Zeitgenössische Kunst muss nicht abgehoben und verwirrend sein

Marina Abramović mit „The Artist Is Present“ im Museum of Modern Art. Foto: Shelby Lessig | Wikimedia | CC BY-SA 3.0

Ossian Ward ist einer von Großbritanniens führenden Kunstkritikern. Sein neues Buch trägt den Titel Ways of Looking, der erstmal ein wenig herablassend wirkt, denn jeder Mensch mit Sehvermögen sollte das schon drauf haben. Beim Durchlesen wird jedoch klar, dass das Buch eine sehr nützliche Hilfe beim Verstehen von zeitgenössischer Kunst darstellt, denn diese Art der Kunst erscheint zumindest mir oft so planlos wie jemand, der in einer Galerie immer wieder das Licht an- und ausschaltet

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Ossian rät vom hochgestochenen Kunstjargon ab und meint, dass man zeitgenössischer Kunst immer mit klarem Verstand und unvoreingenommen begegnen sollte. Da er einen netten und hilfsbereiten Eindruck machte, entschied ich mich dazu, ihm einige der peinlichen Fragen zu stellen, die mir bei einem Besuch einer modernen Kunstgalerie durch den Kopf schießen (neben „Wo ist das Café?“ und „Wie viel Geld Marina Abramović wohl dafür bekommt, einfach nur dazusitzen?“).

VICE: Hi Ossian. Was ist denn nun zeitgenössische Kunst? Der Mut, etwas so Empörendes zu tun, dass es schockiert oder doch der, etwas so Banales zu machen, dass es ebenfalls schockiert?
Ossian Ward: Zeitgenössische Kunst hat an sich nichts mit Mut zu tun, auch wenn ich mir sicher bin, dass Tracey Emin hier jetzt Einspruch einlegen würde. Sie schreit dich jedoch ab und zu von der anderen Seite des Raumes aus an und kann provozierend, herausfordernd und sogar beängstigend sein. Ich war schon an Orten, die wie der Schauplatz eines Mordes, ein Bordell oder eine Terroristenhochburg aussehen sollten.

Ich bin auch schon um mehrere gefederte Menschenfallen herum geschlichen, habe in einer Galerie schlimme Verbrennungen riskiert, weil dir von der gegenüberliegenden Wand eine Flamme entgegen schoss, durfte nicht von einem Brunnen trinken, in den angeblich LSD gemischt wurde, und wurde vor einer kleinen Kugel gewarnt, die eine Bombe enthielt, die in 100 Jahren explodieren soll … ich könnte noch ewig so weitermachen. Konfrontationskunst ist heutzutage auf jeden Fall ein beliebtes Mittel der Künstler, um unsere Aufmerksamkeit zu erregen. 

Ein Werk von Tracy Emin. Foto: Glen Coco

Denkst du dir jemals, dass die Tate Gallery of Modern Art in London oder das Museum of Modern Art in New York so etwas wie riesige Einkaufszentren für Kunst sind—also in dem Sinne, dass es da einfach viel zu viele Sachen gibt?
Wenn die Kunst dann doch bloß auch zu runtergesetzten Preisen verkauft werden würde und es spezielle Wühltische für obskure Werke des Surrealismus gäbe. Das fände ich toll. Aber jetzt mal im Ernst: Ja, unsere großen Kunstinstitutionen können wie verwirrende Orte voller geheimnisvoller und exotischer Objekte wirken—im Grunde habe ich deswegen auch mein Buch geschrieben.

Wir sollten die Komplexität, die Abstraktheit oder die Zufälligkeit der zeitgenössischen Kunst nicht fürchten, sondern als Reflexionen unserer Kultur zu schätzen wissen. Als Referenzen gebe ich anstelle von Abschnitten der Kunstgeschichte oder philosophischen Theorien oft lieber Hollywood-Spielfilme, Vergnügungspark-Attraktionen und andere Arten von Entertainment an, denn nicht jeder interessiert sich für die erstgenannten Dinge.

Welchen Sinn haben die sogenannten Durational Performances? Ist das einfache Sein wirklich Kunst?
Bei diesen Werken—Beispiele wären Projekte von Marina Abramović und die 24-Stunden-Videos von Christian Marclay oder Douglas Gordon—geht es neben dem Betrachten genau so viel um die Frage, ob das nun Kunst ist oder eben nicht. Ziemlich oft dreht sich die Diskussion nicht darum, ob das bloße Existieren Kunst sein kann, sondern darum, ob das Mitmachen oder das Dabeisein auch Teil des Werks ist. Anders gesagt, es geht um unsere Reaktion auf und um unser Zusammenspiel mit einem Kunstwerk.

„Wie lange soll ich das jetzt machen? Wo soll ich hinschauen? Mache ich überhaupt mit?“ Das sind alles Teile des Verstehensprozesses von zeitgenössischer Kunst und sie sollten für die Freude an der Kunst oder für das Verständnis kein Hindernis darstellen. 

