up-Auftritt vor 500 Menschen habe, vor dem ich hypernervös bin, lindert meine Anspannung nicht. Die Lösung meines Problems ist offensichtlich: Ja, ich sollte Stress reduzieren und mit jemandem über meine Probleme reden. Keine Sorge, ich bin dahinter!
Als ich letztens Instagram-Storys schaute, bekam ich aber noch eine ganz andere Idee. Mir fiel auf, dass ich unzähligen Bloggerinnen und Bloggern folge, die plötzlich spirituell geworden sind. Es scheint ein Trend zu sein. Im Vollmond laden sie ihre Kristalle auf, nehmen ihre Horoskope todernst und räuchern ihre Wohnung mit Salbei, um “negative Energien” zu vertreiben. Wenn das den Leuten hilft, warum dann nicht auch mir?
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Also habe ich fünf esoterische Must-Dos identifiziert und beschlossen, das eine Woche lang auszuprobieren.
Tag 1: Ich räuchere meine Wohnung
Es ist offensichtlich, dass in meiner Wohnung böse Energien lauern – sonst würde ich doch nicht weinen, wenn ich backe – und so muss ich sie einfach reinigen. Also recherchiere ich zu Räucher-Zeremonien und stelle fest, dass sämtliche Eso-Seiten im Netz nicht nur köstliche Namen wie “Hexenladen Hamburg” oder “Mondfee” tragen, sondern auch aussehen, als hätte sie mein 13-jähriges Ich auf Beepworld entworfen.
Alle Infos, die ich dort finde, nehme ich also cum grano salis. Auf rauecher.info lese ich etwa, dass Weißer Salbei zur Reinigung von Räumen verwendet wird. Na dann: Her damit!
Von meiner Freundin Linda, die ähnlich esoterisch unterwegs ist wie die ganzen Blogger, hole ich mir ein Salbei-Büschel und bekomme den Tipp, bei meiner Räucher-Zeremonie nur ein Fenster meiner Wohnung zu öffnen. Öffne ich alle Fenster, so laufe ich Gefahr, dass die Geister (?) bei einem Fenster raus- und beim anderen wieder reinhuschen, und das will ich nun wirklich nicht riskieren.
Weder das Internet noch Linda haben mir dazu geraten, aber während des Räucherns kann ich nicht anders, als tiefe Geräusche von mir zu geben und ein paar Mal völlig unerwartet “PAH! PAH!” zu schreien, als würde ich den Geistern einen Kinnhaken verpassen. Meine Wohnung fühlt sich danach tatsächlich um einiges sauberer an. Aber vielleicht ja auch nur, weil ich endlich mal wieder ein Fenster aufgemacht habe.
Tag 2: Ich lebe nach dem Gesetz der Anziehung
Eso-Blogger lieben das Gesetz der Anziehung und den Mega-Bestseller The Secret. Dabei handelt es sich, wie der Name schon sagt, um ein wertvolles Geheimnis, das nur absolute Genies wie Platon, Leonardo Da Vinci und … die australische Fernseh-Produzentin Rhonda Byrne kennen. Zum Glück hat sie es zu Papier gebracht und mit Massen an Lesern und Leserinnen geteilt.
Die Kurzzusammenfassung von The Secret hört sich an wie der Refrain dieses einen Julia-Engelmann-Songs: Die Dinge werden wahr, wenn man sie oft genug sagt. Sage ich mir jeden Tag, dass ich ein charmanter Multimillionär bin, der beim Backen nicht in Tränen ausbricht, und glaube ich ganz fest daran, so ziehe ich diese Dinge an und sie werden irgendwann real. Klingt verlockend, oder?
Also probiere ich das mal. Ich nehme ein paar Post-its und schreibe Behauptungen auf, die zwar schön, aber zu 100 Prozent erlogen sind. “Ich bin ein erfolgreicher Stand-up-Comedian!”, lautet eine davon; “Ich bin wahnsinnig reich!”, eine andere. Ich klebe sie an den Spiegel und weil ich ein eitler Mensch bin, bin ich mir sicher, dass ich sie so täglich mindestens 20 Mal sehen werde.
So sage ich dem Universum Bescheid, dass ich diese Sachen möchte, und wenn ich das richtig verstanden habe, übernimmt das Universum dann die Rolle des Richard Gere in Pretty Woman und liest mir jeden meiner Wünsche von den Lippen ab. Um ehrlich zu sein, ich glaube nicht wirklich an diesen Hokuspokus.
Aber dann passiert etwas, das tatsächlich ein bisschen gruselig ist. Als ich Instagram öffne, wird mir vorgeschlagen, der Bloggerin Lisa-Marie Schiffner zu folgen. “Thanks, but no thanks!”, denke ich und gehe beschwingt meiner Wege. Zwei Stunden später schlendere ich durch die Stadt und da rast sie an mir vorbei: Lisa-Marie Schiffner!
