Popkultur

Das beste Buch des Jahres sind die gesammelten SMS-Verläufe eines Handydiebs

Es gibt Dramen, die wurden von den größten Denkern unserer Zeit geschrieben. Geschichten voller Glück und Qual, Leid und Liebe, aus der Feder von Menschen wie Homer, Shakespeare, Schiller. Und dann gibt es Dramen, die schreibt das Leben – oder Ostdeutschland.

Die vielleicht abgefuckteste Liebesgeschichte seit Romeo und Julia (oder zumindest Twilight) beginnt unspektakulär. Am 10. November 2010 um 7:03 Uhr morgens schickt Paul seinem Freund Marco eine Nachricht. Er stehe vor dem Haus, in dem Marco mit seiner Mutter lebt, und warte. Wir wissen nicht, ob sich die beiden treffen, wir wissen nur: Knapp eine Stunde später schreibt Marco einer gewissen Anna eine Nachricht, die sich liest, als hätte er sie aus einem Pinterest-Sprüche-Bullshit-Bingo zusammengesetzt: “Wenn ich schlafen gehe dann ist es schon im dunkeln. Ich schaue nach oben und die engelsterne sind am funkeln. Doch der schönste und hellste stern…der bist du und den mag ich besonders gern.”

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Hier halte ich zum ersten Mal inne und versuche, mein Gelächter mit Kaffee zu ersticken. Vielleicht bin ich ein zynischer Mensch, vielleicht habe ich noch nie wahre Liebe erlebt, aber nach dieser Nachricht verstehe ich zum ersten Mal richtig, warum heutzutage so viele Beziehungen damit enden, dass einer dem anderen einfach nicht mehr zurückschreibt. Marcos Masche scheint bei den Mädels jedoch anzukommen. Eine Viertelstunde später bekommt er eine SMS. “Ich liebe dich so sehr mein Schatz”, erscheint auf seinem Display. Nur, die Nachricht ist nicht von Anna, sie kommt von Jana. Seiner Noch-Freundin.


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Marcos Geschichte ist die eines jungen Mannes, der zur Schule geht und in seiner Freizeit Leinwände besprüht oder zusammen mit Kumpels “Weiber” penetriert. Ein Teenager, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach echter Intimität und dem harten Struggle, ein echter Mann zu sein. Oder das, was er und seine Freunde für einen echten Mann halten. Vor allem aber liebt er Anne – und Jana, Lara, Maria und Lea. Denn Marco mag zwar eine pathetische Liebes-SMS nach der anderen verschicken, das hält ihn aber trotzdem nicht davon ab, sich mit seiner Ex oder seinem besten Kumpel auf einen Dreier zu verabreden. Sex, Verbrechen, Kunst und die Banalität des Alltags: Was schon um 1600 das Publikum bewegt hat, funktioniert auch im 21. Jahrhundert noch.

Dass wir diese Geschichte überhaupt lesen dürfen, ist der Verdienst von Lukas Adolphi aus Leipzig – und in gewissem Sinne auch der Tatsache geschuldet, dass Marco nicht so richtig clever zu sein scheint. Adolphi wurde 2010 an einem Bankautomaten überfallen, ihm wurden sein Geld und sein Handy abgenommen. Die Täter: Marco und ein Freund. Die Kleinkriminellenkarriere der beiden scheint sich damals auf einem Höhepunkt befunden zu haben, Adolphi ist nicht der einzige, den sie in dieser Zeit ausrauben. Als sie einige Wochen später festgenommen werden, geben sie alles zu.

“Bin single…habe jetz schluss gemacht! Schreib mir jetzt bitte zurück. Ild<3”

Der Fall geht vor Gericht, was aus seinen Angreifern wird, weiß Adolphi nicht. Dafür bekommt er schließlich sein Telefon zurück und muss feststellen: Marco hat über den Zeitraum von zwei Wochen sein Handy benutzt, alle privaten Nachrichten waren noch gespeichert. Und weil manche Geschichten zu gut sind, um sie nicht mit der Welt zu teilen, kann man die unglaublichen SMS-Verläufe jetzt auf Adolphis Website als Buch bestellen.

