Ein NGO-Vertreter erzählt, was Schweizer Firmen mit drei toten Demonstranten in Kolumbien zu tun haben

Alle Fotos von Ariel Arango

Die kolumbianische Regierung bewegt sich auf einem schmalen Grat zwischen Staatsrepression und der Suche nach Frieden. Bei einem landesweiten Agrarstreik wurden gemäss Medienberichten Anfang Juni drei Demonstranten getötet und über 200 weitere verletzt. Nur eine Woche später verkündeten Anführer der Guerillagruppe FARC und Regierungssprecher das Ende des seit über 50 Jahren andauernden Bürgerkrieges.

Der Fotograf Ariel Arango hat eindrucksvolle Bilder der Demonstrationen in der Region Cauca, wo sich der Agrarstreik in gewaltvolle Proteste verwandelte, mitgebracht und Stephan Suhner von der Schweizer NGO Arbeitsgruppe Schweiz-Kolumbien (ask!) erzählt uns, was das seiner Ansicht nach mit der Schweiz zu tun hat.

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VICE: Kannst du mir kurz die Entstehung, die Kernarbeit und die Kernthemen der NGO ask! beschreiben?
Stephan Suhner: Ask! wurde 1987 von Personen gegründet, die mit anderen Organisationen bereits mehrere Jahre in Kolumbien im Einsatz waren. Es war die Zeit, als der schmutzige Krieg in Kolumbien immer virulenter wurde, Schweizer Hilfswerke ihren Rückzug überlegten und in der Schweiz aber praktisch keine Informationen zu Kolumbien verfügbar waren. Erstes Ziel war es deshalb, den sozialen Organisationen Kolumbiens im deutschsprachigen Raum eine Stimme zu verleihen.

Wir begannen mit dem Schweizer Aussenministerium einen Menschenrechtsdialog und erreichten, dass die Schweiz ein langjähriges Friedensförderungsprogramm von zivilgesellschaftlichen Organisationen unterstützt. In den letzten Jahren wurde die Arbeit über Menschenrechtsverletzungen von Schweizer Konzernen in Kolumbien immer wichtiger.

Warum macht ihr diese Arbeit gerade in der Schweiz?
Nebst dem positiven Engagement der Schweiz im Bereich Menschenrechte und Friedensförderung ist das Land auch einer der wichtigsten Handelsplätze und Sitz unzähliger Multis. Immer wieder spielen Schweizer Wirtschaftsinteressen eine unrühmliche Rolle in Bezug auf Kolumbien, seien es die Banken bei Drogen- und Korruptionsgeldern, seien es die Raffinerien, die das kolumbianische Konfliktgold verarbeiten, oder Firmen wie Nestlé oder Glencore, die die Gewerkschaftsrechte krass missachten.

Viele der Partnerorganisationen von ask! in Kolumbien folgten am 31. Mai dem grossen Agrarstreik. Was sind die Hintergründe und die zentralen Forderungen der Demonstrationen?
Der vergangene Agrarstreik ist ja nicht der erste, es gab schon 2013 und 2014 grosse Protestaktionen angeführt von der Cumbre agraria, etnica y popular. Der Hintergrund der Proteste von Anfang Juni war dann auch, dass die Regierung die Abkommen früherer Jahre nicht erfüllt hat und zudem weiterhin eine Politik verfolgt, die den Anliegen der Organisationen zuwiderlaufen. Der Einheits-Forderungskatalog der Cumbre Agraria umfasst Themenblöcke wie Bergbau, Umweltschutz und Zugang zu Land, dann Frieden, Menschenrechte und Garantien für den Protest sowie das Verhältnis zwischen Stadt und Land. Es geht auch um eine Bekämpfung der Paramilitärs und darum, dass die Verleumdungen gegen die OrganisatorInnen des Protestes von oberster Regierungsebene aufhören.

Tausende Indigene treffen zum Protest im Cauca ein

Warum ist der Bergbau so wichtig beim Agrarstreik und welche Rolle spielen Schweizer Unternehmen?
Insbesondere seit der zweiten Amtszeit von Präsident Uribe wurden im grossem Stile Bergbaukonzessionen vergeben, auch in Naturschutzgebieten und auf dem Land ethnischer Minderheiten. Es gab keinerlei Mitspracherecht bei der Vergabe der Konzessionen, oft gegen Verfassungsrechte der Indigenen. Häufig zieht alleine die Konzessionsvergabe schon schwere Menschenrechtsverletzungen nach sich, wenn zum Beispiel bewaffnete Akteure die Leute vertreiben, um das Territorium für den Bergbaukonzern “vorzubereiten” und Widerstand zu brechen. Der Goldabbau führt zu grossen Umweltzerstörungen und Verschmutzung durch Quecksilber. Ein grosser Teil dieses Goldes wird durch Schweizer Raffinerien verarbeitet.

