Fotos von Andrew Stanbridge
Angehörige einer Brigade der Freien Syrischen Armee legen eine Kampfpause ein, um für ein Gruppenfoto zu posieren.
Mit verbundenen Augen hampelte ich nervös auf dem Rücksitz eines Zivilfahrzeugs herum, eingezwängt zwischen einem Waffenhändler und einem Soldaten der Freien Syrischen Armee. Vor wenigstens einer Stunde waren wir von der türkischen Grenzstadt Kilis aufgebrochen und fuhren nun jenseits befestigter Straßen über die grüne Grenze von der Türkei nach Syrien. Vorn saß ein Oberst der FSA, und der Kofferraum war vollgepackt mit Munition und Handfeuerwaffen. Die Männer sangen Anti-Assad-Lieder und witzelten mit mir, ich sei ihre „Geisel“. Endlich am Ziel angekommen, nahmen sie meine Augenbinde ab. Der Oberst (der natürlich darum bat, dass sein richtiger Name nicht genannt wird), ein netter, älterer Herr, lächelte und hieß mich im „Freien Syrien“ willkommen. Wir befanden uns in der befreiten Grenzstadt Azaz, genau gegenüber von Kilis. Für die Befreiung schien Azaz jedoch einen hohen Preis gezahlt zu haben—Häuser, Schulen, Moscheen und Krankenhäuser waren nur noch Ruinen, die Schnellstraße war durch den andauernden Beschuss mit Kratern übersät. Zwischen den Trümmern spielten Kinder und benutzten die verlassenen Panzer als Klettergerüste.
Videos by VICE
In den vergangenen Monaten hatten Assads Streitkräfte verheerende Luftangriffe auf die von der FSA eingenommenen Städte geflogen, um alle demokratischen Experimente auszumerzen, die diese dort umgesetzt hatte—Schulen, Poststellen und neue öffentliche Bauprojekte wurden zu bevorzugten Zielscheiben. Vor ein paar Wochen war die Munition der FSA knapp geworden. Oppositionsführer waren in die Türkei und zu sunnitischen Geldgebern in die Golfstaaten gereist in der Hoffnung, an Luftabwehrraketen zu kommen, mit denen sie Assads Jets abschießen könnten, kehrten jedoch mit leeren Händen zurück. Gerüchte über Schiffslieferungen mit schweren Waffen aus Libyen und Frankreich stellten sich als frei erfunden heraus. Unterdessen maßregelten die USA einige der Golfstaaten für die Unterstützung der Rebellen mit Waffen, mit der Begründung, die Präsenz der Dschihadisten in der FSA nehme beunruhigende Ausmaße an. Saudi-Arabien und Katar zuckten mit den Schultern und gaben offiziell bekannt, dass private Spender Geld und Waffen an Salafisten und Kämpfer aus dem Ausland weiterleiteten. Sie warnten davor, dass es ohne deutliche Intervention zu einem „Volksdschihad“ mit gefährlichen, sektiererischen Zügen kommen könne.
