Drogen

Drogen haben mir geholfen, eine Lösung waren sie nicht

Früher ballerte ich mich aus dem Leben. Heute habe ich gelernt, wie ich anders mit meinen Dämonen umgehe.
In einer Collage sieht man die Umrisse einer Person vor einer Hochhausfassade. Die Autorin schriebt, wie Drogen ihr in einer schwierigen Phase ihres Lebens geholfen haben.
Fotos bereitgestellt von der Autorin | Collage: VICE

Die Frage, wann und wo meine Sucht entstand, kommt mir in letzter Zeit immer wieder in den Sinn. Wenn ich darüber nachdenke, erinnere ich mich zurück an meine Kindheit und das, was ich damals erlebt habe. Denn meine frühen Erfahrungen führten schließlich dazu, dass ich Drogen nahm. Nicht, um mich in Selbstzerstörung zu flüchten. Sondern, um mich durch Betäubung zu retten.

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Geboren bin ich im hohen Norden Deutschlands. Meine ersten vier Lebensjahre verbrachte ich dort mit meiner Mama und meinem Papa, eine glückliche Zeit. Sie stritten viel, aber ich fühlte mich von meinem Vater geliebt. Noch immer sehe ich sein Lachen vor mir. Ich war ein richtiges Papakind. Meine Mutter hatte dagegen keine typischen Muttergefühle. Sie konnte weder ein "Ich liebe dich" über die Lippen bringen, noch körperliche Nähe zulassen – geschweige denn geben. Auf beides warte ich bis heute.

Trennung, Vernachlässigung, Gewalt

Meine Eltern waren beide in sogenannten destruktiven Familienverhältnissen groß geworden und hatten in ihrer Kindheit nie gelernt, gut auf sich zu achten. Als ich vier war, trennten sie sich und ich zog mit meiner Mutter nach Köln. Wegen hoher Schulden musste sie drei Jobs annehmen. Ich wurde vom Papakind zum Schlüsselkind. Manchmal sah ich meine Mutter tagelang nicht. Sie verließ so früh das Haus, dass ich vor der Schule noch in den Hort gehen musste. Und manchmal brachte mich meine Tagesmutter abends ins Bett.


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Meinen Papa sah ich ab der Trennung nur sehr unregelmäßig. Und wenn, dann war er betrunken. Oder er hatte mal wieder irgendeine neue Frau am Start. Ich denke, er hat die räumliche Trennung von mir nie wirklich überwunden und trank deshalb nur noch mehr. 

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Ein paar Jahre nach der Trennung, ich war ungefähr acht, lernte meine Mutter einen Mann kennen und verliebte sich Hals über Kopf. Er war groß und gutaussehend, meine Mutter wirkte sehr glücklich. Nach circa drei Monaten Beziehung beschloss sie, ihn zu heiraten. Von da an gingen wir durch die Hölle. 

Der Mann, der nun der Ehemann meiner Mutter war, hatte Zwillingstöchter, aber keinen Kontakt zu ihnen. Meine Mutter hinterfragte das nicht. Auf Umwegen fand die Mutter seiner Töchter unsere Telefonnummer heraus und rief bei meiner Mutter an. Sie erzählte ihr, der neue Ehemann meiner Mutter habe seine Töchter sexuell missbraucht. Wenig später wurde er gegenüber meiner Mutter gewalttätig und hatte Freude daran. Für sie und mich wurde es lebensgefährlich. Bis heute höre ich ihre Schreie und die Aufforderung, nicht mein Zimmer zu verlassen, egal was passiert. Sie suchte Hilfe bei unserer Familie und der Polizei. Schließlich erwirkte sie eine einstweilige Verfügung, ich war nun neun. Aber damit waren unsere Probleme nicht vorbei.

Nichts mehr fühlen: Mein erster Drogenrausch 

Als ich 15 war, eskalierte die Situation zu Hause mit meiner Mutter vollkommen. Sie rastete bei Kleinigkeiten aus. Ich erinnere mich an eine Socke, die ich mal liegen gelassen hatte, wegen der sie mich tagelang ignorierte. Noch mehr als sonst. Hinzu kamen ihre Worte, dass ich "eine Last" sei und eh nichts könne. Das hat sich in meine Seele eingebrannt. Der Höhepunkt dieses destruktiven Verhältnisses war, dass meine Mutter beschloss, mich entweder zu meinem trinkenden Vater zu geben oder in ein Jugendwohnheim. Ich "durfte" mich damals entscheiden, ich habe Letzteres gewählt. Ab diesem Zeitpunkt war mir alles egal, auch ich selbst. 

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Im Jugendwohnheim knüpfte ich schnell Kontakte. Viele der Jugendlichen nahmen regelmäßig Drogen. Egal ob Gras, Speed oder Kokain, ich hatte auf alles Zugriff. Dort wohnte auch ein abgedrehter Typ, der zu Hause ebenfalls vernachlässigt worden war. Wir freundeten uns schnell an. Er sprach immer in diesem leicht kölschen Assi-Slang, den ich von zu Hause kannte. Regelmäßig war er drauf und bot mir ein Näschen Speed an. Natürlich nahm ich es. Ab da zockten wir nächtelang auf Speed Resident Evil in seinem Wohnheimzimmer. Keiner von den Betreuern merkte etwas. 

