Im Polnischen gibt es ein Sprichwort, wenn ein Vorfall so absurd und so unglaublich ist, dass er eine Person einfach nur fassungslos zurücklässt. Man sagt dann: „Ręce i cycki opadają”, was übersetzt so viel heißt, dass einem vor lauter Fassungslosigkeit glatt die Hände und Brüste abfallen. Heute morgen sind vielen Deutschen die Hände oder Brüste abgefallen, als sie die Titelseite der Bild lasen:
Da hält man erstmal inne und fragt sich: „Haben die nicht im Ernst, oder?” Haben sie. Viele Reaktionen fallen gerade dementsprechend harsch aus, es wird spekuliert, ob der Titel seitens der Bild-Redaktion ein Gehirnfurz war, ob ihnen Lack oder Gras den Verstand vernebelte. Aber nein, das war wohl überlegt, ja fast schon gerissen geplant. In der Nacht zuvor wurde auf die Schnelle noch ein Online-Artikel lanciert, dem die Funktion zukam, das zu legitimieren, was am morgen als Titelbild in den Zeitungsauslagen liegen sollte. In dem Artikel versucht die Bild, den Bezug zwischen Hitler und Crystal Meth zu knüpfen, von Beck ist nicht die Rede. Der Titel: Hitlers Panzer-Schokolade—So wurde aus den Nazi-Pillen Crystal Meth. Darin der Schlüsselsatz: „Crystal Meth ist kristallisiertes Methamphetamin. Dieser Wirkstoff war einst Hauptbestandteil eines der populärsten Arzneimittel Deutschlands: Pervitin—in der Nazizeit bekannt als ,Panzerschokolade’.” Weiter unten im Text wird noch der Richtigkeit halber erwähnt, dass das, „(w)as Süchtige heute konsumieren, (…) dem Tausendfachen dessen (entspricht), was Wehrmachtsoldaten geschluckt haben”, aber die Stärke der Verbindung zwischen Hitler und Crystal Meth ist nicht entscheidend. Wichtig ist, dass überhaupt ein Faden zwischen Hitler und Meth gesponnen wird, um in zweiter Instanz die Verbindung zum Grünen Volker Beck zu knüpfen.
Videos by VICE
Doch aus dieser Position auf der Bild rumzuhacken, ist einfach. Viel interessanter ist dagegen die Frage, ob die Überschrift nicht vielleicht doch legitim sei, ob sie nicht sogar ein Geniestreich der Redaktion war. Worüber wir uns in unserer Kritik verständigen sollten, ist ein „Break-even point” für Hiltler-Referenzen: Welcher Grad an Parallelen müsste erreicht werden, damit ein Vergleich zwischen Hitler und Person X vertretbar wird? Folgt man den Kommentaren im Fall Beck, ist der Grad eindeutig zu klein, die Gemeinsamkeiten belaufen sich auf homöopathischer Ebene.
Das Problem ist nur, dass sich kein allgemeingültiger Wert für einem Break-even-point bei Hitler-Parabeln berechnen lässt, wir haben es hier mit keinem beschissenen Thermometer zu tun. Jeder setzt seine Grenze individuell an; ganz davon abgesehen, dass auch die Maßeinheiten variieren können. Die Bild legt nicht den Fokus auf die Höhe der Konzentration von Methamphetamin in den Nazi-Pervitin-Tabletten, die sich—wie selbst hingewiesen—im Tausenderbereich abspielt. Für sie ist eher relevant, dass häufig genug in den Medien Crystal Meth im Kontext des 3. Reiches thematisiert wurde (auch wir sind da nicht außen vor).
Es ist daher recht mühselig, darüber zu philosophieren, ob Volker Beck ein Tausendstel einer Nazidroge, die zermahlenen Reste von Hitler höchstpersönlich oder einen getrockneten Tigerpenis gezogen hatte.
Die Kritik läuft hier mitunter ins Leere. Die Aufregung juckt die Bild überhaupt nicht, weil sie auf einer ganz anderen Ebene ein Rennen fährt.
Was man der Bild aber vorwerfen kann, ist, dass sie bewusst mit der Reductio ad Hitlerum kokettiert. Das ist ein Fehlschluss, auf den der Philosoph Leo Strauss aufmerksam gemachte, der sich wie folgt herleitet:
1. Adolf Hitler ist schlecht
2. Adolf Hitler vertritt die Ansicht X
———————————————
3. Es folgt: Ansicht X ist schlecht
Gerne als Totschlagargument gegen militante Vegetarier gewählt, wenn sie Fleischliebhaber mit ihrer Ideologie maximal auf den Sack gehen. Finalsatz: „Hitler war auch ein Vegetarier.”
Ähnliches passiert auch im Falle Bild/Beck: Denn selbst wenn Hitler Crystal Meth erfunden hätte und Volker Beck in den Hitler-Alpen alljährlich Urlaub machen und einen Hitler-Wagen fahren würde, ist es dennoch dem jeweiligen Medium überlassen, ob sie sich dafür entschieden, einen Politiker zu diffamieren—so wie sich die Bild mit ihrer Headline dafür entschied.
Denn wir lesen „Grüner mit Hitler-Droge erwischt!” und schon geht bei uns bewusst oder unbewusst das Analogie-Türchen auf: „Volker Beck = Böse”. Dabei hat der Typ eine 70 Stunden Woche, sein Ehemann ist vor einigen Jahren an Krebs gestorben und er versucht, mit all den Abfucks irgendwie klarzukommen. Politisch hat er sich nichts Größeres zu Schulden kommen lassen bisher. Keine Vetternwirtschaft, keine Schmiergeldskandale, et cetera. Dann zieht er sich eben Crystal. Und? Jaja, ist kein gutes Vorbild für unsere Grundschulkinder, aber andererseits können sie nie früh genug zu lernen anfangen, dass das Leben eine Hure sein kann und selbst hinter dem strahlendsten Zahnpasta-Lächeln der Politprominenz dunkle Abgründe lauern können.
Ihr könnt Paul auf Twitter folgen.