Seit Beginn der Aufstände im vergangenen Jahr hat sich die türkische Stadt Kilis in eine Art Casablanca verwandelt—eine staubige Grenzabsteige für Abzocker, Spione und Waffenhändler. In einer Hinterzimmerbar in Kilis traf ich Hassan, einen Gebrauchtwagenhändler, der zum Waffenschieber für die FSA geworden war und mir anbot, mich mit nach Syrien zu nehmen. „Ich würde lieber Autos statt Waffen verkaufen, aber das Regime hat meine Werkstatt zerbombt“, sagt er. „Was soll ich machen?“ Im Jahr zuvor hatte das Regime das Dorf seiner Frau verwüstet, woraufhin der achtfache Familienvater Hassan beschloss, eine lokale Miliz zu gründen. Viele von Hassans Nachbarn haben ihr Land verkauft, um von sympathisierenden Armeeangehörigen des nahegelegenen staatlichen Luftwaffenstützpunktes Waffen zu kaufen. Mit der Zuspitzung der Kämpfe in Aleppo strömten immer mehr Gelder und Waffen von Sunniten aus dem Golf hier her. Als weltlicher Syrer wollte Hassan den ausgeprägten syrischen Charakter seiner Miliz beibehalten und weigerte sich, mit ausländischen Dschihadisten zusammenzuarbeiten. „Die sind nicht wie wir“, meinte er. „Die finden ihre Erfüllung erst im Tod für den Dschihad. Ich verstehe das nicht und habe so etwas noch nie erlebt. Mein Freund wollte sich in ihrer Anwesenheit eine Zigarette anzünden, da meinten sie, es sei ,haram‘ [Sünde]. Die spinnen doch. Wir sind im Krieg.“ Hassan befürchtet, dass die prallen Taschen der Golfstaaten ausländischen Kämpfern überproportional viel Einfluss verschaffen. Bei einigen Angehörigen der FSA löst die Möglichkeit von Dschihadisten in ihren Reihen Angst aus, die sich jedoch mit großem Respekt mischt. Dschihadisten sind als erbitterte, knallharte Burschen bekannt, die den FSA-Jungs an der Front oft die Schau stehlen. Hassan verachtet diese religiösen Extremisten, erkennt aber auch ihren kämpferischen Sachverstand an. Viele der FSA-Angehörigen, mit denen ich gesprochen habe, hätten lieber westliche Unterstützung als Hilfe von Dschihadisten, müssen zurzeit aber nehmen, was sie bekommen. Allerdings sickern immer mehr Berichte über Spannungen durch—ein junger Salafist wurde angeblich hingerichtet, weil er den Befehl eines FSA-Oberst missachtet hat. Während er an seinem haram Bier nippte, sagte Hassan: „Ich fürchte, wir brauchen in Syrien zwei Revolutionen. Die erste gegen Assad und die zweite gegen die Dschihadisten.“ Wir setzten Hassan und die Kämpfer in der Kleinstadt al-Bab ab, und der Oberst und ich fuhren weiter nach Aleppo, wo er Waffen abzuliefern und Brigaden zu inspizieren hatte. Wie so viele FSA-Funktionäre ist auch der Oberst von Assads Armee zur FSA übergelaufen. Als seine Zeit gekommen war, halfen ihm seine FSA-Kontakte dabei, seine Familie in ein neues Heim umzusiedeln, und er tauchte in der bewaffneten Opposition unter. „Mein Überlaufen war unproblematisch, viele andere hatten nicht so viel Glück.“ Als der Oberst herausfand, dass ich Hassan auf einem seiner wöchentlichen Schmugglertrips begleiten wollte, bestand er darauf mitzukommen. Er gab mir den Spitznamen Ayusch und meinte, wenn ich erst Zeugin der Brutalität des Regimes geworden sei, stünde ich innerhalb von 24 Stunden in einem Hidschab an der Front und riefe: „Allahu akbar!“
Azaz, neben einer zerstörten Moschee stehen Jungs auf einem Panzer der syrischen Armee.
Über unseren Köpfen kreisten Kampfjets, als der Oberst und ich die zerstörte Schnellstraße nach Aleppo entlangbretterten. Das Dröhnen ihrer Motoren wurde immer lauter, bis schließlich ein Jet direkt über uns auftauchte und unsere Verfolgung aufnahm. Unser Fahrer trat aufs Gas und dann stieg dann voll in die Eisen, was den Wagen quietschend in den Schatten eines verlassenen Bauernhauses manövrierte. Ich hielt meine Splitterschutzweste fest umschlossen und zog mir den Helm ins Gesicht. Ich zitterte. „Hast du Angst?“, fragte der Oberst ganz ruhig. Er trug keinerlei Schutzkleidung—lediglich um den Hals einen Gebetszettel, den sein Vater ihm vermacht hatte. Diese Gebetszettel—manche gehen für Hunderte, ja, Tausende von syrischen Pfund über den Tisch—beschützen diejenigen, die sie tragen, angeblich vor körperlichem Schaden. Der Oberst nannte den Gebetszettel seine „spezielle Schutzweste“ und bestand darauf, dass ich auf ihn schieße, um sie zu testen. Ein Kameramann, den wir kurz zuvor kennengelernt hatten, filmte das Ganze für CNN. Wir saßen im Schatten des Bauernhauses, bis das Dröhnen des Jets langsam verstummte. Dann fuhren wir über Umwege auf Nebenstraßen weiter, in die ausgedehnte Altstadt von Aleppo, eine der ältesten ununterbrochen bewohnten Städte der Welt und Syriens Wirtschaftszentrum, bis es Anfang des Jahres vom Regime zerstört wurde.
