Zu Besuch bei den Jüngern des sibirischen Jesus


Andere 23-jährige brechen gerade ihr zweites Studium ab, denken von hier bis zum nächsten Kellnerjob oder knipsen sich jedes Wochenende beim Feiern die Lichter aus. Ob Julia Sellmann Letzteres auch manchmal tut, habe ich vergessen zu fragen. Auf jeden Fall hat sie gerade ihr Fotografiestudium erfolgreich abgeschlossen und ist für ihr Abschlussprojekt, das unter anderem für den „Leica Oskar Barnack Preis” nominiert war, nach Sibirien gereist, um sechs Wochen in einem 1.500-Seelen-Dörfchen namens Petropawlowka mit den Anhängern einer Sekte zu leben. Während dieser Zeit dokumentierte sie fotografisch das Leben der Menschen, die an die Lehren Wissarions glauben, den Jesus von Sibirien.

Wir haben bereits 2011 im Rahmen einer Dokumentation von Wissarion und seiner Glaubensgemeinschaft „Ökopolis Tiberkul”, Kirche des letzten Testaments, berichtet. Wissarion, im früheren Leben Polizist, hatte in etwa zeitgleich mit dem Zerfall der Sowjetunion die Erleuchtung, dass er die Reinkarnation Christi ist, und sieht sich seither berufen, die „reine Wahrheit” zu verkünden. Mittlerweile leben weltweit ungefähr 8.000 Menschen nach seinen Lehren (4.000 davon in Sibirien), bei denen es darum geht, sich nahrungsmitteltechnisch komplett selbst zu versorgen, Technik abzulehnen und sich selbst und dadurch auch die Gemeinschaft (die „einheitliche Familie”) stetig zu optimieren. Optimieren bedeutet in dem Fall, Wissarions Vision von einer perfekten Welt ohne Geld, Egoismus und Gewalt so nahe wie möglich zu kommen.

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Ich habe Julia getroffen und mit ihr über ihre Zeit in „der Zone”, ihre Fotos, die negativen Schwingungen ihrer Kamera und Holzhäuser ohne Strom, fließend Wasser, Heizung und Internet gesprochen.

VICE: Hallo Julia. Sag mal, wie bist du auf die Idee gekommen im Rahmen deiner Bachelorarbeit über Ökopolis Tiberkul zu berichten?
JULIA: Ich interessiere mich ganz grundlegend für Gruppen und Gruppenzugehörigkeit. Während meines Studiums habe ich mich zum Beispiel mit jungen Mitgliedern des Schützenvereins auseinandergesetzt. Ich habe dann angefangen, mich über Kommunen und Sekten zu informieren, und bin dabei auf Ökopolis Tiberkul gestoßen. Die Gemeinschaft hat mich von Anfang an total fasziniert. Per Mail habe ich mein Anliegen formuliert, mir aber erstmal nicht allzu große Hoffnungen auf eine Rückmeldung gemacht. Man schreibt ja auch nicht alle Tage eine E-Mail an eine Sekte in der russischen Taiga. Einen Tag später blinkte in meinem Postfach dann aber wirklich eine Antwort und die Planung konnte beginnen.

Bei Sibirien denken die meisten eher an karge Eiswüste. Wie war es dort?
Ich habe vom 13. August bis zum 26. September in Petropawlowka gewohnt. Am Anfang war es nicht kalt, weil ich im Sommer angereist bin. Nach ein paar Wochen wurde es herbstlich und am Tag meiner Abreise hat es sogar geschneit. Ich kann mir, ehrlich gesagt, nicht vorstellen, wie es ist, im tiefsten Winter dort zu leben. Die Leute wohnen in selbstgebauten Holzhäusern ohne fließend Wasser und Strom. Es wird mit Feuer geheizt, das stelle ich mir bei minus 40 Grad nicht gerade angenehm vor.

