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Europawahl 2019

Europawahl: Die Partei Die PARTEI macht ernst

Martin Sonneborn hat in Berlin in einem mehrstündigen Spektakel den Wahlkampf eröffnet – gemeinsam mit Nico Semsrott, der zweiter Mann in Europa werden will.
Martin Sonneborn und Nico Semsrott wollen für Die PARTEI ins Europaparlament
Alle Fotos: Yasmin Nickel

Man müsse vorsichtig sein, was man fordere, sagt der Mann, der seinen Kapuzenpulli so tief ins Gesicht zieht, dass man ahnt: Nico Semsrott hat nicht den allerbesten Friseur Berlins. Und diese Vorsicht hat Gründe. Der letzte PARTEI-Slogan "Ja zu Europa! Nein zu Europa!": Von den Chaos-Brexit-Briten in Perfektion vollendet. Ein anderer Klassiker, "Inhalte überwinden": Von Union, SPD, ja, selbst Grünen bereits umgesetzt.

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Vor diesem Hintergrund deckelt Semsrott, hauptberuflich Demotivationstrainer und jetzt Kandidat der Partei Die PARTEI, zur Europawahl, seine Ambitionen umgehend: Er wolle lediglich Kommissionspräsident werden.

Dabei ist Semsrott an diesem Mittwochabend in der bis in den Rang vollbesetzten Berliner Volksbühne nur die Nummer zwei neben dem Spitzenkandidaten und unangefochtenen Parteiführer, Martin Sonneborn. Ein schlaksiger Hüne, der seine kantigen Jubelposen perfekt einstudiert hat, mit denen er hier den Europawahlkampf seiner Partei einläuten will. Zeit wird's, die Wahl ist in knapp einem Monat. Und ernst sind auch die Zeiten, denn es geht um mehr als Europa, es geht um die Partei Die PARTEI selbst.

Martin Sonneborn

Bei der "EUROPA-SHOW" durfte nicht fotografiert werden, bei einem Pressetermin am Dienstag schon – schon da guckte Martin Sonneborn sehr ernst

"Europa ist am Arsch", öffnet ein Einspieler auf der großen Leinwand.

"An der Spitze steht ein perverser Lüstling" – der busselnde Jean-Claude Juncker wird eingeblendet.

"Zu viele Brandschutzverordnungen" – der Bruchflughafen BER erscheint –, "zu wenig Brandschutzverordnungen" – die brennende Notre-Dame.

Der halbe Saal lacht. Eltern haben ihre Kinder mitgebracht, Kinder ihre Eltern. Metal-Kuttenträger im Rollstuhl mischen sich mit Comedians/Stand-uppern und PARTEI-Mitgliedern. Auch die mussten Eintritt für die große "EUROPA-SHOW" zahlen, wie gesagt: Die Zeiten sind ernst.

Ihre Gagen wollen Sonneborn und Semsrott ihrer eigenen Partei spenden – und so noch etwas mehr Geld aus der Parteienfinanzierung abzwacken. Ein Fundraiser, wenn man so will, ganz amerikanisch, so wie die Fake-Teleprompter und die Jubelkomparsen mit ihren rot-blau-weißen Schildern ("Für Europa reicht's"), die die beiden Spitzenpolitiker während ihrer Rede umringen.

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Vor fünf Jahren zog Sonneborn als erster und bislang einziger Vertreter der PARTEI in das Europaparlament ein. Möglich machten das der Wegfall einer Sperrklausel und komplizierte Sitzverteilungsberechnungen, die dem ehemaligen Titanic-Chefredakteur eines der 96 deutschen Mandate schenkten, obwohl seine Partei nur 0,6 Prozent der Stimmen erhalten hatte.

Diese "Jux-Partei" leiste "keinen Beitrag zur Demokratie", ließ der damalige deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier wissen. Seitdem wäre Sonneborn beinahe von einem CDU-Urgestein verprügelt worden, hat eine Rede des NPD-Abgeordneten Udo Voigt verhindert und zumindest zwei mehr oder wenige wichtige Abstimmungen mitentschieden. Eine seiner wenigen Reden haben auf YouTube fast eine Million Menschen gesehen.

All das erzählt er anhand von PowerPoint und Videoclips an diesem Abend. Man könnte sagen: Er hat die Zeit ordentlich genutzt.

Ein Wahlforschungsinstitut sieht Die PARTEI stabil bei zwei Prozent. Das vollbesetzte Haus jubelt. Schon 1,65 Prozent der Stimmen – sagen Die PARTEI-Mathematiker – würden reichen, um sowohl Sonneborn als auch Semsrott im Parlament platzieren zu können. Wenn beide Kandidaten, auch das hat man ausgerechnet, 50 Prozent geben, klappt das mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit.

Sonneborn und Semsrott mit Journalisten

Sonneborn sieht in seinem weit von ihm fallenden grauen Anzug aus wie der größte EU-Hinterzimmerbürokrat überhaupt, würde er nicht in den Stiefeln eines Baumaschinenherstellers von der Bühne aufragen. Dass er und Semsrott sich in den letzten Monaten deutlich gegen Uploadfilter, Artikel 13 und die EU-Urheberrechtsreform ausgesprochen haben, hat ihnen weitere Sympathien gerade unter Erstwählenden eingebracht, aber auch Fragen an der Basis aufgeworfen.

