Balbina über Betonmärchen eines Außenseitermädchens

Balbina heute. Foto: Nico Wöhrle

Ich wurde in Warschau geboren und lebte die ersten drei Jahre in Polen. Dann gingen wir fort nach Berlin, der Vater holte uns zu sich, nach Moabit. Wir kamen an in der Turmstraße: mit Sack und Pack auf dem Dach des Fiat. In großer Erwartung kletterten meine kurzen Beine die Stufen hoch in die erste Etage. Diese Treppe wurde meine tägliche Übung vor und nach dem türkischen Kindergarten. Dorthin brachte mich Mutter, vor ihrer Arbeit. Ich lernte die ersten Worte in türkischem Deutsch, aß Milchreis mit Zimt, hatte Freunde und viel Freude. Ich wurde vier und die Ehe meiner Eltern zerbrach dort, wo unser gemeinsames Leben beginnen sollte.

Von Moabit kamen wir über Umwege nach Neukölln. Wir zogen in eine Erdgeschosswohnung. Ich hatte ein Zimmer für mich und kam in die erste Klasse. Mit Schultüte und einem großen kantigen Ranzen marschierte ich durch alle sechs Klasseninstanzen der Volksschule. Die Nasenspitze stets Richtung Schuhe. So prüfte ich Pflastersteine auf magische Zeichen, bis mich eine Straßenlaterne weckte oder ein Kamerad nach mir rief. Ich darf nicht vergessen anzumerken, dass ich mich manchmal hinter den grünen Hecken versteckte und gefühlt um mein Leben hetzte. Es gab ältere Kinder, die stärker waren und Dinge mochten, die mir gehörten! Ich war eh etwas zu klein geraten und stets auf der Hut. Manchmal erwischte mich eine Glasscherbe oder ein Tritt in den Rücken. Dann war ich den neuen Flummi los. Es gab aber auch andere Tage, an denen ich die Straßen vor meinem Block mit Kreide vollmalte. Die Ausstellung der Bilder ging so lang, bis ein Sauwetter sie auf Regenbogenflüssen in die Kanalisation beförderte. Dort müsste es inzwischen ein knallbuntes Meer geben. Ich wurde elf Jahre alt und kam in die 7c des Gymnasiums.

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Balbina damals

Der Schulweg führte über die U7. Je mehr Kinder einstiegen, umso unwohler wurde mir. Ich trug statt Airmax die Promax von Stiller und statt Wimperntusche die zu große Brille. Obwohl ich recht klein war, reichte ich aus als Zielscheibe für Kreide und Bleistifte. Ich saß meist allein in der ersten—nicht letzten—Reihe. Ich konnte nicht eingrenzen, woran es lag, ich sprach damals nicht viel. Doch das, was ich sagte, kam nicht so gut an. Mir waren die Schulkameraden so fremd, als redeten sie in fremden Sprachen. Sie sahen mich nicht an, sie blickten auf mich herab. Und all das wegen was? Ich bekam chronische Bauchschmerzen, Seitenstiche vom Nichtstun und übte das Weghören, Aushalten und Warten. Wie meine Handvoll Freunde—doch die Handvoll habe ich bis heute. Daheim war meine Festung, dort ließ ich Gedanken kreisen. Ich übte das Grübeln. In Wort und Schrift. Ich verkniff mir das Traurigsein und saß bis abends mit Hesse am Tisch. Die Zeit verging schleichend. Mit dem Abitur zog ich allein in mein erstes eigenes Heim.

Foto (bearbeitet): seier+seier | Flickr | CC BY 2.0

Näher zum Kern der Stadt, in die Nähe vom Hermannplatz. Ich wohnte in einem ausgelagerten Kinderzimmer. Denn ich nahm alles mit, bis auf die Bilder über dem Schreibtisch. Und meine arme Mama sah das mit an. Doch so stur wie ich war, hatte ich keine andere Wahl! Ich musste dringend anfangen, erwachsen zu werden. Ich habe die Lehre zur Einzelhandelskauffrau in Dahlem gemacht und verkaufte neuste Mode an ältere Damen. Ich lernte das Lernen und neue Freunde kennen. Und ich hängte mich an Menschen in Kreuzberg, die auch musizierten und texteten. Die Ersten von ihnen sagten, dass das, was ich tat, passabel war. Und weil ich gut im Verkaufen war, verließ ich die Wohnung an der stark befahrenen Straße für eine neue in einer ruhigeren Lage.

Ich kam an. In Wilmersdorf. Dort, wo in der Nähe Erich Kästner mal gelebt hat, den ich verehre. In meiner mit Pappeln umrahmten Straße kam ich zur Ruhe. Und hörte bei offenem Fenster den Amseln und den Elstern zu. Hier schrieb ich mein erstes Album zu Ende. Und hatte endlich Zeit für die größte Entscheidung, das zu tun, was ich kann: nämlich schreiben.