Wo hast du während deines Aufenthalts gewohnt?
In einer Art Gästehaus, das Birgit, einer Lehrerin aus Deutschland, gehört. Sie war es auch, die auf meine erste Mail geantwortet und alles für mich in die Wege geleitet hat. Birgit ist eine Anhängerin Wissarions und hat vor vielen Jahren ein Haus in Petropawlowka gebaut. Sie lebt und arbeitet aber immer noch in Deutschland und ist nur phasenweise vor Ort, so dass ihr Haus Gästen wie mir als Übernachtungsmöglichkeit dient. Durch ihre Aufenthalte in Deutschland konnte sie mir bei der Verständigung mit den Dorfbewohnern helfen.

Hast du Wissarion mal selbst gesehen?
Ja, beim Sommerfest. Das findet immer am 18. August statt und erinnert an Wissarions erste Predigt. Es ist das größte Fest der Gemeinschaft und viele Gläubige pilgern in die sogenannte Sonnenstadt, in der Wissarion lebt. Für viele ist das die einzige Chance, ihn überhaupt einmal im Jahr zu sehen. Nach einer ziemlich langen Wanderung und noch längerer Wartezeit hat er sich dann endlich irgendwann auf der Bühne gezeigt und genau einen Satz gesagt: „Ihr wisst schon viel!” Dann war er wieder weg.

Das klingt ein bisschen unbefriedigend. Wie haben die Leute reagiert?
Das ganze Fest, die Gesänge und Wissarions Auftritt haben eine unglaubliche Stimmung und Ausstrahlung aufgebaut, die auch mich nicht ganz kalt gelassen hat. Ich meine, die Leute pilgern durchs ganze Land bis zu diesem Ort mitten im Nichts, um diesen einen Mann zu sehen, zu hören und alle sind so voller Vorfreude, dass es wirklich ansteckend ist.

Was es schwierig, das Vertrauen der Leute zu gewinnen?
Die erste Zeit konnte ich gar nicht fotografieren, weil ich auf einen Termin mit Wolodja, dem Ortsvorsteher von Petropawlowka, warten musste. Ich habe an vielen Gottesdiensten, Lesungen und öffentlichen Treffen teilgenommen in der Hoffnung, dass sich die Gemeinde langsam, aber sicher an mich gewöhnt. Nach zwei Wochen kam Wolodja ins Gästehaus und wollte mit mir über meine Absichten sprechen. Am nächsten Morgen hat er der Gemeinschaft mein Anliegen bei der Versammlung erklärt.
Er hat mein Vorhaben weder erlaubt noch verboten, und somit jedem Gemeindemitglied die Entscheidung überlassen, ob es sich fotografieren lassen möchte oder nicht. Die Leute waren sehr zurückhaltend und viele von ihnen hatten moralische Bedenken, schon allein wegen des Fotoapparats, weil Wissarion Technik ja eigentlich radikal ablehnt. Besser wurde es dann wenige Tage später, als die Leute anfingen, mich im Dorf und bei Messen wiederzuerkennen, und sahen, dass ich immer noch da bin. Ich hatte das Gefühl, dass sie langsam anfingen, mich zu akzeptieren. Am Ende wurde den Porträts aus den skurrilsten Gründen zu- oder auch abgesagt. Beispielsweise hat eine Frau nur erlaubt, dass ich sie fotografiere, weil ich an dem Tag ein blaues Shirt anhatte, so wie sie.

In Wissarions Lehre spielen Selbstlosigkeit, Harmonie und positives Denken eine große Rolle. Wie kommen die Jugendlichen in der Gemeinschaft damit zurecht?
Jugendliche gibt es in der einheitlichen Familie nur sehr wenige. Die Kinder der Leute, die von Anfang an dabei sind, hatten vor 20 Jahren größtenteils schon ein eigenes Leben und sind nicht mitgekommen. Und die Kinder, die in die Gemeinschaft hineingeboren wurden, sind heute höchsten 12, 13 Jahre alt. Wie sich die Lehre Wissarions mit Jugendlichen vereinbaren lässt, wird sich also erst noch zeigen.