Mich zogen die Drogen magisch an. Ich hatte schon einmal vor der Zeit im Heim bei meinem Ex-Freund etwas Speed gezogen, aber es ballerte nicht. Doch ich weiß noch, als wäre es Gestern, wie sich meine erste Line Speed im Wohnheim angefühlt hat. Ich musste nichts mehr fühlen und mich an nichts mehr erinnern. Meine unaushaltbaren seelischen Schmerzen waren plötzlich weg, ebenso wie meine Minderwertigkeitsgefühle. Ich fühlte mich selbstbewusst und hatte keine Albträume mehr. Drogen waren die Befreiung. Zumindest dachte ich das für eine Zeit.

Der Ausstieg: Heute ist meine Kindheit keine Ausrede mehr, mich aus dem Leben zu ballern

2017, ich war inzwischen 25 Jahre alt, stand mein Vater vor meiner Tür. Er war schwer gezeichnet vom Alkohol. Da wurde mir klar, dass ich mit den Drogen aufhören muss: So wie er dort in meiner Haustür stand, würde ich auch enden, wenn ich nicht die Notbremse ziehe. Es hat dann noch knapp zwei Jahre gedauert, bis ich endlich kapitulieren konnte und mir Hilfe gesucht habe

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Seither gehe ich zu den Selbsthilfegruppen der Narcotics Anonymous. Dort hat man mir ein neues Leben geschenkt – zwar auch durch meine unerbittliche Arbeit an mir selbst, aber dennoch waren diese Gruppen meine Rettung. Ich bin Heute seit über 800 Tagen clean und trocken. Es ist ein Wunder, dass ich noch lebe. Ich habe sowohl die Drogen überlebt als auch meine Kindheit. Das Mitgefühl der cleanen Frauen in meinem ersten Meeting war der Grund, weshalb ich immer wieder zu den Gruppen gegangen bin. 

In der Gruppe durchlaufe ich ein Zwölf-Schritte-Programm und komme mir und meinem Inneren dabei immer näher. Als würde ich unter Tränen eine Zwiebel schälen, mich Schicht für Schicht durch meine Gefühlswelt arbeiten. Momentan beantworte ich schriftlich die Fragen aus dem Leitfaden des sechsten Schrittes von Narcotics Anonymous, die darauf abzielen, Demut und Vertrauen zu entwickeln. Sie stehen unter einer Überschrift, die zugleich ein Motto sein soll: "Wir waren vorbehaltlos bereit, alle diese Charakterfehler von Gott beseitigen zu lassen." 

Ein weiterer biblischer Satz, der mir dabei begegnete, lautet: "Vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun." Ich glaube zwar nicht an den Mann mit Rauschebart da oben in den Wolken, aka Gott. Dennoch ist dieser Satz die Lösung für mich. Meinen Eltern mit Hass zu begegnen, würde mich selbst vergiften. Groll vergiftet mich. Im Grunde sind meine Eltern beide nur Opfer. Opfer ihrer Eltern und der Nachwehen der beiden Weltkriege. Keiner hat in den Familien meiner Eltern über Probleme gesprochen. Der Vater meiner Mutter kam aus Vietnam, auch er war schwer vom Krieg traumatisiert. Den Satz "Darüber spricht man nicht" lernte meine Mutter von ihrem Vater und gab ihn an mich weiter. 

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Ich liebe meine Eltern. Es geht nicht mehr um die Schuldfrage, sondern darum, wie ich zu einem guten Menschen werde und ein gutes Leben führen kann. Ich steige aus dem Opfersein aus und schaue mir meine Charakterfehler an. Selbstmitleid ist einer davon. 

Natürlich frage ich mich, wo der Ursprung meiner Sucht liegt. Klar, in meiner Kindheit. Das ist aber heute keine Ausrede mehr, mich aus dem Leben zu ballern. Ich übernehme Verantwortung für mich und mein weiteres Leben. Damals war es meine Art, Gefühle nicht fühlen zu wollen. Fast wäre ich daran gestorben. Weil ich oft mit meinen Gefühlen überfordert bin, habe ich Drogen genommen. Wegen dieses inneren Mangels an Liebe, an Urvertrauen, der in meiner Kindheit in mir und meiner Seele entstanden ist. Den ich bis heute in mir trage. 

"Auf keinen Fall nachmachen", soll ich in diesem Artikel schreiben, trug mir der Redakteur auf. 

Und ja, ich möchte mit diesem Text Drogenkonsum nicht beschönigen, sondern Erfahrungen schildern, die ich schmerzlich durchlebt habe. Solltest du dich in einer psychischen oder seelischen Ausnahmesituationen befinden, such dir lieber Hilfe bei Ärzten oder in Selbsthilfegruppen. Na ja, als hätte ich damals auf diese Worte gehört, als ich so gelitten habe. Dennoch, achtet gut auf euch und geht mutig in die Zukunft. Auf dass ihr nicht in so verdammten Verhältnissen groß werden müsst wie ich. Denn anstatt der Drogen hätte ich eigentlich die Liebe meiner Eltern gebraucht. Menschen, die mich sehen und mit sich im Reinen sind.

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Du hast ein Suchtproblem oder machst dir Sorgen um betroffene Freunde und Verwandte? Hilfe bei Drogenabhängigkeiten findest du in Deutschland über das Suchthilfeverzeichnis oder unter 01805 31 30 31. In der Schweiz bietet Safezone anonyme Online-Suchtberatung, lokale Suchtberatungsstellen findet man bei Infoset. In Österreich findest du Beratung über den Suchthilfekompass.