Marco, das verstehen wir direkt zu Beginn, befindet sich in einer Zwickmühle. Einerseits hegt er starke Gefühle für Anna, die er in der Schule kennengelernt hat. Andererseits befindet er sich in einer Beziehung mit einer anderen Frau, deren Gefühle er nicht verletzen möchte. Zumindest nicht doll. Deswegen schreibt er Jana knapp zwei Stunden nach einem routinierten “Ich liebe dich auch <3” eine sehr lange SMS, in der er ihr erklärt, dass er nicht gut genug für sie sei und viel lieber wieder mit ihr befreundet wäre. Das liest sich losgelöst beinahe ehrlich – bis darunter die nächste Nachricht von Marco auftaucht, dieses Mal an Anne: “Bin single…habe jetz schluss gemacht! Schreib mir jetzt bitte zurück. Ild<3” Das klingt brutal und ist es auch, liest sich in seiner Abfolge aber auch so absurd, dass ich nicht anders kann: Ich muss lachen. Und weiterlesen. Schließlich weiß ich nicht, wie abgründig das alles noch wird.

Die Cops ham mein Handy setzt den Leser in eine Achterbahn, zieht den Sicherheitsgurt sehr fest zu und fährt ihn einmal durch alle Ängste, die man als moderner Mensch überhaupt haben kann. Wenn mir jemand mal einen Tag nicht antwortet, ist die Person dann vielleicht wirklich beschäftigt, oder hasst sie mich, will das aber nicht zugeben? Sollte ich das jetzt wirklich schreiben, oder landet ein Screenshot von der Nachricht später irgendwo? Wie ernst sollte ich das Herz am Ende der SMS nehmen? Und allem voran: Wie vielen Menschen schreibt er oder sie exakt dasselbe? Wie austauschbar bin ich? Die Hunderten Nachrichten sind existenziell.

Screenshots mit freundlicher Genehmigung von Lukas Adolphi

Trotzdem gibt es immer wieder Momente, in denen man nicht fassen kann, dass das echte Menschen sind, die sich echte, ernstgemeinte Nachrichten schicken. Anne beispielsweise, die in ihren SMS scheinbar willkürlich auf Leerzeichen verzichtet, bittet ihr “Bebiii” Marco, sie direkt vor der Haustür abzuholen, denn: “SonstWèrdenMeineHaareNaßUnddannBinIchNichMehr Schön.” Und schön sein will man für jemanden, der mit jeder Nachricht ein bisschen tiefer in die Schnulzkiste greift (“Ich bin hier, und du bist dort, das heißt einer von uns ist am falschen ort, ich liebe DICH sehr”).

Das schmale Büchlein zeigt vor allem, wie viel von unserem Leben schon 2010 in einem elektronischen Gerät steckte. Dass es durchaus möglich ist, den Alltag und den Charakter einer wildfremden Person über das zu rekonstruieren, was sie mit Bekannten teilt. Wäre der Vorfall 2017 passiert, hätte sich in zwei Wochen – inklusive Fotos, Videos, Instagram, Snapchat und was Teenager heutzutage sonst noch so benutzen – wahrscheinlich so viel Material angesammelt, dass man damit spielend mehrere Bände von Das Lied von Eis und Feuer füllen könnte.

Lukas Adolphi hat nach eigener Aussage keine der Nachrichten bearbeitet oder gekürzt. Dafür aber “an wenigen Stellen” die Abfolge geändert: “Wenn man mit mehreren Personen gleichzeitig schreibt, ergibt sich daraus in der Realität ein ziemlicher Wust. Ich sah es als meine Aufgabe, dem Leser da etwas entgegenzukommen.” Außerdem wurden natürlich die Namen der Protagonisten geändert.

“schick mir jetzt nummern von weibern die jz noch zeit haben!”

Tatsächlich macht es keinen Unterschied, ob Marco wirklich Marco ist, Tom wirklich Tom heißt und Leute wie Karge oder Pitzi in der Realität nicht vielleicht andere komplett bescheuerte Spitznamen haben. Irgendwann verhärtet sich der Kern aller Konversationen sowieso auf wenige Fraktionen: Marco, sein bester Kumpel Paul, Anne, Marcos andere Freunde, Marcos andere “Freundinnen”, Mutti und die “Guthaben fast leer”-Nachrichten seines Telefonanbieters. Und was zwischen den wenigen Leuten abgeht, deren Namen man sich merken kann, ist schon verwirrend genug.