Hast du in deiner Zeit bei den Erwachsenen mal Unfrieden oder Konflikte miterlebt?
Natürlich gibt es auch Unzufriedenheit. Aber auf eine andere Art. Es geht nicht darum, wer die größte Ernte oder das schönste Haus hat. Der zentrale Punkt der Lehre Wissarions ist die Selbstoptimierung und zum Wachsen gehört eben auch die Einsicht, dass jeder mal Fehler macht. Die Leute verfangen sich für gewöhnlich aber niemals in schlechten Gedanken, sondern versuchen, sich in einem positiven Umgang mit ihrem Schicksal zu üben.

Hat sich irgendetwas verändert seit VICE 2011 dort war?
Das ist schwierig. Lass mich überlegen … nein, soweit ich das beurteilen kann, hat sich nicht viel verändert. Das Leben der Selbstversorger ist oft sehr beschwerlich und Entscheidungen, die immer von der kompletten Gemeinschaft getroffen werden, dauern unglaublich lange. Vielleicht sind 4 Jahre eine zu kurze Zeit, um große Unterschiede erkennen zu können.

Erzähl mal von einem besonders merkwürdigen oder gruseligen Erlebnis.
Zum Glück bin ich während meines gesamtes Aufenthalts nie in eine Situation gekommen, in der ich wirklich Angst hatte oder das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Die Menschen dort sind wirklich friedlich und haben keine schlimmen Absichten.

Aber natürlich gab es ab und zu sehr merkwürdige Situationen. Zum Beispiel bei einem meiner Protagonisten, er meinte, Energien spüren und beeinflussen zu können und war, nachdem ich ihn porträtiert hatte, der festen Überzeugung, dass meine Kamera negative Energien aussendet. Die Kamera sei während des Produktionsprozesses durch zu viele Hände gegangen. Es könne schon sein, dass meine Absichten rein und gut sind, aber die der Menschen, die die Kamera produziert haben, waren es nicht. Der Vorgang des Fotografierens würde die Energien im Körper aus dem Gleichgewicht bringen. Die Gemeinschaft ist sehr empfänglich für solche Aussagen und es hätte durchaus sein können, dass die ohnehin schon kritischen Dorfbewohner das zum Anlass nehmen, mir ab jetzt die kalte Schulter zu zeigen. Das war aber zum Glück nicht der Fall.

Haben denn die Menschen dort versucht, dich zu missionieren?
Ja, eigentlich bei jedem Interview und jedem Porträt, das ich gemacht habe. Man erzählt sich, dass derjenige, der einmal mit Wissarions Schriften in Berührung gekommen ist, eine Entscheidung treffen muss: Entweder er geht zurück in sein altes Leben und kann es wieder so annehmen wie vorher. Oder aber er merkt, dass er sein Leben nicht mehr so führen kann wie zuvor. Irgendetwas fühlt sich einfach nicht richtig an. Viele haben mir also gesagt: Dein Weg wird sich nicht hier entscheiden, sondern erst wenn du wieder in Deutschland bist.

Warst du traurig oder froh, als die sechs Wochen vorbei waren?
Ich war froh, nach sechs Wochen Abenteuer erstmal wieder zu Hause zu sein, klar! Das Projekt, mit dem ich ja einen Abschnitt in meinem Leben abschließen sollte, war von vornherein als persönliche Herausforderung geplant und es hat gehalten, was es versprach. Ich bin wirklich stolz, dass ich meine Angst überwinden konnte und es vor Ort geschafft habe, viele Hindernisse aus dem Weg zu räumen, auch wenn ich mich an manchen Tagen viel lieber wieder in den Flieger nach Hause gesetzt hätte. Der Aufenthalt bei der Gemeinschaft wird für mich immer unvergesslich bleiben, erst recht, weil es ja jetzt auch noch das Buch mit meinen Bildern gibt! In sechs Wochen gab es viele Höhen und Tiefen, es war eine wilde Achterbahnfahrt. Am liebsten denke ich an die strahlenden Gesichter meiner Protagonisten zurück. Verrückt!