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Während einer Fragerunde im zweiten Teil des Abends meldet sich ein PARTEI-Mitglied. Ob man nun von einer Partei, die Inhalte überwinden wollte, zu einer Partei geworden sei, die für konkrete politische Positionen stehe. Wenn Sachen zur Abstimmung stünden, die das Leben junger Leute verschlechtern würden, werde er dagegen Stimmen, sagt Semsrott. Und als jemand wissen will, ob sich die beiden als "Politiker/in oder Satiriker/in" sehen, antwortet Sonneborn: "Als Politiker, der mit satirischen Mitteln arbeitet."

Nächste Frage: "Meine Freundin masturbiert auf Christian Lindner (sic), was soll ich tun?" "Solche Wähler haben wir bei der PARTEI", murmelt Sonneborn.

Was die für ihre Stimmen nach dem 26. Mai bekommen sollen (oder eben nicht), machen die beiden Kandidaten lose über den Abend verteilt auch klar:

  • Eine Demokratie, "notfalls", so Semsrott, "auch gegen den Willen der Bürger".

  • Eine Zwergen-EU: Semsrott will "Österreich-Ungarn", Polen, Italien und Sachsen aus der EU schmeißen, Sonneborn Rumänien, Bulgarien und Irland – weil Letzteres sich jahrelang geweigert hat, Steuern in Milliardenhöhe von Apple einzutreiben.

  • Keine Europaarmee.

  • Keine Uploadfilter.

  • Klimawandelleugnung als Straftatbestand, Höchststrafe: Führerscheinentzug.

  • Höchstwahlalter: 62 Jahre ("Wenn die Menschen in den ersten 18 Lebensjahren nicht wählen dürfen, sollten sie auch in den letzten 18 nicht wählen", heißt es in einem Wahlwerbespot, den Semsrott hier erstmals zeigt.)

  • "Irgendwas mit Drogen."

  • Alles (und alle) gegen die AfD.

  • Eine Negativstimme bei der nächsten Wahl, mit der jeder oder jede eine Partei zusätzlich downvoten kann. (Siehe AfD)

  • Bodycams an Demonstrierenden.

  • Militärinvestitionen ausschließlich in nicht-funktionstüchtiges Kriegsgerät (ganz nach deutschem Vorbild).

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Über die vier letzten dieser Forderungen hat das Publikum selbst entschieden, nur zu einer "Schuldpflicht für Deutsche" (sic) konnte es sich nicht durchringen. "Keine Sippenhaft" ruft eine Frau aus dem Block der PARTEI-Mitglieder, die Leute mit den Namen Bombe, Krieg, Göbbels, Speer, Bormann, Eichmann, Keitel und Heß auf die weiteren Listenplätze gewählt hat.

Nico Semsrott

Gucken kann er schon wie sein Chef: Nico Semsrott, zweiter Mann der PARTEI bei der Europawahl

Wer all das für Wahnwitz hält, dem (oder der) stellen Sonneborn und Semsrott in den zwei Stunden des Abends andere EU-Parlamentarier gegenüber: polnische Monarchisten, italienische Diktatorenenkelinnen und deutsche Doppelmandatsträger. Und Ü70-Vertreter, die den Abstimmungsknopf nicht mehr finden. Und lüsterne Kommissionspräsidenten. Und Parlamentarier, die nebenbei als Lobbyisten für Medienkonzerne arbeiten. Und Schwaben. Und Udo Voigt. In einem Parlament, das Reformen nicht selbst anschieben kann, das vor fünf Jahren von nicht einmal der Hälfte aller Wahlberechtigten gewählt wurde, und in das 2019 mehr als 100 Rechtsextreme einziehen dürften, wie Semsrott mehrfach erwähnt. Der ganz reale Irrsinn eben.

Am Ende des Abends, als die Standing Ovations wie die rot-blau-weißen Luftballons von der Decke wieder auf den (Hosen-)Boden gesunken sind, bleibt ein Paar innig umarmt im Theaterlicht stehen. Es sind der "Meine Freundin masturbiert zu Christian Lindner"-Frager – und seine Freundin. Der Gedanke an ein Europa mit Sonneborn und Semsrott scheint ihnen keine Angst zu machen.

"Öffentlichkeit schafft man in diesem Parlament nur mit Satire", hatte Semsrott am Vortag bei einem Termin mit rund 20 Journalisten gesagt. "Die Zeit ist reif für seriöse Politik mit Klamaukattitüde." Und wenn er nicht Komissionspräsident werde, hat er in der Volksbühne nachgeschoben, dann bleibe er einfach im Parlament sitzen, "als Mahnmal an die vergessene Jugend Europas". Er scheint nicht zu scherzen. Bei der Parlamentsverwaltung hat er sich bestätigen lassen, dass er seinen Kapuzenpulli auch dort tragen darf.

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