Grafiken: Sarah Schmitt, Motherboard | Gurken-Bild: Wikimedia Commons, Rainer Zenz | Lizenz: CC BY-SA 3.0CC BY-SA 3.0
Anonymous ist kein geschlossenes Hackerkollektiv, sondern eine lose Gruppierung, der sich jeder nach Belieben anschließen kann. Ihre Mitglieder arbeiten an sehr unterschiedlich ausgerichteten Operationen. Manche der Anons haben ähnliche Ziele, in anderen Fällen zerstreiten sich die Hacktivisten und wissen selbst nicht, was sie wollen.
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Es ist schon eine Weile her, dass die Operationen der Gruppe denselben Biss und politischen Einfluss hatten wie zu Zeiten von #OperationPayback, als Kreditkartenunternehmen auf Druck der US-Regierung Wikileaks den Spendenhahn abdrehten. Als Anonymous-Aktivisten Visa, MasterCard und PayPal angriffen, weil die Unternehmen sich weigerten, finanzielle Unterstützung für die Whistleblower-Plattform anzunehmen, wurden sie über Nacht zu einer politischen Macht—und für viele sind die anonymen Rächer in einheitlichen Masken das Sinnbild für politischen Aktivismus und den Kampf für das Gute geblieben.
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Geboren wurde die Anonymous-Bewegung ungefähr im Jahr 2003 auf dem Messageboard 4chan. Seit sich dann 2008 die ersten Anons hinter ihren Computern hervorwagten und an vielen Orten auf der Welt gegen Zensur auf die Straße gingen, hat das lose Kollektiv eine beeindruckende Karriere hingelegt. Doch ein aktueller Fall aus den USA, wo Anonymous traditionell für große Aufmerksamkeit sorgte, zeigt, dass die politische Schlagkraft von Anonymous inzwischen geschwächt ist: Noch im Mai verkündeten einzelne Anonymous-Mitglieder großspurig eine #OpTrump—doch im Wahlkampf gab es dann gar keine Aktionen.
Der Grund ist denkbar einfach: Die Bewegung sei zu stark zerstritten zwischen linken und rechten Anhängern, erklärten Anon-Aktivisten gegenüber VICE News. So konnte man keine signifikante Menge an Mitgliedern für eine gemeinsame Aktion mobilisieren. Hector Monsegur, der als Sabu zu einem der führenden Hacker der Bewegung wurde (bevor als Spitzel seine Kollegen an das FBI verriet), ging in seinem Abgesang noch weiter: „Ich persönlich glaube, dass Anonymous als Konzept, Bewegung und Organisation tot ist.”
Es ist eine These, die die Anon-Kennerin Gabriella Coleman schon öfter gehört hat, doch eindeutig für falsch hält, als Motherboard sie im letzten Sommer in Berlin zum Interview traf. Die Wissenschaftlerin, die viele Jahre mit einigen der profiliertesten Mitgliedern von Anonymous verbrachte und sie auch persönlich traf, ist sich sicher: Vor allem in Südamerika und im globalen Süden werde Anonymous im Kampf gegen die globale Ungerechtigkeit noch eine wichtige Rolle spielen.
Wie dem auch sei: Tatsächlich ist Anonymous in den Ländern, in denen die Bewegung groß wurde, in der jüngeren Vergangenheit vermehrt mit Aktionen aufgefallen, die erstaunlich unorganisiert und ziellos daher kamen. Wir haben ein unvollständiges Worst-of der schlimmsten Gurken zusammengestellt, bei dem zumindest eine Sache sicher ist: You can do better than that, Anonymous.
Operation Internet Archive: Jetzt zittert der IS so richtig
Gurken-Wertung: 5 / 10
Ziel: Die digitale Bibliothek und das Website-Archiv Internet Archive
Datum: Juni 2016
Legitimation für den Angriff: In den Archiven, die von Nutzern selbst befüllt werden, finden sich auch immer mal wieder Enthauptungsvideos und IS-Propagandamaterial (das hat das Internet nun mal leider so an sich).
Vorgehen: DDoS-Attacken unter dem Hashtag #OpIsis (siehe unten). Es scheint sich allerdings bei den Urhebern um eine Splittergruppe zu handeln, die weder mit einem der größten Anon-Gruppen AnonOps noch mit dem Spinoff Ctrl-Sec assoziiert ist. „Sie wirken nicht gerade wie die hellsten Birnen im Lampenladen“, sagte ein Anon-Mitglied unseren Motherboard-Kollegen in den USA.
