Mit der Normalität ist das so eine Sache. Sie gibt es gar nicht. Normal ist, was wir zum Normalen erklären. Wir denken uns Klassen und Kategorien aus, bestimmen sie anhand von Merkmalen, die wir selbst festgelegt haben, weil wir sie an Objekten in derartiger Fülle entdeckt und gezählt zu haben meinen, dass wir von „repräsentativen Stichproben” sprechen, sobald jemand unsere Sicht von der Normalität in Frage stellt. Oder wir machen uns gar nicht erst die Mühe mit dem Beobachten und Auszählen, wir legen stattdessen einfach fest, was normal und was nicht—normal wird, was wir gerne normal hätten. Könige verfuhren früher gerne so, Diktatoren auch.
Für Hitler waren Juden, Lesben und Schwule nicht normal, aus dem Schulunterricht erinnern wir uns alle noch, welche Praxis ihnen gegenüber zur Normalität wurde. Mit der Normalität ist das so eine Sache, weil das Normale im Wechselverhältnis mit dem Wahren steht—noch so ein schwammig-monumentaler Überbegriff. Lange Zeit galt es als wahr und erwiesen, dass die Erde eine Scheibe und Mittelpunkt des Universums ist, das war die Wahrheit und völlig normal, wer etwas Anderes behauptete, der war nicht normal, der galt als verrückt. Mit der Normalität ist das so eine Sache, weil sie nicht nur im Wechselverhältnis mit der Wahrheit steht, sondern auch mit der Moral. Früher reichte es aus, wenn eine Frau klug und ohne Ehemann war, wenn sie lesen und schreiben konnte und rote Haare besaß; das war nicht normal, sie muss eine Hexe gewesen sein und wurde verbrannt, weil Hexen böse waren, die Wahrheit über die Bosheit von Hexen konnte man sich von Geistlichen aus heiligen Schriften interpretieren lassen. Zugegeben, das war das Mittelalter, doch wer meint, heute Auto fahren oder kurze Hosen tragen zu können, weil das doch völlig normal sei, der soll es mal in Saudi-Arabien versuchen, unter der Prämisse, dass er keinen Penis am Leib mit sich trägt. Good luck.
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Das Wort „normal” kommt ganz unscheinbar daher. Es wird leicht überhört. Verkommt häufig zur Floskel, was es besser nicht sollte, denn wo das Normale ist, fängt abseits seiner Grenzen das Kranke, Perverse bisweilen auch Böse an. Wo aber das Eine aufhört und das Andere anfängt und wer von uns in welche Kategorie fällt, wird nicht selten von einigen Wenigen zum Leidwesen von vielen Anderen entschieden. Ein solcher Moment spielt sich gerade vor unseren Augen ab. Auf Hochtouren arbeitet die Weltgesundheitsorganisation (WHO) an einer neuen Version der ICD. Es ist eines der umfangreichsten Klassifikationssysteme der Menschheit, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Menschen anhand seiner Krankheiten genauestens zu kodieren.
Das Kürzel ICD-11 steht für Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems), die Zahl 11 repräsentiert die bevorstehende elfte Version, an der im Frühjahr 2007 die ersten Arbeiten begonnen wurden und die man spätestens 2018 beendet haben will. Noch ist in Österreich für alle an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und ärztlich geleiteten Einrichtungen die ICD-10, der Vorgänger, das gängige Diagnoseklassifikationssystem. Eingeführt wurde die ICD-10 im Jahre 1992. Lang ist es her. Seitdem wird es immer mal wieder nachjustiert, momentan gilt die ICD-10-GM Version 2016. Dort ist von der Blinddarmentzündung (K35.- Akute Appendizitis) bis zur Vorhautverengung (N47 Phimose) nahezu alles gelistet, was man sich als Abweichungen von der „gesunden Normalität” nur vorstellen kann—eigentlich eine sehr praktische und vernünftige Sache, wenn da bloß nicht auch Phänomene als Krankheiten aufgeführt wären, deren Aufnahme in die ICD weit weniger eindeutig ist, als sie es bei aufplatzenden Gedärmen oder einem vor lauter sexueller Vorfreude sich in Fetzen zerreißendem Penis scheint.