Ich muss dreingesehen haben wie letztens, als mir in einem Restaurant ein gesunder Salat statt meiner bestellten “Meat Lover’s Pizza” serviert wurde. Liebes Universum, ich habe diese Lisa-Marie Schiffner nicht bestellt. Sie ist sicher total nett, aber darf ich stattdessen bitte meinen Reichtum haben?
Tag 3: Ich richte mich nach meinem Horoskop
Bis sich das Gesetz der Anziehung manifestiert, sollte ich also etwas anderes probieren: Ich will nach dem Mondkalender und meinem Horoskop leben. Mein Horoskop verrät, dass es in der Liebe heute zu “Diskussionen” kommt, also arrangiere ich für später ein Treffen mit meinem Freund, das ich vorsichtshalber schon mal als “Streit mit Dominik” in meinen Kalender eintrage.
Außerdem ist Vollmond, und das bedeutet laut Mondkalender nicht nur, dass ich in die Sauna gehen und Fruchtgemüse pflanzen soll (zwei Dinge, die ich mit Sicherheit nicht tun werde), sondern auch, dass heute alle Leute fucking crazy sind. Der Vollmond mache die Menschen unruhig und nervös, so heißt es.
“Pfuh, dir merkt man den Vollmond aber ganz schön an!” wird also heute zu meinem Lieblingsspruch, den ich etwa bringe, als Dominik mir erklärt, dass ich es mit meinem Eso-Projekt “ein bisschen übertreibe”. Aha, da haben wir sie ja, die “Diskussion”. Ich bin empört: Wie bitte? Übertreiben? ICH? Aber nicht doch. Dann öffne ich unbemerkt ein Fenster, damit die bösen Geister problemlos nach draußen kommen können.
Ich schreibe dieser Diskussion aber nicht allzu viel Gewicht zu, denn sind Horoskope nicht nur The Secret all over again? Natürlich streite ich mit meinem Partner, wenn ich am Morgen lese, dass ich heute mit meinem Partner streiten werde. Wenn Leute behaupten, ihr Horoskop habe sich ganz genau erfüllt, rollte ich nur mit den Augen. Kein Wunder, ihr zieht es ja auch an.
Wie dem auch sei! Der heutige Vollmond bedeutet auch, dass es Zeit ist, meine Kristalle aufzuladen. Von Gwyneth Paltrows Webseite Goop habe ich um 90 Euro ein kleines Säckchen mit acht verschiedenen Steinchen gekauft.
Bestimmt fragt ihr euch, ob ich völlig meschugge bin, 90 Euro in Edelsteine zu investieren. Aber ich möchte euch darauf hinweisen, dass die Steine laut Produktbeschreibung vorab Schallwellen ausgesetzt, mit Mantras aktiviert und von einem Reiki gesegnet wurden, und ich bin sicher, wir alle können einsehen, dass das nunmal seinen Preis hat.
Ich lege die Kristalle also im prallen Mondlicht auf mein Fensterbrett und freue mich auf den nächsten Tag.
Tag 4: Ich reinige meine Chakren
Mein Mondkalender sagt mir, ich solle heute Krafttraining machen oder mich operieren lassen, was ich für noch absurder halte als den Vorschlag mit dem Fruchtgemüse. Warum nur Dinge vorgeschlagen werden, die absolut kein Mensch auf dieser Welt gerne macht, ist mir ein Rätsel. Kann da nicht einfach “Neue Snacks ausprobieren” oder “15 Folgen Riverdale schauen” stehen?
Stattdessen widme ich mich meinen Kristallen, die ja jetzt die ganze Nacht lang im Schein des Vollmondes aufgeladen wurden und somit fit for fun sind. Linda sagt, ich müsse sie auf meine Chakren legen, damit sie geöffnet werden. Den sieben Chakren, so heißt es, sind unterschiedliche Qualitäten des menschlichen Lebens zugeordnet. Es gibt etwa das Stirnchakra, welches für Weisheit steht, und das Herzchakra, das die Liebe repräsentiert.
Bestimmt kennt ihr das, wenn ihr morgens aufwacht und einfach nicht so kommunikativ seid wie sonst. Früher dachte ich mir dann immer: “Michi, du dumme Nuss!!! Wieso bist du heute wieder so asozial?”, bevor ich mich selbst ohrfeigte, doch diese Tage sind vergangen. “Ach, dieses verflixte geschlossene Halschakra schon wieder!”, klage ich nun, und krame meinen blauen Stein, einen Sodalith, hervor.
Richtig geraten: Der Sodalith ist fürs Halschakra zuständig, sorgt angeblich für besseren Ausdruck und wird daher besonders von Bühnen-Menschen geliebt. Wenn ihr demnächst einen Performer trefft, der blau gekleidet ist und aus dessen Manteltaschen es verdächtig klackert, wisst ihr Bescheid.