Ergebnis: Das Internet Archive ist weiter online.
Kollateralschaden: Verhältnismäßig klein, allerdings ist das Internet Archive ein wichtiges öffentliches Recherche- und Verifikationswerkzeug und so etwas wie das kollektive Gedächtnis des Internets, das von Journalisten, Aktivisten und wissbegierigen Internet-Nutzern aus aller Welt gerne genutzt wird.
Operation Whales: Nissan-Hack zur Rettung der Wale
Gurken-Wertung: 7 / 10
Ziel: Nissan.com
Datum: Januar 2016
Legitimation für den Angriff: Japan geht auf Walfang, Nissan ist ein japanisches Unternehmen
Vorgehen: DDoS-Attacken gegen Nissan (Bei DDoS-Attacken handelt es sich um künstlich erzeugte massenweise Aufrufe einer Website, die diese in die Knie zwingen soll. Bei einem solchen Angriff kann jeder kinderleicht mitmachen)
Ergebnis: Die Seite war für kurze Zeit nicht mehr erreichbar, weil die Gruppe die Website durch Defacing mit eigenen Protestnachrichten bespielen wollte. Das Unternehmen nahm die Präsenz daher für einige Tage vom Netz.
Kollateralschaden: Nissan erklärte gegenüber Bloomberg: „Wir haben kein Interesse und keine Verbindungen zum Walfang.”
Operation Israel: Wenn Hacktivisten die Masken fallen lassen
Gurken-Wertung: 6 / 10
Ziel: Isrealische Militär-, Regierungs- Verwaltungs- und andere wichtige Websites
Datum: Seit dem Jahr 2013, als die Angriffe am Vorabend des Holocaust-Gedenktages Jom haScho’a lanciert wurden, haben sich die Attacken unter dem Banner von #OpIsrael nun schon zu einer jährlichen Routine entwickelt.
Legitimation für den Angriff: Bombardement in Gaza, die israelische Siedlungspolitik und Menschenrechtsverletzungen gegenüber Palästinensern
Vorgehen: Am 7. April 2013 griffen Aktivisten unter dem Label Anonymous israelische Webseiten an, doch durch die Vorbereitung Israels konnte größerer Schaden verhindert werden. Am 8. April 2013 setzten sie diese Angriffe fort und legten die Website der Zeitung Haaretz lahm. 2015 drohten Hacktivisten in ihrer Videobotschaft Israel sogar mit der „Auslöschung” in einem „elektronischen Holocaust”.
Ergebnis: Deutsche Anonymous-Aktivisten distanzierten sich von der #OpIsrael und erklärten, diese werde „zum größten Teil von US Anons geführt”. In der Vergangenheit richteten sie allerdings nur marginalen und höchstens kurzzeitige Schäden an der israelischen Internet-Infrastruktur an, die sicherheitstechnisch zu den modernsten der Welt gehört. Im ersten Jahr wurden sie außerdem schnell durch einen Hacker gekontert, der auf den Servern von opisreal.com wiederum pro-israelische Botschaften hinterließ.
Kollateralschaden: Eine hässliche, antisemitische Diskussion, auf die auch die inzwischen abgeschaltete neurechte Facebook-Seite Anonymous.Kollektiv begeistert aufsprang.
Operation Cartel, der Zetas-Fail: Auch mexikanische Drogenkartelle vergeben und vergessen nicht
Gurken-Wertung: 10 /10
Ziel: Die Zetas, eines der brutalsten und mächtigsten Drogenkartelle Mexikos
Datum: November 2011
Legitimation für den Angriff: Anonymous wollte die Namen von Kollaborateuren veröffentlichen.
Vorgehen: Nach einer Recherche über Mitglieder des Kartells wurde ein Anon von den Zetas entführt und als Geisel genommen. Anonymous setzte den Gangstern ein Ultimatum: Freilassung bis zum 5. November, oder die Hacktivisten würden hunderte Kartell-Kollaboratuere doxxen.
Ergebnis: Riesiger Fuckup: Die Zetas teilten den Hacktivisten mit, man werde in diesem Fall für jeden veröffentlichten Namen zehn Menschen umbringen. Daraufhin zog Anonymous seine Drohung, die Kollaborateure zu outen, kleinlaut zurück. Der Anon kam frei.
Kollateralschaden: gigantisch; hätte beinahe ein oder viele weitere Leben gekostet und unzählige Menschen durch die Veröffentlichung in Gefahr gebracht. Es sei denn, die Sache ist so gar nicht passiert. Ein Artikel im Guardian stellt nämlich in Frage, ob der Anon überhaupt entführt wurde.