Anne beispielsweise pocht zwar darauf, dass Marco mit Jana Schluss macht, hat aber selbst noch einen anderen Freund (Flori). Marco beratschlagt sich derweil mit Paul, welche Frau sie sich demnächst “teilen” wollen, erklärt aber seiner Ex-Jana, dass er sich noch nicht ganz sicher ist, ob der Dreier mit ihr und einer gemeinsamen Bekannten eine gute Idee ist – schließlich liebt er ja Anne. Letzteres wird ihn allerdings nicht davon abhalten, Jana acht Tage später zu schreiben: “schick mir jetzt nummern von weibern die jz noch zeit haben!” Ganz im Allgemeinen scheint jede Person aus Marcos Umfeld in mindestens einer Beziehung zu sein, verabredet sich allerdings regelmäßig mit anderen Menschen zum Geschlechtsverkehr. Das ist Stoff, aus dem RTL mindestens drei Nachmittagsformate entwickeln könnte!

Jeder SMS-Dialog scheint seine eigene Realität zu schaffen, die anschließend parallel nebeneinander existieren können, ohne dass sich Marco und seine Bekannten jemals selbst hinterfragen. Macht ein Baum, der im Wald umfällt, auch dann ein Geräusch, wenn ihn niemand hört? Wohl eher: Wenn ich nicht weiß, dass mein Partner mich betrügt, weil er diese Seite von sich nur in anderen Chats zeigt – existiert dieser Betrug in meiner Realität dann überhaupt? “Überrascht hat mich die Brutalität der Gleichzeitigkeit”, sagt auch Lukas Adolphi. “In dem einen Moment der Freundin eine Gute Nacht wünschen, und sich im nächsten Moment mit einer anderen auf einen Dreier verabreden.”

Dieses beinahe schizophrene Verhalten zieht sich durch alle Nachrichten von Marco – auch in den Konversationen mit seinen Freunden. Jede zweite Nachricht endet mit einem “hdl”, “ild”, Herzchen oder Kusssmiley. Stellt man sich so Leute vor, die sich verabreden, um Menschen zu überfallen oder – Zitat Paul – zu ficken? Immer wenn man glaubt, die sozialen Dynamiken verstanden zu haben, öffnet sich eine weitere Falltür, unter der manchmal etwas wartet, was man lieber nicht gesehen hätte. Das zeigt sich besonders deutlich im hinteren Teil des Buchs. Als sich Paul und Marco mit einer gewissen Karo zum “hardcore bangen” treffen wollen, wandelt sich die Tonalität von kumpelhafter Bruderliebe zu obszöner Pornhub-Diskussion. “wehe die fickt heute nicht. Dann schlag ich die…ohne scheiß!”, schreibt Marco, und zementiert seine plötzliche Wandlung von der untreuen Dumpfbacke zum potenziellen Triebtäter wenig später mit einer weiteren Nachricht: “Wir sperren die einfach ein bis sie das maul für unsere schwänze aufmacht.”

Je eindeutiger Marcos Gewaltfantasien werden, umso mehr scheint auch Anne in den Hintergrund zu treten. Warum, bleibt offen. Hat sie seine Spielchen durchschaut? Will sie es doch noch einmal ernsthaft mit ihrem Flori versuchen, dessen Auto anscheinend demoliert wurde? Marco selbst spricht mit anderen nach wie vor darüber, etwas von Anne zu “wollen”, nur schreiben tun die beiden eben nicht mehr. Die zweiwöchige Liebe zwischen Marco und Anne war ein stetiges Auf und Ab – und es lässt sich vor allem deswegen von Liebe sprechen, weil in nahezu jeder Nachricht das Wort “Liebe” fällt. Vielleicht ist es unfair, zwei junge Menschen auf Basis von Textnachrichten zu beurteilen, aber: Wenn es Liebe ist, immer mindestens zwei Beziehungen gleichzeitig zu führen und sich von vorne bis hinten anzulügen, dann bin ich vielleicht ganz froh, dass mein Liebesleben weniger episches Drama und mehr Dauerwerbesendung ist.

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