Vor allem wenn es sich um psychische Abweichungen von einer vermeintlichen Normalität handelt, ist es kein Leichtes, der Komplexität des menschlichen Geistesvermögens und dessen Störung gerecht zu werden. „Störung”, ein fataler Begriff. Man nehme die Homosexualität: Bis 1992—also bis zur Umstellung von der ICD-9 auf ICD-10—wurde sie noch unter dem Klassenkürzel 302.0 als eine eigene Krankheit erfasst. Heute hat man sich glücklicherweise unter den Medizinern weitestgehend darauf verständigt, die Homosexualität nicht als einen kranken, gestörten Zustand zu definieren. Gerade wenn es sich um die menschliche Sexualität und ihre Ausprägungsformen handelt, steht das ICD-Klassifikationssystem in keinem guten Licht. Der Vergleich mit ähnlichen Taxonomien macht es deutlich. Die US-Amerikaner zum Beispiel haben ihr eigenes Diagnosehandbuch zur Festlegung psychischer Störungen, es heißt DSM (Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen). 2013 erschien die fünften Version, doch bereits 1973 kam man bei der zweiten Auflage zum Entschluss, Homosexualität dort nicht mehr als Krankheit aufzuführen.
Im Bereich der Fetische war die Reaktionszeit auf medizinische Erkenntnisse und den Zeitgeist noch viel schleppender—wenn überhaupt, denn etwa in der deutschen ICD hat sich immer noch nicht viel getan. Jenseits des Atlantiks sieht es etwas besser aus, obwohl auch dort die Frauen und Herren im DSM-Komitee ihre Weile brauchten, bis sie auf die Vielfalt menschlicher Sexualität halbwegs angemessen reagierten. So konnte die Tatsache, dass eine Person auf Peitschenhiebe stand, oder sie Fesselspiele erregten, oder sie sich gerne Kleidung des anderen Geschlechts anzog oder sie gestand, einen Fetisch zu haben, in amerikanischen Familiengerichten gegen sie verwendetet werden. Mit anderen Worten: Personen, die etwa Gefallen an BDSM-Praktiken fanden, konnten aufgrund ihrer sexuellen Vorlieben Sorgerechtsfälle verlieren, was sich erst 2010 nach jahrzehntelangem Einsatz diverser Verbände änderte. Allen voran der NCSF (Nationalen Koalition für sexuelle Freiheit) gelang es, die American Psychiatric Association zu Änderungen der damaligen Kodierungen im DSM-4 zu bewegen, sodass gelistete Paraphilien wie der Sadomasochismus, Masochismus, Fetischismus oder der Fetischistische Transvestitismus für das im Jahr 2013 erscheinende DSM-5 deutlich überarbeitet wurden, um so einer Stigmatisierung der entsprechenden Personengruppen vorzubeugen. Von zentraler Bedeutung wurde die folgende Ergänzung:
„Eine Paraphilie ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Diagnose einer paraphilen Störung; auch muss eine Paraphilie als solches nicht unbedingt eine klinische Intervention rechtfertigen oder erfordern.”
Hiermit wurde dem Umstand endlich Rechnung getragen, auch die Art und Intensität der jeweiligen Paraphilien zu berücksichtigen. Es macht nämlich einen himmelweiten Unterschied, ob jemand ein ausgewachsener Sadist ist, dem es abseits einer sexuellen Motivation schlichtweg Freude bereitet, Menschen—auch ohne ihre Einwilligung—aufs Brutalste zu quälen oder ob er bloß auf Fesselspiele und andere einvernehmliche BDSM-Praktiken mit seinem Sexualpartner steht. Das deutsche ICD-10-System dagegen trifft diese Unterscheidung nicht. Dort wird der Sadomasochismus unter dem Kürzel F65.5 geführt und unter die Gruppe der Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (F60-F69) subsumiert. In aller Knappheit ist dort zu lesen:
„Es werden sexuelle Aktivitäten mit Zufügung von Schmerzen, Erniedrigung oder Fesseln bevorzugt. Wenn die betroffene Person diese Art der Stimulation erleidet, handelt es sich um Masochismus; wenn sie sie jemand anderem zufügt, um Sadismus. Oft empfindet die betroffene Person sowohl bei masochistischen als auch sadistischen Aktivitäten sexuelle Erregung.”