Project Chanology: In Deckung, Thetanen!
Gurken-Wertung: 0,5 / 10
Ziel: Die Kirche von Scientology
Datum: Januar 2008
Legitimation für den Angriff: Hier müssen wir etwas ausholen, denn Scientology und das Internet verbindet eine aufregende Hassliebe. Die Sekte versuchte schon zu Netz-Urzeiten, eine kritische Newsgroup zu zensieren, legte sich dann mit den Hackern von Cult of The Dead Cow an und brachte—zumindest für die Anons auf 4chan—das Fass mit einem geleakten Video zum Überlaufen, in dem ein irre lachender Tom Cruise erklärt, nur Scientologen könnten bei einem Autounfall wirklich helfen. Trotz alledem wirkt die Anonymous-Begründung aus der Videobotschaft zur Kriegserklärung etwas kryptisch: „Mit dem Leak Eures jüngsten Propagandavideos (…) ist uns das Ausmaß eures bösartigen Einflusses auf die, die euch vertrauen und euch Führer nennen, klar geworden. Zum Wohle eurer Gefolgschaft und der Menschheit—und zum Spaß—werden wir euch aus dem Internet verbannen und die Church of Scientology in ihrer heutigen Form systematisch auseinandernehmen.”
Vorgehen: Nach DDoS-Attacken und harmlosen Sabotageaktionen wie Scherzanrufen bei Scientology und dem Versand schwarzer Faxe konnte Anonymous damals größere Straßenproteste mobilisieren und eine breite Diskussion über die Methoden der Sekte anstoßen.
Ergebnis: Zunächst extrem vielversprechend. Scientology gibt es allerdings nach wie vor, auch im Internet, und die Sekte expandiert weiter.
Kollateralschaden: Die Sozialversicherungsnummer und die Adresse eines 59-jährigen Kaliforniers, der fälschlicherweise Anonymous-Gegenangriffen bezichtigt wurde, tauchte online auf. Aufgrund eines schlecht konfigurierten DDoS-Tools schmierte auch die Seite einer niederländischen Sekundarschule bei Angriffen auf die Sektenwebsites ab.
Operation AnonTrademark: „Der Name Anonymous wird nicht die Hure der Welt sein!”
Gurken-Wertung: 4 / 10
Ziel: Pickapop.fr, ein T-Shirt-Versand aus Frankreich
Datum: Juli 2012
Legitimation für den Angriff: Der Händler wollte Anonymous-Logoshirts in Frankreich als Handelsmarke lizensieren, um die Drucke zu verkaufen. Anonymous bekam Wind davon: „Ihre Arroganz und Ignoranz wird nicht ungestraft bleiben!”, heißt es in der Kriegserklärung.
Vorgehen: „Anonymous wird alle ihre Online-Geschäftszweige vom Netz nehmen. Die 99% werden nicht ruhen, bis die Registrierung zurückgezogen wurde und eine öffentliche Entschuldigung abgelegt wurde.”
Ergebnis: Keins, alle Seiten funktionierten auch nach der Ankündigung noch tadellos. Wie ein Anon auf Twitter einwarf, unterliegen die meisten Anonymous-Logos sowieso einer Creative Commons-Lizenz, daher dürfte es schwierig werden, irgendwo eine Handelsmarke durchzuboxen.
Kollateralschaden: keiner
Operation Trump: Erst den Krieg erklären, dann verschwinden
Gurken-Wertung: 3 / 10
Ziel: Der republikanische US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump
Datum: 2015-2016
Legitimation für den Angriff: Die Nominierung Trumps.
Vorgehen: Anonymous hat nie enthüllt, was genau gegen die Nominierung Trumps unternommen wird—außer dem Zusammenstellen online verfügbarer, halbprivater Informationen. Allerdings hat man vorsorglich schon mal den „totalen Krieg” erklärt.
Ergebnis: Anonymous verschwand nach der Ankündigung von der Bildfläche. Mitglieder der Gruppe zerstritten sich über die Frage, ob man mit einer Attacke gegen Trump nicht Zensurbestrebungen unterstütze und veröffentlichten ein weiteres Video, in dem man sich von der Aktion distanzierte, da sie „allen Prinzipien widerspricht, die Anonymous ausmachen”:
Kollateralschaden: Trump ist US-Präsident
Operation Flint: Als Anons das Wasser sauber hacken wollten
Gurken-Wertung: 3 / 10
Ziel: Der US-Bundestaat Michigan unter der Regierung von Gouverneur Rick Snyder
Legitimation für den Angriff: Die Bürger der Stadt Flint müssen wegen Fracking-Unternehmungen verbleites Trinkwasser trinken, Schuld habe die korrupte Regierung, die zur Rechenschaft gezogen werden soll.