Foto: Andrew Russeth | Flickr | CC BY-SA 2.0

Was ist mit Spartacus Chetwynd, die für den Turner-Preis nominiert wurde? Ihre Kunst verstehe ich nicht wirklich—ist sie so schlecht, dass sie schon wieder gut ist?
Spartacus Chetwynd gibt es nicht mehr. Sie hat tatsächlich ihren Namen geändert und heißt jetzt Marvin Gaye Chetwynd. Das zeigt auch, wie schnell sich alles in der Welt der modernen Kunst verändert. Aber du hast Recht: Ihr unordentlicher DIY-Stil—du hast ihn so schön als schlecht bezeichnet—ist in der Tat ihr Markenzeichen als Performancekünstlerin. Einige sagen sogar, dass er das beste an ihr ist.

Ich habe mir schon ein paar Auftritte von Chetwynd komplett angeschaut. Sie haben mich bekehrt und von ihrer „Qualität“ überzeugt. Die verstörenden Situationen und Kreaturen, die sie erschafft, strahlen vielleicht auch etwas amateurhafte Dramatik aus, aber das macht sie ja irgendwie so reizvoll. Ganz häufig zeigt Chetwynd dazu viel Humor, was eine oft übersehene und verschmähte Eigenschaft der zeitgenössischen Kunst ist. Normalerweise mögen es die Leute nicht, wenn man in Museen lacht, aber ihr ist es egal.

Wo wir gerade schon vom Lachen reden: Lacht Martin Creed über uns, mit uns oder nur für sich, wenn er seinen Kontostand ansieht?
Sein Projekt „Lights Going On and Off“ ist immer noch ein gutes Beispiel für die Art von Kunstwerk, die für Aufregung sorgt. Ich interpretiere dieses Werk auf viele Arten, aber im Grunde sehe ich darin die minimalen Vorraussetzungen, die für ein Kunstwerk vorhanden sein müssen—du musst eine gute Idee haben und diese dann nur in die Tat umsetzen. Es ist das Äquivalent zum Aha-Erlebnis, also wenn dir ein Licht aufgeht. Jede Arbeit von Martin Creed hat so eine klare Bedeutung. Natürlich geht das Licht auch wieder aus, aber das wäre dann eine melancholische Interpretation des Projekts. Ich sehe ihn lieber als einen optimistischen Menschen, also lacht er definitiv mit uns.

Wie lange ist zeitgenössische Kunst auch wirklich „zeitgenössisch“?
Nicht sehr lange, auch wenn Auktionshäuser versuchen, diesen Zeitraum bis zu den 50ern auszudehnen. Die sind jetzt nämlich wieder im Trend und man kann so Profit daraus schlagen. Für Ways of Looking habe ich als Startpunkt das Millennium ausgewählt. Einige der Kunstwerke, die ich besprochen habe, gehören absolut in dieses Jahrzehnt und ich wollte so vor allem diese etwas mühsame Diskussion vermeiden, die niemals endet und in der sich ständig auf etwas Anderes geeinigt wird. 

Foto: Carsten Reksick

Sind Selfies in Kunstgalerien dumm oder ist jedes dieser Fotos ein wichtiges Statement über kulturelle Vervielfältigung?
Dumm. Aber genau so dumm sind auch die Museen oder Galerien, in denen die Leute keine Bilder machen dürfen. Traurigerweise reagieren wir so heutzutage anscheinend auf alles—wir machen Fotos mit unseren Handys. Ich bin offensichtlich kein großer Fan davon, Kunstwerke durch einen winzigen Bildschirm zu betrachten, wenn sich die richtige Version direkt vor dir befindet, aber ein Verbot der Gewohnheit ist auch nicht durchführbar.

Wenn Kunst etwas Subjektives ist, was macht dann einen guten Kunstkritiker aus?
I
ch bin mir nicht sicher, ob ich der beste Kunstkritiker aller Zeiten bin. In meinen Berichten habe ich oft eine unparteiische Haltung eingenommen, anstatt etwas in den Himmel zu loben oder in der Luft zu zerreißen. Ich glaube aber, dass ein guter Schreiber dazu in der Lage sein muss, selbst die komplexesten Kunstwerke in einfachen Worten zu erklären, ohne dabei irgendwelche Fachausdrücke zu verwenden.

Eigentlich ist das Buch nur eine Hommage an meine Zeit als Kritiker—ich gehe in einen Raum, bin erstmal total verwirrt, versuche daraufhin, das Ganze zu verstehen, und bringe dann letztendlich diese Gedanken aufs Papier. Der einzige Unterschied besteht darin, dass ich in dem Buch nicht so viel urteile. Die letzte Aufgabe, die ich „Assessment“ (Bewertung) nenne, überlasse ich den Lesern. Ihnen sollte die Freiheit gegeben werden, selbst zu entscheiden, ob sie ein Kunstwerk gut oder schlecht finden.

Vielen Dank, Ossian.