Viel mehr steht da nicht. Zugegeben, es ist extrem schwer, ja nahezu unmöglich, den exakten Übergang zwischen einer noch nicht pathologisch ausgeprägten Sexualität und einer definitiven Störung der Sexualpräferenz zu bestimmen; dennoch wären im Falle der ICD wenigstens ein paar grobe Kriterien zur besseren Bestimmung von Paraphilien wünschenswert, wie sie bereits 1994 für das DSM-4 entwickelt wurden und bis heute vorherrschen. So werden etwa der sexual-masochistischen Störung (302.83) die zwei folgenden diagnostischen Kriterien vorangestellt:
A.
Über einen Zeitraum von mindestens 6 Monaten, wiederkehrende und intensive sexuelle Erregung, die aus dem Akt resultiert gedemütigt, geschlagen, gefesselt oder auf eine andere Weise leiden gelassen zu werden, wie sie sich in Fantasien und dranghaften Verhaltensweisen manifestiert.
B.
Die Phantasien, sexuellen Dränge oder Verhalten verursachen klinisch relevanten Leidensdruck oder Beeinträchtigungen in sozialer, beruflicher oder anderer bedeutender Hinsicht.
Diese feine Unterscheidung trifft das ICD-10 nicht. Dabei wäre es so wichtig, mit einer minimalen Nuancierung im Bereich der Paraphilien großflächiger Stigmatisierungen vorzubeugen. Wer nicht gerade seinen Chef an den Bürostuhl fesselt oder 100 Gigabyte BDSM-Pornos auf seinen Arbeitsrechner runterlädt, sondern seine sexuellen Vorlieben ohne Leidensdruck in das Leben integriert bekommt, der gilt laut DSM-5 als völlig „normaler” und gesunder Mensch. Nach der ICD könnte er das im Zweifelsfall nicht sein. Deshalb finden auf europäischem Boden seitens der BDSM-Community auch Bemühungen statt, die bestehenden Verhältnisse zu ändern—nicht nur, was die Definition von Sadomasochismus anbetrifft. Man versucht, das Stigma der Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen vor allem von den folgenden Krankheitsklassifikationen loszuwerden:
F64.1 Transvestitismus unter Beibehaltung beider Geschlechtsrollen
F65.0 Fetischismus
F65.1 Fetischistischer Transvestitismus
F65.5 Sadomasochismus
F65.6 Multiple Störungen der Sexualpräferenz
Der Wunsch nach Normalität wurde im skandinavischen Raum größtenteils schon erhört. Dort hat die ReviseF65-Bewegung Gehör bei den entsprechenden ICD-Kommissionen gefunden. Im Mai 2011 überarbeitete mit Finnland das bereits vierte skandinavische Land seine jeweils auf die eigenen Vorstellungen von Krankheit und Normalität zugeschnittene ICD-10-Version. Die Paraphilien wurden weitestgehend „entschärft”, was ihren Status einer psychischen Störung anbetrifft. In den Ländern verschwanden diese Krankheitsbilder nahezu alle, Dänemark strich immerhin den Sadomasochismus (F65.5) und Transvestitismus unter Beibehaltung beider Geschlechtsrollen (F64.1). In Deutschland und der diesjährigen ICD-Version wird aber alles weiter gelistet.
Doch zumindest an einer Stelle sollte bald Bewegung ins Spiel kommen: Beim Fetischistischen Transvestitismus F65.1. Auf einer Generalversammlung in Moskau hat sich der Weltärztebund im Oktober 2015 dafür ausgesprochen, Transgeschlechtlichkeit nicht mehr zu pathologisieren; das würde u.a. bedeuten, dass sich jeder Mensch geschlechtsunabhängig anziehen und dabei auch empfinden darf, was er will, ohne laut ICD als psychisch gestört bezeichnet zu werden. Die in neun einzelnen Punkten ausgesprochene Empfehlung ist für das ICD-Komitee zwar nicht bindend, trotzdem ist davon auszugehen, dass die Entscheidungsträger sie nicht übergehen werden und der Fetischistische Transvestitismus als Krankheit in der neuen ICD-11 verschwindet. Zumindest von Rechtswegen könnte die Stigmatisierung ein Ende haben—das Gleiche würde auch für den Transvestitismus unter Beibehaltung beider Geschlechtsrollen gelten.