Vorgehen: Nicht klar.
Ergebnis: Keins. Die Regierung ist immer noch im Amt, und das Wasser ist so giftig wie zuvor.
Kollateralschaden: keiner
Operation Cambodia: Vom Regierungs-Hacker zum reuevollen Staatsdiener
Gurken-Wertung: 8 / 10
Ziel: Die kambodschanische Regierung und ihre IT-Infrastruktur
Datum: Mai 2014
Legitimation für den Angriff: 2014 nahm die kambodschanische Polizei zwei mutmaßliche Anonymous-Hacker fest.
Vorgehen: Hacks in die Regierungscomputer
Ergebnis: Unter Druck und Androhungen schwererer Strafen machten die beiden Hacker am Ende einen Deal mit der Regierung aus und arbeiten jetzt für den Staat.
Kollateralschaden: Hoch. Integrität der Hacker verspielt, möglicher Verrat der Geschäftspraktiken
Operation RTL: Weil die Gamescom ganz anders ist als im Fernsehen
Gurken-Wertung: 9 / 10
Ziel: Der deutsche Fernsehsender RTL
Datum: August 2011
Legitimation für den Angriff: Ein RTL-Bericht über die Gamescom, der „eine bodenlose Frechheit” sei und dessen Darstellung der Gaming-Szene auf „Vorverurteilungen und Lügen” beruhe.
Vorgehen: Boykott des Senders
Ergebnis: RTL sendet noch
Kollateralschaden: Keiner
Operation Isis und Operation Paris: Hacker als Retter des Abendlandes?
Gurken-Wertung: 7 / 10
Ziel: Die Terrororganisation des sogannanten „Islamischen Staats”
Datum: Anon-Hacker führen bereitsseit Juni 2014 Online-Operationen gegen den IS durch, die besonders nach Charlie Hebdo und den Anschlägen auf Paris noch einmal intensiviert wurden.
Legitimation für den Angriff: Der Terror des sogenannten IS und dessen Online-Propaganda.
Vorgehen: Melden von tausenden verdächtigen Twitter-Accounts, DDoS-Attacken
Ergebnis: Für einen jahrelangen Online-Kampf sind dieErgebnisse leider eher dürftig.
Der IS ist immer noch da. Es wurden viele Accounts unbrauchbar gemacht—was aber die Mitglieder nicht davon abhält, sich Neue zu erstellen.
Kollateralschaden: Hoch. Die wichtige Arbeit anderer IS-Forscher wie die des Jiihad-Watchblogs kam ebenfalls unter die Räder. Manche Anons warfen ein, dass das Melden von Twitter-Accounts kontraproduktiv sei, weil so wichtige Informationen für Geheimdienste verlorengingen.
Was Anonymous bisher tatsächlich gegen den IS getan hat
Operation KKK : Ach, Sie sind gar kein White Supremacist, Herr Singh?
Gurken-Wertung: 3 / 10
Ziel: Die Enthüllung von Ku-Klux-Klan-Mitgliedern
Datum: Natürlich am für Anonymous wichtigen Guy Fawkes Day— dem 5. November 2015
Legitimation für den Angriff: „Wir betrachten diese Datenveröffentlichung als eine Form des Widerstandes gegen die Gewalt und Einschüchterungstaktiken von KKK-Mitgliedern gegen die Öffentlichkeit”
Vorgehen: Datensammlung über elf Monate, Androhung der Veröffentlichung
Ergebnis: Anonymous zog seine Warnung durch und identifizierte hunderte (statt wie angekündigt, tausende) Menschen in einem Pastebin als vermeintliche KKK-Mitglieder. Manche davon waren der Öffentlichkeit bereits bekannt. Ihre Namen und Sozialversicherungsnummern wurden online veröffentlicht.
Kollateralschaden: Dutzende Menschen wurden unschuldig gedoxxt und anschließend bedroht und belästigt; darunter fünf indischstämmige Buchhalter, die zusammen in einem US-Büro zusammen arbeiten und noch nie vom Ku-Klux-Klan gehört hatten, sowie der liberale Cartoonist Ben Garrison, der seinen Ruf ruiniert sah und bei dem sich Anonymous später persönlich entschuldigte.