Die grossen Kohletagebauminen im Nordosten des Landes führen zu einem enormen Verlust an Land und Lebensraum für indigene, afrokolumbianische und kleinbäuerliche Gemeinschaften. Viele Dorfgemeinschaften werden zwangsweise umgesiedelt. Zudem sind Gewässer und die Luft verschmutzt, die Anwohner haben schwere gesundheitliche Probleme. Einer der grossen Akteure im hiesigen Kohleabbau ist die Schweizer Firma Glencore mit Sitz in Baar, Kanton Zug.

Das Zentrum des Streiks lag im Norden der Region Cauca. Warum ist der Protest dort traditionell so stark?
Der Norden des Cauca hat einen starken indigenen Bevölkerungsanteil, der historisch für seine traditionellen Lebensräume kämpfte. Dort entstand auch die einstige indigene Guerillagruppe Quintín Lame. Es gibt eine lange Tradition von Landkämpfen, da die Indigenen immer mehr durch Zuckerrohrplantagen aus den fruchtbaren Ebenen in die steilen Andenabhänge verdrängt werden. Die starke und wichtige Sozialbewegung der indigenen und kleinbäuerlichen Organisationen kämpfte schon früh für ihre territoriale Autonomie. La Maria Piendamó im Cauca wurde zum Symbol und Zentrum der grossen Volkskämpfe.

Die ganze Gemeinde trifft sich, um das Vorgehen zu besprechen

Drei Indigene dieses Stammes verloren bei den Protesten durch massive Staatsrepression ihr Leben. Wie wahrscheinlich ist eine Aufklärung und Strafverfolgung dieser Tötungen?
Gemäss meinen Kenntnissen sind sie durch gewaltsame Repression durch die Sonderpolizei ESMAD zu Tode gekommen. Das heisst zumindest die politische und befehlsmässige Verantwortung müsste relativ einfach aufgeklärt werden können. Es ist auch denkbar, dass ein, zwei Polizisten quasi als Bauernopfer verurteilt werden. Angesichts einer Straflosigkeit von weit über 90 Prozent bei Menschenrechtsverletzungen bin ich aber skeptisch, dass es zu einer Identifizierung und Verurteilung der Täter und der Verantwortlichen kommt.

Die Regierung steht kurz vor einem Friedensabschluss mit der FARC und gleichzeitig töten Staatsorgane Demonstranten. Kann es so zu einem wirklichen Frieden in Kolumbien kommen?
Nein. Die Proteste entstanden ja auch, weil sich die sozialen Organisationen und die Zivilgesellschaft in die Verhandlungen zwischen FARC und Regierung nicht genügend einbringen können und teilweise über ihre Köpfe hinweg und gegen ihre angestammten Rechte verhandelt wird. Andererseits enthält die Agenda von Havanna die meisten Themen der Cumbre agraria gar nicht; zum Beispiel die Bergbaupolitik und soziale Reformen.

Ohne tiefgreifende soziale, wirtschaftliche und politische Reformen wird es keinen wirklichen Frieden geben. Nebst der staatlichen Repression, ist auch der Vormarsch und die Reaktivierung der Paramilitärs ein grosses Problem. Zwar hat die Regierung sowohl gegenüber der Cumbre agraria als auch beim Abkommen mit den FARC vom 22. Juni über den bilateralen Waffenstillstand zugesichert, die Paramilitärs zu bekämpfen und Sicherheit für soziale Führungspersonen und demobilisierte Kämpfer der FARC so weit möglich zu garantieren. Ob die Regierung wirklich bereit ist und es ihr auch möglich ist, das umzusetzen, wage ich zu bezweifeln.

Welche Bedeutung könnten die Organisatoren des Agrarstreiks bei der Suche nach einem nachhaltigen Frieden spielen?
In der Cumbre agraria, etnica y popular sind sehr breite soziale Sektoren vertreten. Der vergangene Protest hat sie gestärkt. Sie versuchen am “sozialen Verhandlungstisch für den Frieden” unabhängig von den Verhandlungen der Regierung mit den Guerillagruppen die aus Volkssicht notwendigen Veränderungen und Reformen zu verhandeln. Die Chancen stehen gut, dass die Regierung diese Stimmen anhören muss. Andererseits sehe ich nicht genug politischen Willen der Regierung und vor allem der wirtschaftlichen Elite des Landes, sich wirklich auf die Forderungen einzulassen.

In den frühen Morgenstunden werden die Strassenblockaden vorbereitet

Der Streik wurde nach 15 Tagen aufgrund neuer Versprechungen der Regierung ausgesetzt. Gibt es bereits konkrete Resultate? Kann der Streik als Erfolg für die indigene Bevölkerung gewertet werden?
Konkrete Resultate gibt es meines Wissens noch nicht, ausser dass verschiedene Verhandlungstische eröffnet wurden. Ich denke aber schon, dass die Streikbewegung heute stärker ist als vor zwei oder drei Jahren. Sie verhandeln heute besser, die Agenda ist konsolidierter und breiter abgestützt und sie sind jederzeit bereit, die Proteste und Aktionen wiederaufzunehmen. Ich hoffe, dass mehr verhandelt und auch mehr umgesetzt wird, aber es wird sicher nicht alles erreicht und vieles wird von der Regierung nicht umgesetzt, nicht eingehalten oder verzögert werden.

Jonas Brander auf Twitter.
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