Der Oberst brachte uns nach Tarik al-Bab, ein Viertel nahe dem Zentrum von Aleppo, wo wir seinen Sohn trafen, den Anführer einer örtlichen Miliz. Ahmad, ein aufgekratzter junger Mann, begann sofort mit seiner letzten Nahtoderfahrung durch regimefreundliche Heckenschützen herumzuprahlen. Während er sprach, verlor sich der Blick des Obersts besorgt in der Ferne. An diesem Abend aßen wir gemeinsam Mezze und Hummus, während Ahmads Männer den Oberst über seine Reise in die Türkei ausfragten, über die Familienangehörigen in den Flüchtlingslagern und die letzten Neuigkeiten aus Istanbul. Die Unterhaltung kam unweigerlich auf den letzten Stand bezüglich der begehrten Flugabwehrraketen. „Ich wünschte, die Berichte über ausländische Waffen wären wahr“, so der Oberst. „Wir benutzen immer noch die russischen Modelle.“
Ein FSA-Soldat zeigt sein Tattoo, das besagt: „Warum ist Liebe so verhängnisvoll?“
Einer von Ahmads Kameraden mischte sich ins Gespräch: „Hast du von dem Flugstützpunkt gehört, den wir letzte Woche eingenommen haben?“ Ich hatte davon gehört, allerdings, dass dieser Sieg auf das Konto von Dschabhat al-Nusra ging, einer fundamentalistischen Sekte mit nachweislichen Verbindungen zu terroristischen Organisationen, die dort an der Seite der FSA gekämpft hatte. Die dschihadistische paramilitärische Gruppe, deren Name übersetzt so viel heißt wie „Unterstützungsfront für das syrische Volk“, hat die Verantwortung für alle bedeutenden Bombenattentate auf Funktionäre und Generäle des Regimes in Damaskus, al-Midan und Aleppo übernommen, sowie für einen Angriff auf einen regimefreundlichen Fernsehsender in der Stadt Drousha diesen Sommer. Jüngste Berichte weisen darauf hin, dass Kämpfer von Al-Qaida-Gruppen im Irak und der Hamas sich nach Syrien eingeschlichen haben, um zu der Gruppe zu stoßen. Obwohl viele FSA-Kämpfer sich selbst als konservative Muslime sehen, distanzieren sie sich normalerweise doch von dem blutigen Traum der Dschabhat al-Nusra von einem sunnitischen Kalifat. Als ich beim Abendessen auf die Gruppe zu sprechen kam, meinte ein Soldat: „Dschabhat al-Nusra machen ihre Sache gut. Sie verfügen über Waffen und Erfahrungen, die unseren Männern fehlen.“ Ein anderer fügte hinzu: „Wir bräuchten mindestens drei Jahre Kampferfahrung, um mit ihnen mithalten zu können.“ Die meisten FSA-Soldaten kämpfen für ein pluralistisches Syrien, das den Schutz politischer und religiöser Freiheit gewährt. Die Dschabhat al-Nusra-Kämpfer kämpfen für die Würde des Islam und eine ausgeweitete Herrschaft der Sunniten. Der Oberst erklärte, die mangelnde Unterstützung aus dem Westen habe die Autorität der ursprünglichen, pluralistischen FSA-Befehlshaber unterlaufen. „Ohne schlagkräftige Unterstützung können wir einfach nicht das leisten, was Dschabhat al-Nusra tut.“ Mit jedem leeren Versprechen und jedem missglückten Waffentransfer wurde die Position des Oberst und anderer FSA-Befehlshaber weiter geschwächt. „Dschabhat al-Nusra ist klein, aber wenn Männer kommen, um uns zu unterstützen und wir ihnen keine Waffen geben können, werden immer mehr von dieser Gruppe angezogen“, gab er zu bedenken. „Ich fürchte, es wird irgendwann so weit kommen, dass ich nicht mehr Nein sagen kann, wenn sie mich um einen Gefallen bitten.“