Nun liege ich also da, die sieben Steine auf den jeweiligen Chakren, ganz starr, und muss mindestens fünf Minuten warten, damit sie ihre Wirkung entfalten. Ähnlich, wie es mir Andy, der Typ aus meiner Meditations-App, immer befiehlt, versuche ich, dabei keine Gedanken zuzulassen. Weder an Riverdale noch an Bloggerinnen, die ich wieder unabsichtlich manifestieren könnte. Danach fühle ich mich tatsächlich sehr gut und energiegeladen. Aber, na ja, ich lag ja gerade auch fünf Minuten lang im Bett.
Für meinen morgigen Stand-up-Auftritt lege ich mir trotzdem schonmal den blauen Stein zur Seite.
Tag 5: Mein großer Auftritt
Heute fühle ich mich wie im End-Level meines Esoterik-Experiments und versuche, alles Gelernte auf einmal umzusetzen. Ich stehe auf, schaue in den Spiegel und glaube ganz fest daran, dass ich ein guter Comedian bin. Ich werfe einen Blick in den Mondkalender und mein Horoskop, in der Hoffnung, dass ich tröstende Worte finde wie etwa “Sie sind heute SEHR WITZIG und werden den Saal mit Gags, Gags, Gags zum Kochen bringen”, aber stattdessen steht da nur, dass ich Pilze sammeln oder Schädlinge bekämpfen soll. Hrmpf.
Mit meinen Mantras im Kopf verlasse ich das Haus und fühle mich wie Rocky Balboa am Weg zu einem Kampf. “Du bist seeehr witzig!”, sage ich mir so oft, dass ich es beinahe glaube. Kurz bevor ich an diesem Abend die Bühne betrete, hole ich nochmal meinen blauen Stein aus der Hosentasche und küsse ihn leidenschaftlich, was mir zwar niemand empfohlen hat, sich in dem Moment aber doch sehr richtig anfühlt.
Dann trete ich vor das Publikum und bin, wenn ich das so sagen darf, tatsächlich durchgehend recht witzig. Es klingt vielleicht lächerlich, aber ich habe das Gefühl, dass mir nichts passieren kann, solange ich meinen Stein dabei habe. Die Leute lachen an den Stellen, an denen sie lachen sollen, und rollen nur vereinzelt mit den Augen, als ich von meiner Eso-Woche erzähle.
Nach meinen Auftritten treffe ich meist noch das Publikum. Ähnlich wie mein Angebot, “jederzeit und so lange sie wollen” auf meine Nichten und Neffen aufzupassen, entpuppte sich auch dieses Vorhaben schnell als viel anstrengender als erwartet. Da ich gerade 90 Minuten auf der Bühne stand und mein Energielevel im Anschluss bei minus fünf Prozent liegt, sehe ich auf den meisten Fotos aus wie eine geschmolzene Kerze und der Smalltalk besteht zu 90 Prozent aus Hustenattacken meinerseits.
Heute treffe ich unter anderem einen jungen Mann namens Egon, der seine Mama dabei hat. “Ich bin Psychologin … “, stellt sich Egons Mama vor. ” Na endlich! Professionelle Hilfe!”, denke ich und kann mich gerade noch davon abhalten, ihren Sohn zur Seite zu schubsen und an Ort und Stelle ein Beratungsgespräch zu initiieren.
Doch bevor ich fragen kann, ob es normal ist, beim Tortenbacken zu weinen, gibt mir mein Gegenüber ein unerwartetes Kompliment: “Michael, ich finde es super, dass du Esoterik für dich entdeckt hast”, sagt mir die Psychologin. “Wie ich immer sage: Wenn es einem hilft und niemandem weh tut – warum nicht?”
Und genau so betrachte ich meine esoterischen Erfahrungen auch: Glaube ich wirklich, dass Salbei “böse Geister” entfernt und The Secret mir meine Wünsche erfüllt? Nein, dafür bin ich viel zu zynisch. Aber ist der Gedanke daran, dass mir absolut nichts Böses passieren kann, weil ich einen magischen Mondstein bei mir trage, für einen Neurotiker wie mich beruhigend? Ja, sehr sogar.
Rückblickend betrachtet war meine Eso-Woche ein bisschen so wie damals in meiner Kindheit, als mir meine Eltern vergewisserten, dass mich mein Teddybär vor den Monstern unter meinem Bett beschützen wird. Nicht ganz wahr, aber irrsinnig trostspendend.
Höchstwahrscheinlich hätte ich meine Woche auch ohne übernatürliche Hilfe erfolgreich hinter mich gebracht. Aber auf schlecht programmierten Eso-Seiten zu surfen und Kristalle zu küssen, hat nicht nur nicht geschadet, sondern mir auch die nötige Ablenkung geboten, um ein bisschen meiner altbekannten Joie de Vivre zurückzugewinnen – und dafür bin ich sehr dankbar.
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