Das alles ist aber nur eine Seite der Medaille. Denn während die Einen dafür kämpfen, bestehende Krankheitsbilder aus dem ICD so dringend wie möglich rausnehmen zu lassen, wünschen sich Andere, mit ihrem Leid darin Eintrag zu finden. Ihre Krankheit soll nicht mehr als Modeerscheinung oder Hirngespinst belächelt werden. Es geht um die Anerkennung von Krankheitsbildern, die einer spezifischen Behandlung bedürfen, gedeckt durch die Krankenkassen, wie etwa in Deutschland im Fall der „pathologischen Trauer” gerade diskutiert wird. Von ihr werden Menschen ergriffen, die den Verlust einer ihnen nahestehenden Person nicht überwindet bekommen und bei denen die Zeit die Trauer nicht dämpft. Zwar kommt auch bei ihnen die Trauer wie üblich in Wellen, nur wird ihre Intensität nicht schwächer und die Intervalle nicht kürzer. Über Jahre hinweg. Das Leben erliegt. Laut ICD ist diese spezielle Form einer psychischen Störung nicht anerkannt oder sie wird bestenfalls unter einem anderen Begriff kodiert und abgerechnet.
Und dann gibt es auch Phänomene, wo das Anormale so schnell zur Normalität wurde, dass es uns wie selbstverständlich vereinnahmt: Siehe den Zwang nach sozialen Medien (Fomophobie), die Notwendigkeit permanent erreichbar zu sein, manifestiert in der Abhängigkeit, die ganze Welt als elektronischen Mikrokosmos mit Sim-Card in der eigenen Hosentasche stets mit sich führen zu müssen (Nomophobie). Nicht wenige Psychologen und Suchtmediziner ziehen Parallelen zwischen Smartphones und Drogen wie Alkohol. Gar nicht so einfach zu sagen, welcher Entzug wem leichter fiele. Sicher dagegen ist, dass im Extremfall nur die Entsagungsversuche vom Feuerwasser Chancen hätten, durch Krankenkassen gedeckt zu werden—dem Alkoholismus kommt nämlich die Ehre zu, gleich eine ganze Klasse an Definitionen im ICD-10 für sich verbuchen zu können (F.10.-).
Taxonomien wie ICD oder DSM sind von unschätzbarem Wert, keine Frage. International vergleichbare Klassifikationsysteme für Krankheiten machen es überhaupt möglich, dass wir alle uns auf etwas verständigen können bei den Versuchen, uns gegenseitig mit den fremden und eigenen Leiden helfen zu wollen; dennoch sollte ihre monumentale Erscheinung uns nicht davor abschrecken, die Art und Weise ihrer Aufteilung in Frage zu stellen und die Grenzen zwischen krank und gesund, pervers und normal immer wieder neu auszutarieren. Die Möglichkeit dazu gibt es: Die WHO hat einen ICD-11-Beta-Entwurf ins Netz gestellt, der einen Einblick gewährt, wie die neue ICD-11 aussehen könnte; zudem kann jeder mit ausreichend vorhandenem Know-How eigene Vorschläge in den Gestaltungsprozess einfließen lassen.
Wie es scheint, wurden bereits jetzt schon die Abschnitte zu Transgeschlechtlichkeit stark überarbeitet und bei den Störungen der Sexualpräferenz ist der Sadomasochismus der Definition „Coercive sexual sadism disorder” gewichen, die nun erst dann von einer sexual-sadistischen Zwangsstörung spricht, wenn die sogenannte Praktik ohne Zustimmung des Gegenübers stattfindet—hier zeichnet sich eine Bewegung der ICD-11 in Richtung des DSM-5 ab. Wem das trotzdem nicht reicht oder wer dem unverbindlichen Entwurf der Beta-Version nicht Glauben schenken mag, der hat bis zur gültigen Veröffentlichung im Jahre 2018 noch Gelegenheit, sich in die Debatte mit einbringen zu lassen, damit „normal” nicht bleibt, was es ist oder wird, was Andere wollen. Denn mit der Normalität ist das so eine Sache—sie ist nicht normal.