Am nächsten Morgen fuhren Hassan und ich von Aleppo raus aufs Land, um den Kämpfern dort Munition zu bringen. Die ganze Fahrt über hing er am Telefon und organisierte die Verteilung. „Ich hab einen tollen Job, denn alle freuen sich, wenn sie mich sehen“, witzelte er. Draußen auf dem Land fuhr Hassan mit uns zu Orten, die er „Bonbonfabriken“ nannte – versteckte Waffenschmieden, wo syrische Rebellen Bomben und behelfsmäßige Waffen bauen. Hassan entspannte sich und scherzte mit Schmieden, Bauern und Ingenieuren, während er Munition und Werkzeuge verteilte. Nach einer kurzen Klettertour erreichten wir eine Bonbonfabrik, die in einer kleinen Höhle untergebracht war. Als wir eintraten und meine Augen sich langsam an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich vier Männer um einen Generator versammelt, die eifrig mit Elektrowerkzeugen zu Gange waren. Wir machten in der Höhle eine Teepause, was Hassans Laune offenbar verschlechterte. Er beschrieb, wie desorganisiert die Führung der FSA sei. „Die Generäle waren tagelang in der Türkei, und alles was sie mitgebracht haben, war Munition! In der Zwischenzeit kapert Dschabhat al-Nusra unsere Revolution. Sag Obama vielen Dank dafür, dass er uns diesen religiösen Fanatikern überlässt!“
An diesem Abend fuhren wir weiter nach al-Bab—eine der ursprünglichen Enklaven der Bewegung für ein Freies Syrien, eine befreite Stadt mit einem frischgebackenen zivilen Stadtrat, von dem die Rebellen sich erhofften, er könne als Modell für die Zukunft des Landes dienen. Dies machte die Stadt außerdem zum bevorzugten Ziel für Assads Luftwaffe; scheinbar endlose Bombardierungen haben die Stadtlandschaft für immer verändert.
Laut Plan sollte Hassans Bruder mich zurück über die Grenze in die Türkei schmuggeln. Doch als wir gerade losfahren wollten, entdeckten wir über uns Kampfjets. Nachdem die Explosionen nachgelassen hatten, lugten Nachbarn aus ihren Fenstern, um den Schaden zu begutachten. Ich scannte die Straßen und sah eine weiße islamische Flagge im Wind, das Symbol für die Wiedererrichtung des Kalifats. Als ich Hassans Bruder darauf hinwies, zog er eine Braue hoch. „Das ist neu“, meinte er, wollte aber nicht weiter darauf eingehen. Nach einem weiteren Tag des Abwartens verband mir Hassans Bruder wieder die Augen und fuhr uns über die zerbombten Straßen zurück in die Türkei. Er schien vergessen zu haben, dass ich eine Augenbinde trug und rief mir Dinge zu wie „Gleich trinken wir Chai in Kilis!“ und „Du versprichst doch, mir eine amerikanische Frau zu suchen, ja, Ayusch?“ Als wir in Kilis ankamen, nahm er mir die Augenbinde ab und setzte mich an meinem Hotel ab. „Du wirst uns im Freien Syrien fehlen, Ayusch“, sagte er lächelnd. „Grüß mir das amerikanische Volk. Aber sag ihnen auch, dass die amerikanische Regierung kein Freund des Freien Syriens ist.“